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ja unser Vater. Obwohl er das mir gegenüber in den letzten Jahren kaum gezeigt hat.“ Ihr Körper straffte sich. „Sag, wie schlimm ist es?“

      „Ziemlich! Ich habe ihn heute im Bett gefunden. Er ist auf einer Seite gelähmt und außerstande zu sprechen. Bin nicht sicher, ob er alles wahrnimmt. Die Ärzte haben mir wenig Hoffnung gemacht. Vermutlich hab ich ihn zu spät entdeckt.“

      Anja schluchzte, worauf ­Melanie sie in den Arm nahm und ihr einen Kuss auf die Stirn drückte. Unwillkürlich wurde sie wieder zu der Beschützerin, die sie früher oft gewesen war.

      Sie fuhren mit dem Lift zur Intensivstation. Anja lief zielstrebig voraus, um schließlich vor einer Tür zu stoppen.

      „Mel, du darfst nicht erschrecken. Er sieht aus wie der Leibhaftige persönlich und sein Gesicht ist völlig verzerrt.“ Sie klopfte, öffnete die Tür und ließ ­Melanie den Vortritt.

      Ulrich Gramberg lag in einem Einzelzimmer. Glücklicherweise hatte Anja sie gewarnt, denn von dem einst charismatischen Hanseaten war rein äußerlich nichts mehr übrig. Dort lag ein todgeweihtes Häufchen Elend mit aschfahler Haut, das an einen Tropf angeschlossen war und dessen letzte Lebenszeichen von rhythmisch blinkenden Geräten begleitet wurden. Zum Glück hatte man den akustischen Überwachungston abgeschaltet.

      ­Melanies Kloß im Hals, der sich beim Betreten der Klinik gebildet hatte, schien ihr allmählich die Kehle zuzudrücken.

      Seine schielenden Pupillen orientierten sich in ihre Richtung. Aus dem Augenwinkel registrierte sie, dass sein Pulsschlag sich rasant beschleunigte und die Anzeige bei 135 Schlägen einpendelte. Gramberg versuchte, zu sprechen, was in ein paar gurgelnden Geräuschen mündete.

      „Papa, ich bin es. Mel.“

      Der Herzschlag näherte sich der Marke von 150. Anja war im Hintergrund geblieben, während ­Melanie einen Stuhl nahm und sich neben das Bett setzte. Vorsichtig ergriff sie die rechte Hand ihres Vaters und streichelte sie. Er beobachtete sie, wobei sein Puls unverändert galoppierte. Sie drehte den Kopf. „Würdest du uns einen Augenblick allein lassen?“

      Anjas Blick fixierte ­Melanie. „Hältst du das für eine gute Idee?“

      „Bitte!“

      Anja verzog das Gesicht, wandte sich jedoch ab und verließ den Raum. ­Melanie blickte ihrem Vater direkt in die Augen. „Es tut mir sehr leid. Das hast du nicht verdient.“ Sie überlegte kurz, ob es richtig war, sich mit ihm auszusprechen. Es konnte eigentlich keine Aussprache geben, trotzdem war es ihr wichtig, denn möglicherweise bedeutete das heutige Treffen den endgültigen Abschied. Sie gab sich einen Ruck.

      „Es ist für mich furchtbar traurig, dich unter diesen Umständen wiederzusehen. Ich möchte dir etwas sagen, was ich zu lange mit mir herumschleppe.“ Der Pulsschlag erhöhte sich auf 160.

      Sie zögerte und strich dem Vater zärtlich über den Kopf. „Wir haben beide Fehler gemacht und ich bin mir sicher, es wäre nicht zu unserem Zerwürfnis gekommen, wenn wir Sturköpfe anständig miteinander gesprochen hätten.“

      Sie hielt inne und holte tief Luft. „Dir muss früh klar gewesen sein, dass ich nie Jura studieren und die Anwaltspraxis übernehmen würde. Ich bin nicht geeignet für Gerichtssäle und ellenlange Schriftsätze. Ich wollte schon immer zur Polizei gehen. Dort konnte ich etwas Sinnvolles tun und gleichzeitig meine Grenzen austesten. Leider hat Eriks Tod alles zerstört. Mindestens so schlimm empfinde ich, dass du mit mir gebrochen hast, weil ich den Dienst quittiert habe und ich in deinen Augen eine Versagerin bin. Den Kontakt zu mir abzubrechen und mich letztes Jahr bei Mutters Beerdigung zu schneiden, hat mir teuflisch wehgetan.“

      Sie schluckte mehrmals. „Papa, ich kann nicht mehr Polizistin sein. Die Schuld, die ich an dem Unglück habe, verhindert das! … Deshalb bin ich ausgeschieden.“ ­Melanie lächelte, als sich der Herzschlag ihres Vaters leicht beruhigte. „Denk bitte darüber nach.“

      Der Kloß in ihrem Hals löste sich wie von Zauberhand auf. „Ich liebe dich sehr!“

      Seine Pupillen glitzerten, er drückte ihre Hand spürbar. Als der Versuch zu sprechen erneut kläglich scheiterte, liefen ihm dicke Tränen die Wangen entlang. Er schien ihr einen liebevollen Blick zuzuwerfen.

      Sie stand auf, beugte sich über ihn, küsste ihn auf die Stirn und hielt ihn eine Weile fest. Mit jeder Sekunde entspannte er sich weiter.

      „Danke“, flüsterte sie, nickte ihm zu und verließ den Raum. Es wurde ihr bewusst, dass sie gerade endgültig Abschied genommen hatte. Sie trauerte und weinte, obwohl sie es unsagbar erleichterte, endlich die Möglichkeit gehabt zu haben, ihre Gefühle ihm gegenüber zu erklären. Sie war ihrem Vater so nahe gewesen wie vielleicht seit ihrer Kindheit nicht mehr.

      ***

      Anja wartete in einer Sitzgruppe am Ende des Gangs. Sie runzelte die Stirn. „Wie ist es gelaufen? Was hast du ihm gesagt?“

      ­Melanie überlegte kurz, wie sie es ausdrücken sollte, entschied sich schließlich für den direkten Weg. „Was notwendig war und ich glaube, er hat es verstanden.“

      „Mel, du darfst nicht so streng mit ihm sein.“

      „Kleines, Vater ist ein störrischer Egoist!“, entgegnete ­Melanie mit ruhiger Stimme. „Für ihn zählen nur Juristen. Meine Polizeikarriere hat er als einen Job zweiter Klasse angesehen, den ich zu allem Überfluss versemmelt habe.“

      „Hör endlich mit dem Selbstmitleid auf. Du wurdest von den Anschuldigungen freigesprochen. Hätte sich Erik angeschnallt, würde er leben wie du und deine Kollegen!“

      „Lassen wir das.“ ­Melanie zögerte. „Wir werden Papa verlieren.“

      „Ich weiß“, flüsterte die Schwester. Sie atmete tief ein und presste die Luft aus den Lungen.

      ­Melanie fasste in diesem Moment einen Entschluss. „Kleines, ich bin immer für dich da, das weißt du. Ausgerechnet jetzt muss ich für einen Auftrag ins Rhein-Main-Gebiet und habe dort eine Weile zu tun. Aber du kannst mich jederzeit erreichen. Ich bin dann in wenigen Stunden zurück!“

      ***

      ­Melanie saß kurz vor Mitternacht in ihrem Strandkorb. Sie knöpfte die Strickjacke zu und wickelte die Beine in eine Wolldecke. Die Stille fühlte sich unwirklich an. Wie war es möglich, dass all die Menschen in den benachbarten Häusern keinerlei Geräusche verursachten? Sie befürchtete beinahe, das Rascheln der Seiten auf ihrem Schoß sei im ganzen Block zu hören. Plötzlich zuckte sie zusammen, als das Handy neben ihr zu brummen begann.

      „Hi Mel, störe ich? Schläfst du schon?“

      Dann wäre ich ja wohl kaum beim ersten Klingelton drangegangen, dachte sie. „Hallo Fred, nein, alles geschmeidig.“

      „Ich wollte Bescheid sagen, dass nichts Negatives zu den Brüdern im Computer zu finden ist.“ Bei ihr stellte sich Enttäuschung ein. „Wie ich gehört habe, hast du den Auftrag angenommen!“

      ­Melanie stutzte. „Woher weißt du das?“

      „Jetzt bist du baff, was? Du wirst nicht erraten, wer vorhin bei mir war.“

      Ein Schauer überlief sie. „Mach's nicht so spannend. Wird nicht der regierende Bürgermeister gewesen sein.“

      Fred lachte. „Fast! Schuldt höchstpersönlich hat sich die Ehre gegeben.“

      „Aha?“

      „Er wusste, dass du den Fall übernimmst, und forderte von mir äußerste Verschwiegenheit. Außerdem fabulierte er ziemlich wirr, es könne sein, dass du mich in einer bestimmten Sache, die mit einer verschwundenen Person in Hessen zusammenhänge, kontaktierst.“

      ­Melanie legte die Stirn in Falten. „Hört sich schräg an. Was hast du erwidert?“

      „Ich hab mich dumm gestellt, was mir bekanntlich nicht schwerfällt.“ Er lachte erneut. „Es kommt noch besser. Unser strenger Hüter der Dienstvorschriften hat mich angewiesen, dich zu unterstützen und ihn

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