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gefahren war, hatte Amy schon so oft geweint, vor lauter Angst, für die es eigentlich überhaupt keinen Grund gab, und Yannicks Abwesenheit war noch tausendmal schlimmer.

      Sie gingen schweigsam zum Gleis, von dem aus sie ihre Reise antreten würden. Veronica umarmte Yannick und Amy. »Ich habe euch lieb! So lieb! Die Zeit mit euch ist wieder so schnell vergangen …«, murmelte sie und strich eine blonde Strähne hinter Amys Ohr. »Aber es war schön mit euch. Ich habe euch wirklich gerne hier. Das … das wisst ihr doch, oder? Dass ich euch liebe und immer für euch da bin …« Glitzerten ihre Augen etwa plötzlich ein kleines bisschen? Oder lag es an ihrer Brille? Doch als Veronica die Nase hochzog und ein bisschen wackelig lächelte, war Yannick sich sicher, dass ihre Augen feucht geworden waren. Überfällt dich gerade das schlechte Gewissen, Mama? Weil du uns so selten siehst und selbst, wenn wir dann mal bei dir sind, ständig in deinem Arbeitszimmer sitzt? Weil du glaubst, als Mutter nicht genug für uns da zu sein?

      Veronica hob den Arm, zuckte kurz, als hätte sie Yannicks Gedanken gelesen, dann legte sie die Hand an seine Wange und strich liebevoll darüber. »Bei nächster Gelegenheit besucht ihr mich wieder! Und wenn ich das nächste Mal in Deutschland bin, dann komme ich nach Biesfeld, das verspreche ich euch!«

      »Heschbach, Mama. Wir ziehen um.«

      Etwas in Veronicas Augen flackerte auf, über ihr Gesicht legte sich ein Schatten, für den Bruchteil einer Sekunde. Yannick hatte es trotzdem genau gesehen. »Ach ja, Heschbach …«

      Yannick starrte seine Mutter an, versuchte in ihren Augen irgendetwas zu lesen, doch sie waren so verschlossen wie immer. In diesem Moment fuhr der Zug ein. Sie bekamen jeder noch eine Umarmung, dann standen sie im Zug, Veronica wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel und versuchte zu lächeln, wobei sie kläglich scheiterte. Amy und Yannick winkten, bis die Türen sich zwischen ihnen und Veronica schlossen und der Zug sich in Bewegung setzte und sie aus ihrem Blickfeld verschwand. Veronica sah so einsam und traurig und verlassen aus, wie sie da auf dem Bahnsteig stand, mit nichts als Ginny an ihrer Seite.

      Amy zog die Nase hoch und musste sich die Tränen aus den Augenwinkeln wischen. Wir sehen uns wieder, versuchte sie sich selbst zu sagen, wir sehen uns bestimmt schon sehr bald wieder, und wir können uns schreiben und ich kann sie auch anrufen – aber sie spürte, wie sich ihr Herz zusammenkrampfte vor innerer Unruhe, der Angst, Veronica verloren zu haben.

      Sie spürte ein Zupfen am Ärmel ihres T-Shirts und sah zu Yannick hoch, der mit dem Kopf Richtung Gang nickte. »Da drüben sind zwei Plätze frei, Hasenherz.«

      Hasenherz. Wie gut das doch wieder einmal zutraf. Amy hievte ihren pinken Koffer hoch und folgte Yannick zu den Sitzplätzen, die er entdeckt hatte. Er überließ Amy wie immer den Fensterplatz, wuchtete die Koffer ins Gepäcknetz und ließ sich dann neben ihr nieder.

      Die Landschaft zog jetzt schnell an ihnen vorbei, diese unbeschwerte Sommerlandschaft. Sie waren auf dem Weg nach Heschbach. In eine neue Stadt. Ins Unbekannte. Amys Herz zog sich schon jetzt zusammen vor Sehnsucht nach Veronica und Ginny und ihrem Haus, der Zeit dort. Sie selbst konnte sich gar nicht, Yannick nur noch dunkel an die Zeit erinnern, als ihre Eltern noch zusammen gewesen waren. Aber das alles war auch für ihn blass, verschwommen. Im Grunde kannten sie es nicht anders, als dass ihre Eltern getrennt waren. Dass man immer einen von beiden vermisste, den, der gerade nicht da war. Es gab ja Kinder, die sogar abwechselnd bei ihren Elternteilen wohnen konnten, in der einen Woche bei Mama, in der nächsten bei Papa. Manchmal stellten sie sich das toll vor. Eine Woche hier, dann eine Woche da, und wenn es Streit gab, konnte man einfach zum anderen flüchten. Aber das war für betroffene Kinder auch nicht schön.

      Yannick sah zu Amy hinüber, die mit feuchten Augen aus dem Fenster sah, und ihn überkam prompt Friede. Sein Hasenherz, das war immer da, egal ob sie gerade bei Mama oder Papa waren. Wieder einmal wischte Yannick sein eigenes Bedauern und die Traurigkeit beiseite, um Amy ihre eigene, doch so viel größere als seine zu nehmen. Er beugte sich vor, kramte in seinem Rucksack und zog eine Tafel Schokolade heraus, die er als Reiseproviant heute Morgen eingepackt hatte. Er stupste Amy an. »Meinst du, die kann dich ein bisschen aufheitern?«

      Amy sah auf die Schokolade in seinen Händen, dann in seine dunklen, warmen Augen. »Hmm, vielleicht …«

      »Na, dann müssen wir das wohl mal herausfinden …« Yannick riss mit seinem Großer-Bruder-Helden-Beschützer-Lächeln die Packung auf, brach einen Riegel ab und reichte ihn ihr.

      Amy biss in die süße Schokolade, schmiegte sich an ihn und sah zu ihm hoch. »Danke«, wisperte sie und ihr Blick triefte nur so von Liebe und Zuneigung. »Ich hab dich lieb.«

      Yannick schlang seine Arme um sie. »Ich hab dich auch lieb, Hasenherz.«

      Wunden

      Der Mann klopfte mit den Fingern abwartend aufs Armaturenbrett. Er musste gleich rauskommen. Jeden Moment würde es so weit sein. Nach und nach kamen die Spieler aus der Halle, die er alle nicht mehr kannte. Er hatte in den letzten Jahren bloß noch Markus Sladowskis Werdegang verfolgt, nicht jedoch die DEL, geschweige denn die Heschbacher Geparden. Er kannte bloß noch die Spieler aus den späten Neunzigern und frühen Zweitausendern. Das waren Zeiten damals … Die ruhmreichen Jahre der Geparden, mit der Legende Michael Rahde. Was der im Verein nicht alles umgekrempelt hatte … Zurecht war er eine Legende und ein Idol für das deutsche Eishockey.

      Der Mann musste kurz lächeln bei den Erinnerungen an damals. Aber wie alles im Leben war auch diese Zeit vorbeigegangen und hatte nichts als bittersüße Erinnerungen hinterlassen. Der Mann kannte keinen der Spieler, die da aus der Halle kamen – keinen bis auf einen, den achtzehnjährigen Jakob Thiel nämlich, der mit sechzehn seinen DEL- Vertrag bei den Geparden unterschrieben hatte und in diesem Sommer von einem NHL-Team gedraftet worden war. Aber den konnte man ja auch gar nicht nicht kennen. Der war doch beinahe so etwas wie ein deutscher Sidney Crosby – jeder Deutsche, der wenigstens ein kleines bisschen etwas auf Eishockey gab, hatte ihm doch vor zwei Jahren zu Füßen gelegen. Eigentlich war es doch verwunderlich, dass er nicht gleich in Amerika in der AHL im Farmteam geblieben war. Unmöglich, den nicht zu kennen. Was für eine Ehre für Markus Sladowski, ihn trainieren zu dürfen.

      Markus Sladowski, der neue Assistenztrainer der Geparden Heschbach. Heschbach. Der Mann ließ seinen Blick über den Parkplatz schweifen. Er war ihm all die Jahre genau so in Erinnerung geblieben, wie er ihn jetzt in Realität wieder vor sich sah.

      Dass er noch einmal hierher zurückkehren würde … das hatte er vor kurzem noch nicht für möglich gehalten. Er war davon überzeugt gewesen, für immer ganz weit weg zu gehen, an einen Ort, mit dem er überhaupt nichts verband.

      Obwohl die Erinnerungen immer bleiben würden, und vermutlich hätte ihn an jedem Ort wieder irgendetwas erinnert. Dafür saßen die Wunden zu tief. Wunden, die auch dreizehn Jahre nicht hatten heilen können. Sie würden immer offen bleiben. Vielleicht nicht völlig offen und ungeschützt, aber es hatte sich bloß ein kleiner Film darübergelegt. Wie bei einer Nässwunde. Und in jeder Sekunde war er der Gefahr ausgeliefert, gegen irgendetwas zu stoßen, das sie wieder aufriss – und bei einer Nässwunde war das Risiko einer darauffolgenden Blutvergiftung nicht gering.

      Und nun fand er sich doch in Heschbach wieder, an dem Ort auf der Welt, an dem die Gefahr, die Wunden wieder aufzureißen, am allergrößten war. Aber seine … seine Neugierde hatte dann letztendlich doch gesiegt. Neugierde und … nein, eigentlich waren es die Erinnerungen, die Wunden selbst, die ihn dazu gebracht hatten, gegen seinen klaren Verstand zu handeln und hierher zurückzukommen. Hätte er es nicht getan, dann hätte er niemals Ruhe gefunden. Er musste sie sehen. Wenigstens ein Mal.

       Wenn du sie gesehen hast… dann kannst du deine Ruhe finden und es hinter dir lassen. Zumindest so weit, wie es möglich ist.

      Der Mann zog sich die Cap noch etwas tiefer in die Stirn. Unter der Cap und dem Schal floss ihm der Schweiß bereits in Strömen den Rücken hinunter. Ob er so noch zu erkennen war? Nein. Bestimmt nicht. Gerade, als er darüber nachdachte, ob er nicht doch lieber auch noch eine Sonnenbrille aufsetzen sollte – ihm widerstrebte das, da er durch eine Sonnenbrille einfach nicht die Realität sah, sondern bloß einen verdunkelten

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