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„Das ist schnell erzählt. Landgraf ­Friedrich II, der das Landgrafenschloss bauen ließ, verlor 1659 bei einer Schlacht sein Bein. Deshalb hat man ihm eine Prothese angefertigt, die nicht nur mit Federn besetzt war, sondern sogar silberne Scharniere besaß. Sie können das Original im Schloss besichtigen.“

      „Aha, was es alles gibt!“ ­Melanie nahm einen Schluck Limonade.

      Die Eingangstür öffnete sich und ein Mann betrat den Raum. Er war vom Alter her schwer zu schätzen. Sie vermutete, dass er zumindest deutlich über sechzig Jahre alt war. Sein schlohweißes Haar und der dazu passende dichte Vollbart wirkten verfilzt, jedoch nicht wirklich ungepflegt, wohingegen seine Kleidung abgewetzt und schmuddelig aussah. Er trug einen verschmutzten Rucksack auf dem Rücken, grüßte die Anwesenden freundlich und ging direkt zur Theke. ­Sabrina schien ihn erwartet zu haben und führte ihn zur Kellertreppe, wo die beiden verschwanden.

      ­Rosenthal las anscheinend die Fragezeichen auf ­Melanies Stirn. „Er heißt ­Siegfried Graf zu Biebenau und ist tatsächlich adlig. Er lebt auf der Straße, man munkelt, er sei früher Staatsanwalt gewesen. Er selbst spricht nicht darüber. Einmal die Woche erscheint er hier, um unten zu duschen, wo immer saubere Anziehsachen auf ihn warten. ­Sabrina wäscht die Klamotten bis zum nächsten Mal, schneidet ihm jeden Monat die Haare und stutzt ihm den Bart. Ist so was wie ihre soziale Tat.“

      ­Melanie schüttelte den Kopf. „Unglaublich! Wie kommt das?“

      „Weiß ich nicht!“, behauptete ­Rosenthal.

      Sie hatte den Verdacht, dass er mehr wusste, als er preisgab.

      „Eines Tages war er da. Anfangs dachten alle, da liefe was zwischen den beiden. Das ist Quatsch, obwohl ­Sabrina nicht wirklich Glück mit den Männern hat.“

      ­Melanies Puls beschleunigte sich. „Inwiefern?“

      „Nun ja, in den vergangenen zwei Jahren hatte sie drei Freunde. Nichts hat lange gedauert. Der Letzte hat hier sogar gewohnt und im Lokal geholfen. Aber einen auf den anderen Tag war er plötzlich verschwunden. Spurlos!“ Er trank einen Schluck Bier. „Hat sie nicht verdient, sie ist eine tolle Frau!“, flüsterte er, als spräche er zu sich selbst.

      Der Stadtstreicher erschien wieder und hatte sich mit sauberen Kleidern und ordentlich gekämmten Haaren völlig verändert. Wenn ­Melanie ihm so begegnet wäre, hätte sie in ihm niemals einen Obdachlosen vermutet.

      Er setzte sich an den Nachbartisch und ­Sabrina brachte ihm Schnitzel mit Bratkartoffeln und ein Weizenbier, das er in zwei Zügen austrank. ­Sabrina nahm das leere Glas und stellte ihm kurz darauf ein neues hin. Er schien ausgehungert, so wie er sich über das Essen hermachte. Die seitliche Tür öffnete sich und eine Gruppe Senioren kam aus dem angrenzenden Raum. Sie gingen zum Tresen, bezahlten und verließen das Lokal.

      Eine Grauhaarige, die ihre langen Haare zu Zöpfen geflochten hatte und ein bodenlanges schwarzes Kleid trug, kam ebenfalls aus der Nachbarstube. Das silberne Amulett an ihrem Hals war für ­Melanies Geschmack ein wenig zu wuchtig und erinnerte sie an Indianerschmuck. Ihre dünnen Lederschuhe konnte sie auf einem Mittelaltermarkt erworben haben.

      ­Melanie sah aus dem Augenwinkel, dass der Graf einen Moment zu essen aufhörte und der Frau nachblickte, als sie an ihm vorbeiging, ohne ihn zu beachten. Sein Gesicht verzerrte sich. Wut oder Angst?

      Das Publikum war hier irgendwie speziell. Gestern der Langhaarige und der Junge, der vielleicht ein Rechtsradikaler war, heute der obdachlose Adlige und die Althippiefrau. Interessant!

      ­Rosenthal, der die Szene anscheinend nicht wahrgenommen hatte, räusperte sich. „Hallo, sind Sie noch bei mir?“, erkundigte er sich mit einem ironischen Unterton.

      Sie fuhr zusammen. „Oh, Entschuldigung. Ich war wohl in Gedanken.“

      Ihr Gesprächspartner lachte. „Das war nicht zu übersehen. Ich habe Sie gerade gefragt, woher Sie kommen.“

      ­Melanie erzählte von Hamburg. Sie traute sich nicht, nach Jan Wolter zu fragen, denn sie befürchtete, neugierig zu wirken.

      ­Rosenthal half ihr. „Ist ja lustig! ­Sabrinas Freund, von dem ich vorhin sprach, kam ebenfalls aus Hamburg. Er hieß Jan Wolter.“ Jetzt fehlte nur noch, dass er sie fragte, ob sie den Verschollenen kenne.

      „Wer ist sie?“, wechselte ­Melanie das Thema und zeigte mit dem Kopf in Richtung Tresen, an dem die Frau mit den Zöpfen bei ­Sabrina stand.

      „Das ist Marion Klettke. Sie kümmert sich mit ihrem Lebensgefährten um Senioren aus der Region. Werner Mumer ist heute anscheinend nicht da. Die beiden sind richtige Alt-68er und geben sich nach wie vor so. Waren damals bei den Studentenunruhen in Frankfurt dabei und haben an der Startbahn West Steine geworfen. Allerdings haben sie die Kurve gekriegt und viel Geld verdient. Nun können sie sich ihre Spleens leisten.“ Es hörte sich wie eine einfache Feststellung an, ohne die geringste Andeutung von Neid.

      Der Graf erhob sich abrupt. Langsam kam er zu ihrem Tisch, blieb stehen und beugte sich zu ihnen.

      Seine Stimme klang sonor. „Na, Ralf, da hast du ja eine Hübsche gefunden. Willst du sie mir nicht vorstellen?“

      ­Melanie befürchtete bereits, er wolle aufdringlich werden, als er lauter sprach. „Mädchen, du bist mir sympathisch. Deshalb ein Rat: Pass auf dich auf. Hier geschehen merkwürdige Dinge!“ Er zwinkerte ihr zu.

      ­Sabrina tauchte neben ihm auf. „Lass gut sein, Siggi! Du vergraulst mir ja die Gäste.“

      Der Angesprochene funkelte ­Melanie aus schwarzen Augen an. „Es gibt hier böse Menschen“, murmelte er.

      Ruckartig wandte er sich zur Wirtin um. „Danke, mein Schatz, bis bald mal wieder.“ Plötzlich hatte er es eilig und nahm seinen Rucksack, um in wenigen Sekunden nach draußen zu verschwinden.

      21. April

      ­Melanie stand in der Dorotheenstraße vor der gigantisch wirkenden Erlöserkirche. Bereits der äußere Anblick des Gotteshauses mit den vier Türmen erinnerte sie an eine Kathedrale. Als sie den Innenraum betrat, ließ sie die Inneneinrichtung einige Minuten auf sich wirken. Aufgrund des dunklen Wandmarmors und der riesigen Goldmosaike im Deckengewölbe, kam ihr die Hagia Sophia in Istanbul und deren byzantinischer Baustil in den Sinn. Sie überlegte eine Weile, ob das in der Kuppel hängende Lichtkreuz dazu passte, akzeptierte es dann schließlich. Interessant empfand sie zudem die Besucherplätze, die aus einfachen Stuhlreihen bestanden.

      Sie hätte ewig hier stehen und die Atmosphäre aufsaugen können. Wann war sie zuletzt in einer Kirche gewesen? Vermutlich bei ihrer Konfirmation und das war zwanzig Jahre her. Auch wenn der Ort keinen vollwertigen Ersatz für ihren geliebten Strandkorb darstellte, fühlte sie sich hier geborgen. Ein wunderbarer Platz, um zur Ruhe zu kommen und die Gedanken fließen zu lassen.

      Sie schlenderte zu einem Stuhl in der hintersten Ecke und setzte sich. Das würde ihr Stammplatz werden. Plötzlich dachte sie an den Vater. Sie nahm das Handy aus der Jackentasche und las wieder Anjas Kurznachricht vom Morgen. Er habe sich spürbar erholt, nachdem in den Tagen davor das Schlimmste zu befürchten gewesen sei. Er registriere die Umwelt, und sein Zustand wäre stabil, trotzdem sei nicht damit zu rechnen, dass sich die Lähmungserscheinungen und das Sprachvermögen deutlich verbessern könnten. ­Melanie steckte das Telefon wieder ein und lächelte. Die Worte gaben ihr Hoffnung.

      Ihre Gedanken wanderten zu der Gaststätte, in der sie den Schlüssel zu Jan Wolters Verschwinden vermutete.

      Die Menschen, die sie bisher getroffen hatte, erschienen ihr ungewöhnlich und bei manchem spürte sie ein Geheimnis. Sah man vielleicht von ­Rosenthal ab, der nett und normal wirkte.

      ­Melanie wurde vor allem aus dem merkwürdigen Auftritt des obdachlosen Grafen nicht schlau. Weshalb hatte er ausgerechnet an ihrem Tisch die düsteren Sätze gesprochen, die wie eine Warnung klangen.

      Genauso interessierte sie der aggressive Rechte. Warum trieb sich Schneider in der Wirtschaft rum, obwohl er Hausverbot hatte. Wollte er provozieren oder verbarg sich etwas Ärgeres

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