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kein Mensch auf den Gedanken verfallen, die Tiere des Waldes einfach zu verjagen. Und kein Tier hätte gedankenlos ein von Menschen angelegtes Feld zertrampelt oder kahlgefressen. Das kam alles erst später in die Welt, in einer Zeit, in der es keine Tierhüter mehr gab und Menschen und Tiere keine Möglichkeit mehr hatten, sich miteinander zu verständigen.

       Zweites Kapitel

      Doch ich wollte euch von Tibitu und Tibitea erzählen.

      Auch Tibitu und Tibitea hatten von Geburt an diese besondere Gabe, sich in Tiere verwandeln zu können. Doch war diese wunderbare Fähigkeit bei Tierhüterkindern nicht von Geburt an vollständig ausgeprägt, sondern musste, wie alles im Leben, erst mühsam erlernt werden.

      Tibitus und Tibiteas Eltern konnten sich in fast alle Tiere verwandeln. In die ganz kleinen, wie Bienen, Spinnentiere, Mäuse und Eidechsen ebenso, wie in die ganz großen Tiere des Waldes, wie Pferde, Hirsche und Rehe, Bären, Wölfe, Füchse, Löwen oder was auch immer ihr euch vorstellen könnt.

      Wie bitte? - Ja natürlich! Sie konnten sich auch in echte Löwen verwandeln. Denn auch Löwen gab es zur damaligen Zeit im Wald.

       Ich glaube, ich weiß auch schon, was ihr jetzt als nächstes fragen wollt.

       Ihr wollt wissen, wie es sein kann, dass ein Tierhüter für einen Löwen oder für einen Bären oder für einen Wolf genauso da sein kann, wie für ein Schaf oder für einen Hirsch oder für ein anderes Tier, das doch gerade von diesen großen Raubtieren gefressen wird.

      Diese Frage stellt ihr zu Recht. Das war eine schwierige Aufgabe für die Tierhüter. Denn sie konnten den Raubtieren schließlich nicht einfach befehlen, keine anderen Tiere mehr zu jagen und zu essen.

       *

      Doch damals lebten die Menschen und die Tiere noch im Einklang mit der Natur. Und die Natur hatte es so eingerichtet, dass diese Raubtiere immer die schon sehr kranken und schwachen Tiere jagten, die ohne Hilfe nicht mehr leben konnten und im Wald jämmerlich verhungert wären.

      Oder jene Tiere, die jedes Jahr übermütig so viele Nachkommen in ihr Nest setzten, dass in kürzester Zeit der ganze Wald überbevölkert gewesen wäre, hätten die Raubtiere nicht einen Teil dieser Tiere gejagt.

      Die Tierhüter mussten nur eingreifen, wenn ein Raubtier über die Stränge schlug und willkürlich alles jagte und fraß, was ihm vor die Klauen oder die Zähne kam.

      Dann verwandelte sich der Vater der Zwillinge durchaus auch einmal in einen zotteligen Bären oder in einen mächtigen Wolf, suchte den Übeltäter auf und sagte ihm auf bärisch oder auf wölfisch ordentlich die Meinung, wie man sich als Raubtier in einem Wald zu benehmen hatte. Meistens schlich sich dann der Gescholtene beschämt von dannen und der Vater konnte den anderen Waldtieren die beruhigende Nachricht bringen, dass wieder Ordnung im Wald einkehren werde.

       *

      Doch gab es unter den Tierhütern dazu auch ein eindeutiges und klares Gesetz, das jeder Tierhüter kannte, und das er streng beachtete. Kein Tierhüter durfte eingreifen, wenn ein Raubtier ein anderes Tier jagte und dann verzehrte. Denn auch das gehört zum Lauf der Natur.

       Ihr seht, die Aufgabe der Tierhüter war nicht gerade einfach. Auch wenn sie das gerne wollten, konnten sie nicht allen Tieren gleichzeitig helfen. Hätten sie einem Hasen gegen einen Fuchs beigestanden, wäre zwar dem Hasen geholfen gewesen. Der Fuchs aber, der ja auch unter dem Schutz der Tierhüter stand, hätte bitteren Hunger leiden müssen. Hätten die Tierhüter stattdessen gar dem Fuchs bei der Jagd geholfen, hätten sie dem Hasen geschadet.

       Doch ihr wollt jetzt sicher wissen, wie die Geschichte weitergeht.

      Vermittelte der Vater in erster Linie zwischen Menschen und Tieren und zwischen den Tieren untereinander, kümmerte sich die Mutter der Zwillinge indessen um das gesamte Wachstum in der Natur.

      Wenn im Frühling die ersten Blüten aufgingen, verwandelte sie sich in eine Biene und weckte die schlafenden Bienenköniginnen. Kurz darauf sah man es überall auf den Wiesen auf allen Blüten wimmeln und hörte die fleißigen Tiere summen und brummen und emsig ihrer Arbeit nachgehen.

      Wenn es an der Zeit war, verwandelte sie sich in eine bunte Raupe und kroch von Blatt zu Blatt, von Wurzel zu Wurzel und erinnerte die Raupen daran, dass es an der Zeit war, sich ein letztes Mal zu häuten und in eine Puppe zu verwandeln. Später im Jahr kroch sie von Puppe zu Puppe und weckte die Schlafenden. Kurz darauf wimmelte es auf der Wiese und in den Büschen vor bunten Schmetterlingen, die sich im strahlenden Licht der Sonne mit der schillernden Farbenpracht ihrer wild flatternden Flügel gegenseitig überboten.

      Sobald im Frühjahr das letzte Eis von Bächen und Tümpeln geschmolzen war, verwandelte sie sich in einen Frosch oder in eine schlanke Forelle und ermahnte die Bewohner des Wassers, es sei an der Zeit, sich auf ein neues Jahr vorzubereiten.

      Sie verwandelte sich in ein Reh und führte die Rehe und Hirsche des Waldes zu den schönsten Weideplätzen. Falls eines der Tiere beim Spiel in einen Dorn trat oder sich ein Bein verrenkte, verwandelte sie sich in einen Menschen zurück und zog dem verletzten Tier den Dorn aus dem Fuß oder kühlte das hinkende Bein.

       *

      Der mit Abstand schönste Tag im Jahr war dann für alle Waldbewohner das Tierfest.

       Ihr wisst wahrscheinlich auch nicht, was es mit dem Tierfest auf sich hat, weil es so etwas heute nicht mehr gibt

       .

      Am Tag des Tierfestes kamen alle Tiere des Waldes mit ihren Tierhütern zusammen. Es gab an diesem Tag keine Feindschaft. Auch die großen Raubtiere feierten lustig und ausgelassen mit den kleineren Tieren. Am Tag des Tierfestes konnte es durchaus geschehen, dass man einen großen Bären lachbrummend auf dem Rücken liegen sah, während die Kinder der Familie Hase eifrig auf seinen Bauch kletterten und lachpiepsend auf der anderen Seite herunterrutschten.

      Am Tag des Tierfestes mischten sich die erwachsenen Tierhüter in den unterschiedlichsten Gestalten unter die Tiere und stellten sich als Übersetzer und als Vermittler für alle Tiere des Waldes zur Verfügung.

       Drittes Kapitel

      Tibitu und Tibitea konnten dies alles natürlich noch nicht. Sie waren noch Kinder und konnten sich bislang nur in kleine Tiere verwandeln. Stundenlang spielten sie Fangen.

       Aber stellt euch einmal vor, wie ein Fangenspiel bei Tierhüterkindern ausgesehen haben muss.

      „Du kriegst mich nie!“, rief Tibitu fröhlich und rannte übermütig quer über die Wiese hinter dem Haus.

      „Ich fang dich!“, kreischte Tibitea und rannte ausgelassen hinter ihrem Bruder her.

      Tibitu schlug einen Haken nach dem anderen, um Tibitea, die ihm dicht auf den Fersen folgte, abzuhängen. Als Tibitea merkte, dass sie ihren flinken Bruder zu Fuß nicht einholen konnte, verwandelte sie sich aus vollem Lauf in einen kleinen Spatz und schwang sich, durch die Verwandlung eine kleine Nebelwolke zurücklassend, in die Lüfte.

      Ihr wisst sicher, dass selbst der kleinste Spatz schneller fliegen, als der schnellste Mensch auf der Welt rennen kann und würde es sich um den Weltmeister im Schnellrennen handeln.

      So dauerte es nur wenige Augenblicke, bis sich Tibitea von oben im Sturzflug auf ihren hakenschlagenden Bruder stürzte.

      Tibitu hörte im letzten Moment das leichte Rauschen in der Luft. Gerade als Tibitea sich auf seine Schulter setzen wollte und sich dabei in ein kleines Mädchen zurückverwandelte, war plötzlich Tibitu verschwunden.

      Tibitea saß verdutzt auf der Wiese und sah Tibitu gerade noch – verwandelt in eine kleine Maus - durch ein schmales Loch im Bretterzaun schlüpfen.

      „Das ist gemein!“, schimpfte Tibitea.

      „Du kriegst mich nicht!“, hörte man Tibitu mit piepsiger Mäusestimme

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