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dass ihm wenigstens einmal einer beim Lesen zugehört oder beim Schreiben zugeschaut hätte. Wenigstens einmal! Aber Herr B. wollte das nicht. Du musst lernen, alles selber zu machen, sagte er gern, im Leben hilft dir auch keiner weiter. Und ich bin nicht dein Vater! Noch schmerzvoller fand Georg das Verbot, zum Bertl „Bruder“ zu sagen. Als ihn die anderen Buben verspottet hatten, ihm wieder einmal einer ein Bein stellen wollte, rief Georg in seiner Empörung: Ich sag’s meinem großen Bruder! Der Bertl aber hatte darauf nur gelacht und Georg nicht einmal angeschaut. Der ist nicht mein Bruder, hatte Bertl gemeint. Der? Der ist doch nicht mein Bruder!

      Nein, Georg würde das Wort „Großvater“ nicht über die Lippen bringen. Wie er ganz sicher wusste, war das verboten. Jetzt getraute er sich kaum zu atmen vor Verlegenheit und Glück. Später erinnerte er sich oft an den alten Mann und seine Worte, an diese einzigartige Szene vor der Kredenz mit den drei Bücherreihen darin; dass eine unbeschreibliche Faszination davon ausgegangen war und dass er das alles nie hätte vergessen wollen. Wie gern hätte er einen Großvater gehabt! Die wenigen Tage, die er in dessen Haus verbringen durfte, versprachen ein neues, nie empfundenes Lebensgefühl. Von den Speisen, die Georg auf seinen Teller bekam, stieg ein Duft auf wie er ihn noch nie genossen hatte. Er durfte essen so viel er wollte. Menschen kamen in dieses Haus, die nie zu Herrn B. gekommen wären. Am Sonntag erschien der Herr Oberförster mit Frau zu einer Jause. Georg durfte ein Stück Gugelhupf nehmen und bekam sogar noch ein zweites. Dann sah er beim Kartenspiel zu. Dabei waren alle fröhlich und niemand wies ihm, Georg, die Tür.

      Das alles zeigte sich jedoch bald als ein Traum. Es kam zum Wettstreit zwischen Vater und Sohn. Dem betagten Ehepaar wurde das Adoptionsrecht nicht zuerkannt. Zu alt, war das Urteil; auch liege eine Notwendigkeit für ihr Ansinnen nicht vor. Herr B. aber hatte wenig Verständnis für seine Eltern, noch weniger allerdings für jenes gefräßige Kücken, das ihm – wer das gewesen, brauchte ja niemand zu wissen – ins warme Nest gelegt worden war. Er sei nicht der Vater, ein für allemal! sagte er laut. Und wer freiwillig für die Ernährung dieses unersättlichen Bengels zahlen wolle, könne das jederzeit tun.

      Der Entscheid sprach für Herrn B. und Georg musste wieder zurück in dessen Haus. Verboten war ihm von da an jeder Kontakt mit den alten Leuten. Würde er zuwiderhandeln, dürfe er in seinem warmen Nest nicht mehr bleiben. Georg weinte nach den beiden Alten, wusste er doch außer dem ihren kein anderes Nest. Und bei Herrn und Frau B. war es ja nie besonders warm gewesen.

      Die Eltern des Herrn B. starben bereits nach wenigen Jahren, erst der Mann und bald danach seine Frau. Herr B. aber war ab dem Zeitpunkt oft außer Haus und kam manchmal tagelang nicht heim. Frau B. sagte nichts. Sie besorgte sich wöchentlich Liebesromane aus der Sammlung des Trafikanten, und Georg hatte sie, wenn alles gelesen war, pünktlich zurückzubringen um neue zu holen.

      4 GEBOREN WORDEN

      Zwar ist es ganz sicher, dass, zuweilen jedoch höchst unsicher, wo, wie und wann ein Mensch in diese Welt kam. So mancher fragt sich ja auch, warum überhaupt. Wenn Georg derlei Fragen zu hören vermeinte, um sie danach im Stillen sich selbst zu stellen, wusste er darauf keine Antwort. Reden von einem Storch, der ein Kind einfach fallen ließ, irgendwohin, hatten ihm immer schon Abscheu und tiefstes Grauen bereitet. Er misstraute den riesigen Schnäbeln der Vögel, ihrem fremden, spannweiten Gefieder, vor allem aber der Art, wie Störche zu gewissen Zeiten im Tiefflug über Dächer und Felder zogen. Im Herbst pfeilten sie quer durch die Gegend über den Berg, im Frühjahr aber zu einem nicht weit entfernt liegenden See, weil es dort Frösche, Schilf und auf Bäumen und Dächern allerlei Nistplätze gab. Georg fürchtete jene Stellen, an welchen sie landeten, scheute das braune Wasser wie auch den breiten, träg dahin rinnenden Bach mit Büschen rundum und Wäldern, so wie alle feuchtdunklen Landschaften und die Au, wohin ihn manchmal, wie auch an den See, einer mitnahm.

      Ein Findelkind bist du gewesen, sagten die Leute. Was ist das? hatte er prompt gefragt, doch das fragte er später nicht mehr. Gefunden war er worden, doch nicht von Storchenvögeln und von solchen auch keineswegs fallen gelassen. Von wem also fallen gelassen? Wieso und wo war er schließlich gelandet? Wäre er an einem Bachrand gefunden worden, an einem von Sonne beschienenem hellklaren Wasser, in ein reinliches Körbchen gesteckt, das sich leicht einhaken konnte zwischen Wurzeln und moosigem Stein, mit Butterblumen an seiner Seite, die sich hin- und herbewegten im Wind, er hätte es gerne herum erzählen wollen. Dann wäre auch er gewesen was jeder andere war, nämlich einer, der eine Herkunft hatte; zwar seltsam und geheimnisvoll, doch immerhin; er hätte benennen können was war, so wie das alle anderen taten, die morgens munter aus dem Tor ihrer Elternhäuser schlüpften und abends dahin zurückkehrten mit einigem Recht, weil das ihr Zuhause war.

      Wie schön wäre es gewesen, hätte es auch von ihm irgendwelche Geschichten gegeben, die man hören und hätte erzählen dürfen; eine wie die, welche einmal im Bäckergeschäft von Leuten erzählt worden war; dort hätte er auch die seine zum besten geben können. Wären die baff gewesen, diese Neugierigen, die ihre Fragen immer nur aus dem Hinterhalt stellten, damit sie sich lustig machen konnten über einen, der sich schämte, das Wort „Vater“ oder „Mutter“ nie ausgesprochen zu haben, weil mutterseelenallein auf der Welt. Oder weil er kein Recht hatte, einfach zu sagen was Wirklichkeit war. Frau B. nämlich, die manche seine „Ziehmutter“ nannten, obwohl sie das sicher nicht war, die hätte solche Anrede gleich abgewehrt, hätte sie diese gehört. Für Scherze hatte Frau B. weder Zeit noch ein Ohr. Nein, Ziehmutter war sie wirklich nicht, das hätte Georg ganz sicher bemerkt. Auch war ihr bereits dieses Wort zuwider, und von Georg sprach sie, wenn überhaupt, höchstens als von einem „Kostkind“ ihres Mannes, wenn einer dumme Fragen stellte.

      In seinem Kostquartier redete der Bub daher wenig, er war meist nur da, wenn zur Mahlzeit gerufen. Aß was ihm vorgesetzt wurde und lief wieder weg, wenn alles verzehrt und nichts mehr zu verteilen war. Am Abend schlich er zu seinem Eisenbett in die Kammer, die eigentlich Vorratskammer war und recht eng. Seinem Eisenbett gegenüber stand noch ein schmales Sofa, auf dem früher die alte Tante des Herrn B. logiert hatte, die hatte auch nicht sehr viel geredet. Eines Morgens war sie nicht aufgewacht und Leute kamen daher, die hoben sie auf eine Bahre und trugen sie fort. Danach erschien sie nie wieder und das Kostkind war mit dem Speckgeruch, der dem Raum die Atmosphäre einer Selchkammer gab samt Regalen mit Marmeladen- und Gurkengläsern, Winteräpfeln und Nüssen allein.

      Einmal fischte er aus dem seitlichen Loch eines Jutesacks eine Nuss heraus, die so herrlich roch, dass er sie mit Zunge und Zähnen zu befühlen und, weil die mit der Zeit recht kräftig geworden waren, zu knacken begann; so wie man Nüsse eben knackt, wenn die zweiten, also die Erwachsenenzähne groß genug und so brauchbar geworden waren wie die seinen. Wenn einmal draußen am Straßenrand ein voller Nussbaum etwas von seiner Fracht abwarf, so dass jeder, der wollte, aufklauben durfte was auf dem Weg lag, freute sich Georg und hütete seinen Schatz in einem geheimen Winkel des Gartens, den Eichkätzchen gleich, um genauso wie Frau B. etwas vorrätig zu haben für spätere Zeiten.

      In der Kammer freilich, in der Georg schlief, durfte keiner sich an derlei Köstlichkeiten laben. Er wusste das längst und hielt sich daran, aber die eine Nuss wäre vielleicht auch von selber durch das Loch aus dem Jutesack gefallen und was auf dem Boden lag, durfte man nehmen. Oder? Das Krachen und Splittern zwischen seinen Zähnen drang bald verräterisch durch die Tür und Herr B. und seine Frau stürzten gleichzeitig in ihren Nachthemden und mit großem Geschrei herein. Nein, nie mehr wieder dürfe er so etwas wagen. Fiel eine Nuss durch ein Loch, sei sie sofort in den schleißigen Sack zurückzubefördern.

      Durch die Schlafzimmertür hörte Georg sie schimpfen. Und Bertl, der rechtmäßige Sohn der Frau B. durfte mit einstimmen, war er doch wohlgelitten und sicher bei Vater und Mutter. Durch die Tür horchte Georg was sie ihm vorzuwerfen hatten, verstand aber nicht alles.

      Nach jenem Streit um die Nuss gab Herr B. eine neue Schlafordnung bekannt. Bertl wanderte aus dem Zimmer seiner Eltern hinaus in die Vorratskammer, bekam Georg gegenüber das Sofa der alten Frau, die angeblich nicht mehr wiederkam und gab gewissenhaft acht, dass in Anwesenheit Georgs, des Nüsseknackers, ganz bestimmt keine Nuss mehr aus jenem Loch des Jutesacks fiel und Georg auch sonst keinerlei Appetit in sich nährte zwischen Speckseiten, braun gerunzelten Birnen und duftenden Winteräpfeln.

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