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das Haus der Familie B. nicht der richtige Platz für ihn war. Doch wo sollte er hin? Stimmte was alle sagten, nämlich dass jedes Kind von einer Mutter geboren worden sei, wo war dann die seine? Georg wünschte sehr dieses Rätsel zu lösen und dorthin zu gehen, wo seine Mutter war.

      5 BROT

      Aus gutem Grund zogen Georgs Gedanken immer engere Kreise. Jeden Morgen vor Schulbeginn umkreisten sie mit Beharrlichkeit das Schaufenster der Bäckerei. Aus angemessener Entfernung, vor dem Fensterglas, betrachtete er das frisch gebackene Brot, die schönen runden Laibe und länglichen Wecken, solche mit mehlbestaubten, aufgesprungenen Krusten und solche mit glatten Oberflächen, die zum Darüberstreichen verführten. Dahinter waren auch Semmeln zu sehen, doch ihren Geschmack hatte Georg nur undeutlich in Erinnerung, weil er selten Weißgebäck hatte kosten dürfen. Auf seine Frage hin hatte die Bäckersfrau das Kleingeld aus seinem Hosensack nur kurz betrachtet und sofort zurückgewiesen. Zu wenig war es, noch immer zu wenig.

      Im Sommer stand die Ladentüre weit offen, da nahm Georg auch die Gerüche wahr, die aus der Backstube drangen und die ihm die besten schienen, die es überhaupt gab; die er noch in sich trug, wenn es längst Herbst war und die Türen geschlossen.

      Solang das Wetter es zuließ, suchte Georg gern den hintersten Winkel des Gartens von Herrn und Frau B. auf; und frönte damit einer anderen Art von Sehnsucht, nämlich der nach Einsamkeit. Wegen der Weitläufigkeit des Gartens und der Entfernung vom Haus waren Geräusche von dorther kaum wahrzunehmen. Nicht einmal die Stimme der Frau B., wenn sie nach Georg rief und die er, falls er sie dennoch vernahm, gleich wieder vergaß. Hinter dem Geräteschuppen, knapp an der Gartenmauer lag nämlich sein Versteck, für Neugierige uneinsehbar wegen der hohen Brennnesseln, einer Menge wilden Gestrüpps und ungeschnittenen, von hohem Unkraut durchwucherten Stauden. Behände schlüpfte er durch diese Hindernisse zu seinem aus losen Brettern zusammengefügten Sitz, der mit einer löchrigen Pferdedecke aus dem windschiefen Schuppen bedeckt beinah einem Sofa glich. An diesem Ort suchte ihn freilich keiner auf, nichts und niemand würde hier stören, so dass Georg die Augen sogar schließen konnte; sicher, weil abgetrennt von der Welt.

      War er hier hungrig, brauchte er nur an Brot zu denken. Dann genoss er, allein in der Vorstellung, jenen feinen frischen Geruch, auch den der Semmeln im Korb des Bäckerladens, der seitlich des großen Verkaufspultes stand; Kaisersemmeln, wie eine Kundin einmal erklärt hatte, herrlich rund und knusprig und seinem Betrachter jederzeit zugeneigt. Für Georg sah das so aus, als wollten sie aus ihrem Gedrängtsein zwischen den anderen sich in wundersamer Weise befreien und, ohne Rücksicht auf neidische Blicke, einfach herausspringen aus ihrem Körbchen und rollen, rollen, direkt auf Georg zu.

      Er musste lachen bei diesem Gedanken, doch in das Geschäft wollte er nicht mehr hineingehen. Hatten sie ihn nicht erst kürzlich gefragt, was er denn wolle für so ein bisschen Kleingeld, das seinen Hosensack nicht sehr beschwerte und das nie genug war, um eine einzige Semmel zu kaufen? Eine der Frauen hatte ihn dort mit kaum zurückgehaltener Stimme verdächtigt. Weiß einer vielleicht, wo dieser Lausbub da herkommt? Ob der nicht hinter dem Rücken der Leute mit seinen Schmuddelfingern tief in den Korb hineinfasst? Das war sehr kränkend für Georg gewesen. Er würde also fortan nur mehr vom Gehsteig aus zu den Semmeln schauen.

      Am besten war es jedoch derlei überhaupt zu vergessen. Auch die Geschichte von dem geheimnisvollen, angeblich vom Pfarrer so streng verwahrten Brot, von dem ihm damals die Kathi erzählt hat. Zwei Jahre waren es her, doch immer wieder fiel ihm der Vorfall mit einer Bitterkeit ein, die ihn traurig machte. Ging es wirklich immer nur um Verbote? Verbote zu haben was andere Kinder hatten; Verbote, dasselbe zu wollen wie sie, dasselbe zu tun. Das Verbot, in der Klasse zu sitzen, wenn alle anderen fröhlich dort beisammen saßen an all den Tagen, an denen der Mann in dem schwarzen Gewand kam.

      Und überhaupt die Schule! Diese Quelle der Qual! Nie würde sich Georg der jeweils passenden Zeit sicher sein; wann es erlaubt war zu reden und wann zu schweigen, das wusste er nicht. Fiel ihm einmal auf eine gestellte Frage die richtige Antwort ein, musste er still sein. Doch kaum hatte er anderen Tags zufällig einmal nicht hingehört, war seine Rede gefragt. Ärgerte er sich darüber und protestierte, drohte wieder einmal das Pflaster über dem Mund, das er gerne vermied. So blieb er weiterhin still in seiner Bank sitzen, was keinen zu stören schien außer ihn selber.

      An manchen Tagen allerdings durfte er nicht einmal das. Nämlich wenn er zu ganz bestimmter Stunde, immer dann, wenn der Pfarrer des Ortes die Klasse betrat um Geschichten zu erzählen, das Schulhaus verlassen musste. Das machte ihn traurig, aber sich draußen auf den Randstein der Straße setzen zu müssen, so lang, bis die verbotene Stunde vorbei war, verbitterte ihn. Warum das so sein musste, hatte ihm niemand erklärt. Auch Herr B. wusste es nicht zu erklären. Auf die Frage, warum Georg nicht alles, was in der Schule zu lernen war, lernen durfte, meinte Herr B. ziemlich unwirsch, was dieser schwarze Mann dort erzähle, sei Unsinn, das brauche er nicht zu hören. Und es solle doch endlich Schluss sein mit Georgs sinnlosem Wünschen.

      Georg war es jedoch nie egal gewesen, dass alle Kinder der Klasse, außer ihm, ein Fest feiern durften, ein großes Fest, und das ausgerechnet mit diesem Pfarrer. Georg war natürlich auch damals nicht mit dabei gewesen. Verboten. Doch auf diesen Tag hatten sich alle Kinder gefreut, die Mädchen waren in weißen Kleidern, die Buben im neuen Anzug mit langen Hosen zu sehen gewesen. Und so, festlich gekleidet, hatten angeblich alle ein Brot bekommen, das sie „Brot des Lebens“ nannten. Georg natürlich nicht, hatte wieder einmal nicht bekommen was allen anderen selbstverständlich zuteil war, hatte also auch auf das Brot des Lebens verzichten müssen, ja nicht einmal davon gekostet. Das Brot in der Küche hatte Frau B. erst unlängst vor seinen Augen weggeräumt, weil sein Appetit zu groß war. Und das gute Schmalzbrot der zwei alten Leute gegenüber? Er durfte es nicht annehmen. In der Bäckerei war ihm das Betrachten der Brote zwar nicht verboten, aber verleidet worden samt diesem herrlichen Semmelgeruch, der aus der Backstube kam. Und dann dieses Lebensbrot, das er sich zwar nicht vorstellen konnte, dafür jedoch umso heftiger wünschte, weil die Geschichte, die damit verbunden war, so geheimnisvoll und anscheinend nur ihm alleine verwehrt war. Und das alles, dachte Georg, weil der Herr B. eben nur der Herr B. und nicht sein Vater war, den er darum hätte bitten dürfen. Er hatte die Kathi vom Nachbarhaus gefragt was das Lebensbrot koste. Er habe ja leider zu wenig Geld. Vielleicht gebe doch die Frau B. ihm etwas dazu, hatte er damals gemeint, wenn wieder einmal im Wald genug Holz herumlag nach einem Sturm oder nach einem Gewitter. Gar nichts kostet es, hatte Kathi gesagt. Gar nichts. Du musst es nur wollen.

      Ach, sein Wollen hatte ihm wenig genützt. Tränen nützten ja auch nie, deshalb hatte Georg damals einen Entschluss gefasst. Das Lebensbrot, das vielleicht doch etwas Besonderes war – warum denn sonst dieser Name! – das würde er sich beschaffen. Als er eines Tages mit seinem Anliegen vor den Pfarrer trat, wunderte der sich über die finstere Entschlossenheit des Knaben. Das Lebensbrot lasse er sich nicht vom Herrn B. verbieten sagte er zu dem geistlichen Herrn. Auf das Brot der alten Leute habe er verzichten müssen, manchmal auch auf das von Frau B. und auf die Semmeln vom Bäcker sowieso. Das Lebensbrot aber, das wolle er haben und gleich mitnehmen, falls das möglich sei. Jetzt gleich, sagte er zum Pfarrer, wenn es wirklich nichts koste. Er habe nämlich sehr wenig Geld.

      Da hatte der Pfarrer, nach ratlosem Schweigen, endlich zu reden begonnen, berichtete Georg später, als er, schon längst erwachsen, nach vielen Jahrzehnten eines Abends an jenen Mann dachte. Der habe ihm eine Geschichte erzählt und noch eine andere, die er sich hätte merken sollen. Trotzdem habe er, Georg, die Sache mit diesem Brot nicht ganz verstanden. Am Ende habe der freundliche Mann ihn auf später vertröstet. Die Zeit sei zu kurz, das Fest bereits für den nächsten Tag angesagt. Georg müsse sich noch ein wenig gedulden, vielleicht später wiederkommen. Ich werde warten, hatte Georg erwidert.

      Und jetzt? Im letzten Winkel des Gartens zwischen Geräteschuppen und Mauer dachte Georg über gar manches nach. Beschützt von Brennnesselstauden und dichtem Gestrüpp, war er von allen Seiten her gut verdeckt. Hier konnte er alles was ihm ein Rätsel und ein Geheimnis war noch einmal bedenken. Auch jene seltsame Rede des alten Herrn, der einmal beinah sein Großvater geworden wäre. Von einem ganz anderen Brot hatte dieser Mann nämlich gesprochen. Und nicht das Brot der Frau B. hatte er damit gemeint,

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