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Eine Gruppe Leidtragender trat durch das Friedhofstor – mit weißen Bändern geschmückt, denn es sollte ein Jüngling begraben werden. Sie standen mit entblößten Häuptern um das Grab und weinten. Aber die Sonne schien heiter vom Himmel, und die Vögel sangen lustig in den Zweigen.

      Oliver kehrte heim, und als er zu Hause anlangte, saß Frau Maylie in dem kleinen Wohnzimmer. Sein Mut sank, als er sie sah, denn sie hatte das Krankenlager ihrer Nichte nie verlassen. Er erfuhr, daß Rosa in einen tiefen Schlaf verfallen sei, aus dem sie entweder zum Leben oder zum letzten Abschied erwachen würde.

      Sie saßen stundenlang, ohne zu sprechen, in Erwartung beieinander und rührten keine Speisen an. Schließlich erfaßten ihre lauschenden Ohren das Geräusch näher kommender Tritte und sie eilten beide zugleich an die Tür, als Herr Losberne eintrat.

      „Wie geht es Rosa?“ fragte Frau Maylie. „Schnell, sagen Sie es mir! Ich kann alles, nur nicht diese peinvolle Ungewißheit vertragen! Sprechen Sie, reden Sie, um Himmels willen!“

      „Fassen Sie sich“, sagte der Doktor, sie stützend. „Ich bitte, bleiben Sie ruhig, liebe, gnädige Frau!“

      „Um Gottes Willen, lassen Sie mich! Mein armes Kind! Sie ist tot! Sie liegt im Sterben!“

      „Nein!“ sagte der Doktor bewegt. „Da ER gütig und barmherzig ist, wird sie leben, um uns noch viele Jahre zu beglücken.“

      Die alte Dame fiel auf die Knie und versuchte, ihre Hände zu falten. Die Willenskraft aber, die sie so lange aufrecht erhalten hatte, versagte mit dem ersten Dankgebet, das sie zum Himmel sandte, und sie sank ohnmächtig in die Arme des herbeieilenden Doktors.

      Vierunddreißigstes Kapitel

      Enthält einige einleitende Bemerkungen über einen jungen Herrn, der jetzt auf der Bildfläche erscheint, und ein neues Abenteuer, das Oliver erlebt

      Es war fast des Glückes zuviel, um ertragen werden zu können. Oliver war durch diese unerwartete Nachricht ganz betäubt. Er vermochte weder zu weinen, noch zu sprechen. Ein langer Spaziergang in der weichen Abendluft, auf dem er reichlich Tränen vergoß, brachte ihm Erleichterung. Jetzt erst schien er auf einmal zum vollen Bewußtsein der glücklichen Wendung gekommen zu sein, und seine Brust fühlte sich von einem Alp befreit. Die Nacht war bereits hereingebrochen, als er nach Hause ging, beladen mit Blumen, die er mit besonderer Sorgfalt für die Kranke gepflückt hatte.

      Plötzlich hörte er hinter sich eine Postkutsche in rasender Fahrt herankommen. Als der Wagen an ihm vorbeijagte, konnte Oliver im Innern einen Mann mit weißer Nachtmütze erkennen, dessen Gesicht ihm bekannt vorkam. Im nächsten Augenblick fuhr die Nachtmütze durch das Fenster heraus und befahl dem Postillon mit mächtiger Stimme haltzumachen. Als die Pferde standen, kam der Kopf mit der Nachtmütze wieder zum Vorschein, und eine bekannte Stimme rief Oliver an.

      „Hallo, wie steht’s? Was macht Fräulein Rosa?“

      „Ach, Sie sind es, Giles!“ schrie Oliver und eilte an den Wagenschlag.

      Giles wollte gerade etwas erwidern, als er durch einen jungen Mann beiseite gedrängt wurde, der in einer Ecke des Wagens saß. Hastig fragte er Oliver nach dem Stand der Dinge zu Hause.

      „Mit einem Wort“, rief der junge Herr „geht es besser oder schlechter?“

      „Besser – viel besser“, sagte Oliver schnell.

      „Gott sei Dank!“ rief der Herr. „Weißt du es auch ganz gewiß?“

      „Ganz gewiß“, entgegnete Oliver. „Die Wendung zum Besseren trat erst vor ein paar Stunden ein, und Herr Losberne meint, alle Gefahr wäre nun vorüber.“

      Ohne ein weiteres Wort zu sagen, sprang der junge Herr aus dem Wagen und zog Oliver zur Seite.

      „Du bist ganz sicher, mein Junge, ein Irrtum deinerseits ist ausgeschlossen?“ fragte der Herr mit bebender Stimme. „Erwecke nicht unnötigerweise Hoffnungen in mir, die vielleicht nie in Erfüllung gehen.“

      „Um keinen Preis würde ich das tun. Sie dürfen mir schon glauben. Es sind des Doktors eigene Worte, daß sie leben werde, um uns alle noch viele Jahre zu beglücken. Ich selbst hab’ es so von ihm gehört.“

      Die Tränen standen Oliver in den Augen, und der junge Herr wandte sein Gesicht ab, ohne etwas zu erwidern. Der Junge glaubte ihn ein paar Mal schluchzen zu hören. Endlich sagte der Herr zu Giles: „Es ist wohl besser, Sie fahren mit der Kutsche vorab, während ich zu Fuß nachkomme. Ich muß mich erst sammeln, bevor ich sie sehe. Sie können meiner Mutter schon immer bestellen, daß ich bald da sein werde.“

      „Verzeihung, Herr Harry, ich würde Ihnen aber sehr zu Danke verpflichtet sein, wenn Sie sich durch den Postillion anmelden ließen. Ich kann mich so nicht zeigen, ich würde bei der Dienerschaft allen Respekt verlieren!“

      „Nun“, entgegnete Harry Maylie lächelnd, „handeln Sie nach Gutdünken. Soll also der Postillion vorfahren und uns anmelden, und Sie gehen mit uns. Aber vertauschen Sie die Nachtmütze mit einer anderen Kopfbedeckung, damit man uns nicht für Verrückte hält.“

      Herr Giles riß die Nachtmütze vom Kopfe, steckte sie in die Tasche und setzte sich einen Hut auf, den er seinem Gepäck entnahm. Der Postillion fuhr nun weiter, und die drei folgten gemächlich nach.

      Als sie so dahinschritten, blickte Oliver von Zeit zu Zeit den neuen Ankömmling verstohlen an. Er war ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt und von mittlerer Größe; er hatte ein hübsches, offenes Gesicht und gewinnende Manieren. Trotz dem großen Altersunterschied war die Ähnlichkeit mit Frau Maylie so auffallend, daß Oliver mühelos die Verwandtschaft herausgefunden haben würde, hätte der junge Herr auch nicht von ihr als von seiner Mutter gesprochen.

      Diese erwartete ihn bereits mit großer Sehnsucht, und als er endlich anlangte, war sie ganz gerührt und zerfloß in Tränen.

      „Ach, Mutter“, sagte der junge Mann, „warum hast du mir nicht früher geschrieben?“

      „Ich hatte geschrieben, aber nach reiflicher Überlegung entschloß ich mich, den Brief zurückzuhalten, bis ich Herrn Losbernes Meinung gehört hätte!“

      „Aber warum? Warum ließest du es darauf ankommen, was beinahe eingetreten wäre? Wenn Rosa – wenn diese Krankheit eine andere Wendung genommen hätte, hättest du dir das je verzeihen können? Niemals im Leben wäre ich wieder froh geworden.“

      „Wenn es so gekommen wäre, wäre dein Glück für immer vernichtet worden und es von keiner Bedeutung gewesen, ob du einen Tag früher oder später gekommen wärst.“

      „Und wer kann sich darüber wundern, wenn es so wäre, Mutter? Aber was rede ich von wenn. Es ist so, du weißt es, Mutter – du mußt es wissen!“

      „Ich weiß, daß sie die innigste und reinste Liebe verdient, die ein Mann ihr bieten kann, und ich weiß auch, daß ihre zärtliche Hingebung eine nicht gewöhnliche, sondern eine tiefe und dauernde Gegenliebe fordert. Wüßte ich nicht, daß ein verändertes Benehmen desjenigen, den sie liebt, ihr Herz brechen müßte, so würde mir meine Aufgabe nicht so schwierig vorkommen.“

      „Mutter, hältst du mich denn noch immer für einen Knaben, der sich selbst nicht kennt?“

      „Ich glaube, lieber Harry, daß die Jugend viele edle Gefühle hegt, die aber häufig nicht von Dauer sind und ganz schwinden, wenn sie befriedigt sind. Und dann glaube ich, daß ein feuriger, ehrgeiziger, junger Mann, wenn er im Besitze eines Weibes ist, auf deren Namen – wenn auch ohne ihre Schuld – ein Makel haftet, eines Tages die eingegangene Verbindung bereuen dürfte, besonders wenn er eine glänzende Laufbahn erfolgreich eingeschlagen hat, und die Welt seiner Frau und ihm den Makel zum Vorwurf und Gegenstand ihres Spottes macht.“

      „Mutter, nur ein erbärmlicher Egoist könnte so handeln!“

      „So denkst du jetzt, Harry!“

      „Und werde immer so denken. Die Herzensnot, welche ich während der beiden letzten Tage erlitten habe, ringt mir das Geständnis einer Liebe ab, die, wie du

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