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So geisterte lange Zeit die Meldung umher, Mütter sollten auf keinen Fall den Schnuller ihres Babys ablutschen, da sie dadurch ihre Bakterien aus dem Speichel auf die Kleinen übertrugen. Impfungen gegen Karieskeime finden sich ebenfalls noch in der wissenschaftlichen Debatte4. Und das anti-infektiöse Vorgehen ist das derzeitige A und O der zahnmedizinischen Prophylaxe: Zähneputzen mit Zahnpasta, Fluoridpräparate in jeglicher Form, Mundspüllösungen, Antiseptika, antibakterielle Peptide, Silberionen, Antibiotika. Und das alles funktioniert sogar – zumindest einigermaßen und eben nur so lang, wie diese antibakteriellen Maßnahmen durchgeführt werden, also notgedrungen ein Leben lang. Es sei denn, es wird auf die Ernährung eingegangen.

      Zurück ins 19. Jahrhundert. Interessanterweise lehrte zur Zeit Robert Kochs auch ein französischer Mikrobiologe in Paris, nämlich Antoine Béchamp, der bereits mit Louis Pasteur, dem damals bekanntesten Mikrobiologen Frankreichs, nicht immer einer Meinung war. Aufgrund von Pasteur wird auch heute noch Kuhmilch »pasteurisiert«, also hoch erhitzt, und auch die Schutzimpfung geht auf ihn zurück. Pasteur war also ein Vollblut-Infektiologe. Béchamp prägte hingegen die Betrachtung des Milieus, in welchem sich die Bakterien befanden. Im Gegensatz zu Pasteur, dem nicht genug Bakterien getötet werden konnten, postulierte Béchamp, dass es auch gesunde Bakterien gebe und sie grundlegend zum menschlichen Organismus gehörten. Welche Arten von Bakterien, dies sei dabei davon abhängig, in welcher Umgebung (Milieu) sie sich befänden. Béchamp konnte noch nichts davon wissen, dass Bakterien diesen Planeten bereits Milliarden Jahre vor Homo sapiens besiedelten. Wären sie so gefährlich gewesen, hätte sich unsere Spezies niemals entwickeln können.

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      Ernste Gesichter, große Gedanken (v. l. n. r.): Robert Koch, Willoughby Miller, Antoine Béchamp.

      Die »ökologische Betrachtung« Béchamps war in der Mikrobiologie nach damaligen Vorstellungen wirklich revolutionär. Sie können sich das auch analog zur Soziologie vorstellen: Gehen Sie mal zum Campen und Kanufahren in die Wälder. Würden Sie da auf einen Anzugträger mit Aktenkoffer treffen? Wohl kaum. In der Frankfurter Innenstadt werden Sie aber Probleme haben, einen gummistiefeltragenden Wildlife-Menschen mit einer Angel unterm Arm zu finden. Die Umgebung selektiert ihre hauptsächlichen Besucher. Oder andersherum: Menschen suchen sich die zu ihnen passende Umgebung aus.

      Der Zusammenhang zwischen Bakterien und den Erkrankungen Karies und Parodontitis bescherte den Forschern und Zahnärzten ziemliche Schwierigkeiten. Konnte es sich tatsächlich um Infektionserkrankungen handeln? Auf lange Sicht scheiterten alle Versuche, die Erkrankungen mit Antibiotika, Impfungen oder Infektionsprophylaxe anzugehen. Der amerikanische Zahnarzt Thomas Hill war 1946 noch ganz angetan von seiner Antibiotika-Zahnpasta, für die er eine große Zukunft sah. 1956 bescheinigte er der Zahnpasta allerdings nur eine geringe Wirksamkeit – nach einem Versuch mit einem Jahr Daueranwendung! – und stellte fest, dass die Laktobazillen sich im Zahnbelag (Plaque) nicht dauerhaft verringerten5. Aus heutiger Sicht betrachtet wurden die Bakterien höchstwahrscheinlich einfach nur resistent gegen das Penicillin. Wie gesagt, Impfen wird immer noch diskutiert6.

      Was den Forschern große Probleme bereitete war, dass Karies und Parodontitis eben nicht nur durch einen Keim hervorgerufen werden, sondern durch eine Vielzahl von Keimen, die sich auf der Oberfläche der Zähne in einem Biofilm, zahnmedizinisch auch als Plaque bezeichnet, befinden. Außerdem treten bei allen antibakteriellen Maßnahmen die Keime und damit auch die Erkrankung nach gewisser Zeit wieder auf. Im Versuch, dieses Dilemma doch noch infektiologisch zu erklären, modifizierte der renommierte Bakteriologe Sigmund Socransky sogar die Koch’schen Postulate für das Erkrankungsbild Parodontitis, um sie immer noch als »Infektionserkrankung« betrachten zu können.7 So müsste in dieser Modifikation der Keim bei entzündetem Zahnfleisch in hoher Zahl vorliegen und bei gesundem Zahnfleisch in geringerer Zahl. Zudem sollte eine Entfernung des Keimes nicht mehr eine »Heilung« bedeuten, sondern nur noch eine Verbesserung.

      Eine wesentliche Studie aus den 1965er-Jahren machte für die Zahnfleischentzündung den gesamten Bakterienschleimfilm (Biofilm) als Ursache für die Zahnfleischentzündung verantwortlich. Für die Untersuchung stellten 12 Probanden für 2 Wochen ihre Mundhygiene ein. Mit zunehmendem Zahnbelag entzündete sich auch das Zahnfleisch immer mehr. Mit Wiederaufnahme der Mundhygienemaßnahmen verschwand die Zahnfleischentzündung wieder. Vorab ein kleiner Hinweis: Wir wissen leider nicht, was die Probanden gegessen haben.

      In letzter Logik der Infektionstheoretiker stellt die Sterilisation des Körpers das ultimative Ziel dar. Endlich ein Leben ohne Bakterien. Aber ob das so gut sein kann? Dazu gibt es keine Daten für den Homo sapiens, lediglich für Nagetiere: Paul Keyes und Robert J. Fitzgerald zogen in den frühen 1960er-Jahren unter Laborbedingungen Hamster keimfrei auf. Diese Hamster entwickelten auch unter zuckerreicher Nahrung tatsächlich keine Karies. Wurden sie jedoch mit Streptococcus mutans, dem prominentesten Keim der Karies, infiziert, bekamen auch sie Karies an ihren Nagezähnen. Dies bildete die Grundlage für die spezifische Plaquehypothese. Es müssen also bestimmte Keime in der Plaque vorhanden sein, damit die Erkrankung, in diesem Fall Karies, auftreten kann. Es wurden nach und nach weitere Karieskeime identifiziert, wobei Streptokokken und Laktobazillen die wichtigsten darstellen. Ob keimfreie Bedingungen jedoch anzustreben sind, ist sehr fraglich. Einerseits ist dies praktisch unmöglich, andererseits zeigten die keimfrei aufgezogenen Hamster neben kognitiven Defiziten und erhöhten Stresswerten viele andere Nebenerkrankungen.8

      Es sollte nochmals 100 Jahre dauern, bis der britische Mikrobiologe Philip Marsh die Bedeutung der Umgebung in seiner sogenannten »ökologischen Plaquehypothese« für den Mundbereich beschrieb. Marshs Arbeiten waren wirklich bahnbrechend, denn er konnte die vielen diffusen Annahmen und Theorien auf einen einfachen Faktor herunterbrechen: den pH-Wert.

      Der pH-Wert ist ein Maß dafür, wie sauer oder basisch eine wässrige Lösung ist. Reines Wasser hat einen neutralen pH-Wert von 7, Zitronensaft liegt bei 2 bis 3, Seife bei 9 bis 10. Kariesbakterien, wie Streptococcus mutans oder die Laktobazillen, fühlen sich in einer richtig sauren Umgebung am wohlsten. Und sie tragen dementsprechend dazu bei, dass es richtig sauer wird. Durch die Verstoffwechselung von einfachen, vergärbaren Kohlenhydraten beziehen sie ihre Energie und produzieren Säuren, die sie in ihre Umgebung abgeben. Kariesbakterien können sich in diesem sauren Milieu sehr stark vermehren und verdrängen andere Bakterienarten.

      In einem anschaulichen Experiment füllte Philip Marsh eine Mischung aus vielen verschiedenen Keimen aus dem Mund in einen Bioreaktor und veränderte anschließend nur den pH-Wert – mal hoch, mal runter. Was er sehen konnte, brachte ihn zur Formulierung seiner ökologischen Plaquehypothese: Ging der pH-Wert runter, also wurde das Milieu sauer, fühlten sich die Karieskeime wohl und vermehrten sich, während diese Bedingungen für die mit Parodontitis assoziierten Keime ungünstig schienen. Diese vermehrten sich dann kaum. Drehte er den pH-Wert im Bioreaktor hoch, war es genau umgekehrt – weniger Karieskeime, mehr Parodontitiskeime. Stellen Sie sich das einfach mal wie einen Dancefloor vor, der sich mit unterschiedlichen Menschen füllt, je nachdem, was der DJ gerade auflegt. Ein paar tanzen auch bei unterschiedlichen Musikrichtungen. Von so einem Bioreaktor können wir Ihnen übrigens nur abraten, er stinkt unheimlich!

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      Der britische Mikrobiologe Philip Marsh und eine pH-Messlatte.

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      Einer der prominentesten Karieskeime: Streptococcus mutans. Im Gegensatz zu Kindern findet er sauer super!

      Marsh

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