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Gesammelte Erzählungen. Charles Dickens
Читать онлайн.Название Gesammelte Erzählungen
Год выпуска 0
isbn 9783958555167
Автор произведения Charles Dickens
Жанр Сказки
Издательство Readbox publishing GmbH
„Dann merke es dir für ein andermal.“
„Ein Esel!“ wiederholte Herr Losberne nach einer weiteren Pause. „Selbst wenn es das richtige Haus war und die Verbrecher drin, was hätte ich als einzelner machen können? Und hätte ich auch ausreichenden Beistand gehabt, hätte es mir doch nichts genützt. Im Gegenteil, die ganze Geschichte, welche ich vertuschen wollte, wäre ans Tageslicht gekommen. Wäre mir aber ganz recht geschehen, ich bringe mich immer von einer Patsche in die andere durch mein unbeherrschtes Wesen. So hätte es nur als Warnung dienen können.“
Der treffliche Doktor hatte sein ganzes Leben lang nie anders als nach den Eingebungen des Augenblicks gehandelt. Es gereichte aber seinem Herzen, aus dem sie kamen, nicht zur Unehre, daß er sich dadurch die Liebe und Achtung aller derjenigen erwarb, die ihn kannten. Um die Wahrheit zu gestehen, er war darüber ärgerlich, daß es ihm bei dieser Gelegenheit nicht gelungen war, einen überzeugenden Beweis für die Richtigkeit von Olivers Erzählungen zu erhalten. Doch die Verstimmung währte nicht lange, und da Olivers Antworten auf seine Fragen klar und bestimmt gegeben wurden und den früheren auch nicht widersprachen, so nahm er sich vor, ihnen in Zukunft vollen Glauben zu schenken.
Da Oliver den Namen der Straße kannte, in der Herr Brownlow wohnte, so bedurfte es keiner weiteren Nachfrage. Als die Kutsche um die Ecke bog, und Oliver das Haus sah, schlug sein Herz zum Zerspringen.
„Nun, wo ist’s?“ fragte Herr Losberne.
„Dort, das weiße Gebäude“, erwiderte der Junge, hastig aus dem Fenster zeigend. „Ach, lassen Sie schnell fahren, es ist mir, als müßte ich vergehen. Ich zittere am ganzen Leibe.“
„Beruhige dich, Junge“, sagte der Doktor und klopfte Oliver beschwichtigend auf die Schultern. „Gleich bist du da, und sie werden mächtig erfreut sein, dich gesund und munter wiederzusehen.“
„Ach, das hoffe ich auch. Sie waren so gut, so furchtbar gut zu mir.“
Die Kutsche rollte weiter. Sie hielt nun. – Nein, das war nicht das rechte Haus – das nächste. Man fuhr weiter und machte abermals halt. Oliver sah aus dem Fenster, und Tränen der Freude rollten ihm über die Backen.
Aber ach, das Haus war leer. Am Fenster klebte ein Zettel mit der Aufschrift. Zu vermieten!
„Wir wollen im nächsten Haus fragen“, rief der Doktor, Oliver am Arm nehmend. – „Können Sie uns nicht sagen, was aus Herrn Brownlow geworden ist, der nebenan gewohnt hat?“
Das Dienstmädchen wußte es nicht, wollte aber fragen gehen. Sie kam schnell wieder zurück und sagte, Herr Brownlow hätte alle seine Besitzungen verkauft und wäre vor sechs Wochen nach Westindien gegangen. Oliver rang die Hände und taumelte zurück.
„Hat er seine Hausdame auch mitgenommen?“ fragte Herr Losberne nach kurzer Pause.
„Ja“, antwortete das Mädchen. „Der alte Herr, die Hausdame und ein Freund von Herrn Brownlow – alle reisten miteinander.“
„Also wieder nach Hause“, rief der Doktor dem Kutscher zu. „Die Pferde können Sie füttern, wenn wir dieses verfluchte London erst mal im Rücken haben!“
„Wollen wir nicht zu dem Buchhändler, ich kenne den Weg. Besuchen Sie ihn doch“, bat Oliver.
„Lieber Junge, wir haben heute genug Enttäuschungen erlebt“, sagte der Doktor. „Für uns beide gerade hinreichend. Wenn wir zu dem Buchhändler führen, würden wir sicher hören, er sei tot oder weggelaufen oder hätte sein Haus angezündet. Nein, nein wir fahren nach Hause.“
Dieses Mißgeschick verursachte Oliver inmitten seines Glückes vielen Kummer. Hatte es ihm doch während seiner Krankheit manche frohe Stunde bereitet, wenn er sich ausmalte, wie sich Herr Brownlow und Frau Bedwin freuen würden, ihn wiederzusehen. Auch hatte die Hoffnung, sich ihnen gegenüber rechtfertigen zu können, ihn in seinen neuen ihm auferlegten Prüfungen aufrecht erhalten. Er erlag fast dem Gedanken, daß sie so weit fortgezogen seien mit dem Glauben, er wäre ein Betrüger und Dieb – einem Glauben, den ihnen zu nehmen, er vielleicht bis zu seinem Tode nicht imstande war.
Das Benehmen seiner Wohltäter gegen ihn blieb unverändert freundlich. Als nach vierzehn Tagen schönes, warmes Wetter einzutreten begann, und Sträucher und Bäume sich in frisches Grün kleideten, traf man Anstalten, die Villa in Chertsey auf einige Monate zu verlassen. Das Silberzeug, welches die Habgier des Juden so erregt hatte, wurde der Bank in Verwahrung gegeben, und die Bewachung des Hauses Giles und einem anderen Diener anvertraut. Dann reisten die Damen aufs Land und nahmen Oliver mit.
Der neue Aufenthalt unserer Familie war ein ungemein liebliches Fleckchen Erde, und für Oliver, der bisher seine Tage fast immer in dumpfigen Räumen zugebracht hatte, schien ein neues Leben zu erblühen. Rosen und Geißblatt umrankten die Wände des Häuschens. Efeu kroch um die Stämme der Bäume, und die Blumen des Gartens erfüllten die Luft mit ihrem Duft. In der Nähe befand sich ein kleiner Gottesacker, unter dessen niedrigen Rasenhügeln die alten Leute des Dorfes ihren letzten Schlaf schliefen. Oliver machte hierher oft seinen Spaziergang, setzte sich manchmal, wenn er des ärmlichen Grabes seiner Mutter gedachte, an einem der Hügel nieder und schaffte seinem Herzen durch Tränen Erleichterung.
Es war eine glückliche Zeit. Froh und heiter entschwanden ihm die Tage, und die Nächte brachten ihm nur freundliche Träume. Alle Morgen besuchte er einen in der Nähe der kleinen Kirche wohnenden alten Herrn im Silberhaar, der ihn besser lesen und schreiben lehrte und sich so große Mühe mit ihm gab, daß Oliver alles aufbot, um ihm recht viel Freude zu machen. Dann ging er mit Frau Maylie oder Rosa spazieren, oder saß neben ihnen im Garten und hörte aufmerksam zu, wenn die junge Dame vorlas. Nachher hatte er für den nächsten Tag seine Aufgaben zu lernen, mit denen er in einem kleinen Gartenzimmer eifrig beschäftigt war, bis der Abend herankam, und die Damen ihn abermals auf ihre Spaziergänge mitnahmen. Wenn es ganz dunkel geworden war, und sie nach Hause zurückkehrten, setzte sich Rosa gewöhnlich ans Klavier und spielte irgendeine sanfte Weise oder sang mit lieblicher Stimme ein altes Lied, das die Tante zu hören wünschte.
Wenn dann erst der Sonntag kam – wie ganz anders wurde der zugebracht, als er ihn bisher zu verleben gewohnt war. Morgens war er in der Kirche, wo die grünen Blätter um die Fenster rankten. Dann kamen wieder Spaziergänge, und abends las Oliver einige Kapitel aus der Bibel.
Morgens ganz früh war Oliver auf den Beinen, streifte durch die Wiesen und Felder und brachte mächtige Sträuße wildwachsender Blumen nach Hause. Er schmückte damit den Frühstückstisch.
So entschwanden drei Monate, die für Oliver wahre Tage der Seligkeit waren.
Dreiunddreißigstes Kapitel
In dem das Glück Olivers und seiner Freunde plötzlich einen argen Stoß erleidet
Der Frühling ging schnell dahin, und der Sommer kam. Das ruhige Leben in dem kleinen Häuschen ging unverändert fort, und Frohsinn und Heiterkeit herrschten dort.
Oliver war schon lange gesund und kräftig geworden, aber er blieb stets der sanfte, stille, liebevolle Junge, der er in den Tagen war, als er noch der Pflege und Wartung bedurfte.
An einem schönen Sommerabend hatten die Damen einen ungewöhnlich langen Spaziergang gemacht, denn der Tag war sehr heiß gewesen, und der Abendwind hatte etwas Kühlung gebracht. Da man im heiteren Gespräch den Ausflug länger als sonst ausgedehnt hatte, fühlte sich Frau Maylie ziemlich ermüdet, und man kehrte nun langsam nach Hause zurück. Rosa nahm ihren Strohhut ab, setzte sich wie gewöhnlich ans Klavier, und nach einem langen Vorspiel ging sie in eine gehaltene, feierliche Melodie über, während deren man sie auf einmal laut schluchzen hörte.
„Was ist dir, liebes Kind?“ fragte Frau Maylie.
Rosa erwiderte nichts, sondern spielte etwas schneller, als ob die Frage sie aus einem schmerzlichen Gedankengang geweckt hätte.
„Rosa, Liebling!“ rief die alte Dame und eilte zu dem jungen Mädchen, sie umarmend, „was ist mit dir? In Tränen gebadet? Was drückt dich?“
„Nichts,