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hing noch derselbe zerfetzte flämische Wandteppich, auf dem fast verblichen ein König und eine Königin in einem Garten Schach spielten, während Falkeniere im Zug vorbeiritten und Vögel, denen die Kappe über den Augen saß, in den eisenbehandschuhten Händen trugen. Wie gut er sich an alles erinnerte! Jeder Augenblick seiner vereinsamten Kinderzeit kam ihm zurück, als er um sich sah. Er gedachte der unbefleckten Reinheit seines Knabenlebens, und es schien ihm entsetzlich, dass hier das verhängnisvolle Bildnis verborgen werden sollte. Wie wenig hatte er in jenen Tagen, die dahin waren, von alledem geahnt, was auf ihn warten sollte!

      Aber es gab im ganzen Hause keinen andern Ort, der vor Späheraugen so sicher war. Er hatte den Schlüssel, und niemand sonst konnte hineinkommen. Hinter seinem purpurnen Bahrtuch konnte das Gesicht, das auf die Leinwand gemalt war, bestialisch, aufgedunsen und lasterhaft werden. Was tat es? Niemand konnte es sehn. Er selber wollte es nicht sehn. Warum sollte er die hässliche Verderbnis seiner Seele verfolgen? Er behielt seine Jugend, das war genug. Und überdies, konnte nicht schließlich sein Wesen geläutert werden? Es war kein Grund, warum die Zukunft so schändlich werden sollte. Die Liebe konnte kommen und ihn rein machen und ihn vor den Sünden beschirmen, die sich im Geist und im Fleisch schon zu regen schienen – vor den seltsamen, unbekannten Sünden, deren Geheimnis ihnen eben den Reiz und die Verführung gaben. Vielleicht verschwand eines Tages der grausame Ausdruck von den sensitiven Scharlachlippen, und dann konnte er der Welt das Meisterwerk Basil Hallwards zeigen.

      Nein; das war unmöglich. Stunde um Stunde und Woche um Woche sollte das Antlitz auf der Leinwand älter werden. Es konnte der Hässlichkeit der Sünde entrinnen, aber die Hässlichkeit des Alters wartete darauf. Die Wangen werden hohl oder schlaff werden. Gelbe Krähenfüße werden sich um die glanzlosen Augen sammeln und sie grässlich machen. Das Haar wird seinen Glanz verlieren, der Mund wird klaffen oder einsinken, wird dumm oder gemein aussehn, wie alter Leute Mund aussieht. Der Hals wird faltig sein, die Hand kalt und voll blauer Adern, der Rücken gekrümmt, alles, wie es bei seinem Großvater war, der in seiner Knabenzeit so hart gegen ihn gewesen war. Das Bild musste verborgen werden, es war nichts dagegen zu machen.

      »Bitte, Herr Hubbard, bringen Sie es herein«, sagte er müde und wandte sich nach den Leuten. »Es tut mir leid, dass ich Sie so lange aufhielt. Ich dachte über etwas nach.«

      »Immer angenehm, sich ausruhen zu können, Herr Gray«, antwortete der Rahmenmacher, der noch immer tief Atem holte. »Wo sollen wir es anbringen?«

      »Oh, irgendwo. Hierher: da wird es gut stehn. Ich will es nicht aufgehängt haben. Lehnen Sie es nur gegen die Wand! Danke!«

      »Darf man das Kunstwerk ansehn, Herr Gray?«

      Dorian erschrak. »Es hat kein Interesse für Sie, Herr Hubbard«, sagte er und behielt den Mann im Auge. Er war imstande, sich auf ihn zu stürzen und ihn zu Boden zu werfen, wenn er es wagte, den schimmernden Vorhang zu heben, der das Geheimnis seines Lebens bedeckte. »Ich will Sie nicht länger bemühen. Vielen Dank für Ihre Freundlichkeit, dass Sie herübergekommen sind.«

      »Nicht im Geringsten, Herr Gray, nicht im Geringsten. Stets zu allen Diensten für Sie bereit.« Und Herr Hubbard stampfte die Treppe hinunter, gefolgt von seinem Gesellen, der sich noch einmal nach Dorian umsah. Ein Ausdruck scheuer Bewunderung lag auf seinem gewöhnlichen, unschönen Gesicht. Er hatte nie einen Menschen gesehn, der so wunderschön war.

      Als der Schall ihrer Fußtritte verhallt war, verschloss Dorian die Tür und steckte den Schlüssel in die Tasche. Er fühlte sich gerettet. Niemand sollte je das Grauenhafte erblicken, kein Auge als seines sollte je seine Schande sehen.

      Als er in das Bücherzimmer trat, bemerkte er, dass es eben fünf Uhr vorbei und der Tee bereits gebracht worden war. Auf einem Tisch von dunklem, wohlriechendem Holz, das reich mit Perlmutt ausgelegt war – die Frau seines Vormunds hatte es ihm geschenkt, die es sich zum Beruf gemacht hatte, leidend zu sein, und den vorigen Winter in Kairo verbracht hatte –, lag ein Brief von Lord Henry und daneben ein Buch mit gelbem, etwas eingerissenem Umschlag und ziemlich verschmutzten Kanten. Ein Exemplar der dritten Ausgabe der St. James Gazette war auf das Teebrett gelegt worden.

      Es war klar, Viktor war zurückgekehrt. Ob er wohl die Männer im Vestibül getroffen hatte, als sie im Begriff waren, das Haus zu verlassen, und ob er aus ihnen herausgeholt hatte, was sie gemacht hatten? Er würde sicher das Bild vermissen, hatte es ohne Zweifel bereits vermisst, während er den Teetisch zurechtgemacht hatte. Der Schirm war noch nicht wieder an seine Stelle gesetzt worden, und der leere Platz an der Wand war auffallend. Vielleicht ertappte er ihn eines Nachts, wie er sich hinaufschlich und den Versuch machte, die Tür aufzusprengen. Es war furchtbar, einen Spion bei sich im Hause zu haben. Er hatte von reichen Leuten gehört, an denen ihr ganzes Leben lang von einem Bedienten Erpressung verübt wurde, der einen Brief gelesen oder ein Gespräch mit angehört oder eine Karte mit einer Adresse aufgelesen oder unter einem Kissen eine verwelkte Blume oder ein kleines Stückchen zerdrückter Spitze gefunden hatte.

      Er seufzte; dann goss er sich den Tee ein und öffnete Lord Henrys Brief. Es enthielt nur die paar Worte: beifolgend erhalte er das Abendblatt und ein Buch, das ihn vielleicht interessiere, und er erwartete ihn um viertel neun im Klub. Er öffnete langsam die St. James und überflog sie. Ein roter Bleistiftstrich auf der fünften Seite fiel ihm auf. Der Strich wies auf die folgende Notiz hin:

      »Leichenschau an einer Schauspielerin. Eine gerichtliche Untersuchung wurde heute Morgen in der Bell Tavern, Hozton Road, von Herrn Dauby, dem Bezirksleichenbeschauer, über den Leichnam Sibyl Vanes, einer jungen Schauspielerin, die seit kurzem am Royal Theater in Holborn engagiert war, abgehalten. Der Spruch lautete auf Tod durch Unglücksfall. Viel Teilnahme fand die Mutter der Verblichenen, die während ihrer Aussage und der des Dr. Birrell, der die Obduktion der Toten vorgenommen hatte, ihrem Schmerz ergreifenden Ausdruck gab.«

      Er runzelte die Stirn, zerriss das Blatt und stand auf, um die Papierstücke wegzuwerfen. Wie hässlich das alles war! Und wie furchtbar wirklich die Hässlichkeit alles machte. Er war etwas ärgerlich über Lord Henry, dass er ihm den Bericht geschickt hatte. Und ohne Frage war es dumm von ihm, dass er ihn rot angestrichen hatte. Viktor hätte ihn lesen können. Der Mann konnte mehr als genug Englisch dazu.

      Vielleicht hatte er ihn gelesen und angefangen, etwas zu vermuten. Aber doch, was lag denn daran? Was hatte Dorian Gray mit Sibyl Vanes Tod zu tun? Es war nichts zu befürchten. Dorian Gray hatte sie nicht getötet.

      Sein Blick fiel auf das gelbe Buch, das Lord Henry ihm geschickt hatte. Er war neugierig darauf. Er ging zu dem perlfarbenen achteckigen Tischchen, das ihm immer wie die Arbeit seltsamer ägyptischer Bienen vorgekommen war, die ihre Waben aus Silber bauen könnten, nahm das Buch, warf sich in einen Lehnstuhl und fing an zu lesen. Nach ein paar Minuten ließ es ihn nicht mehr los. Es war das seltsamste Buch, das er je gelesen hatte. Es schien ihm, in köstlichem Gewande und unter sanfter Flötenmusik zögen in stummem Zuge die Sünden der Welt an ihm vorbei. Dinge, von denen er unklar geträumt hatte, wurden ihm eins nach dem andern enthüllt.

      Es war ein Roman ohne eigentliche Handlung, der sich nur um einen einzigen Charakter drehte. Es war in der Tat lediglich eine psychologische Studie von einem jungen Pariser, der sein Leben damit verbrachte, den Versuch zu machen, im neunzehnten Jahrhundert all die Leidenschaften und Denkungsarten zu verwirklichen, die jedwedem früheren Jahrhundert außer seinem eigenen angehört hatten, und in sich selbst die mannigfachen seelischen Zustände, durch die der Weltengeist je irgend hindurchgegangen war, gewissermaßen zu summieren, indem er jene Entsagungen, die die Menschen töricht Tugend genannt haben, um ihrer bloßen Künstlichkeit willen nicht mehr und nicht weniger liebte als die Auflehnungen der Natur, die weise Menschen immer noch Sünde nennen. Der Stil, in dem das Buch geschrieben war, war der seltsame preziöse Stil, der zugleich lebendig und dunkel ist, voller Argot und Archaismen, technischer Ausdrücke und ausgesuchter Paraphrasen, wie er die Arbeiten einiger sehr feiner Künstler aus der französischen Symbolistenschule charakterisiert. Es waren Metaphern darin, die so abenteuerlich gestaltet, aber auch so wunderbar fein in den Farbentönen waren wie Orchideen. Das Leben der Sinne war mit der Terminologie der mystischen Philosophie geschildert. Man wusste manchmal kaum, ob man die vergeistigten Ekstasen eines mittelalterlichen Heiligen oder die krankhaften Bekenntnisse eines modernen Sünders las. Es war ein Buch voller Gift. Der schwere

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