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Meine irdischen und himmlischen Wege. Manfred Höhne
Читать онлайн.Название Meine irdischen und himmlischen Wege
Год выпуска 0
isbn 9783749781386
Автор произведения Manfred Höhne
Жанр Контркультура
Издательство Readbox publishing GmbH
Als das Trompetensolo verklang, sprach die Pastorin einen letzten Segen und die Trauergäste verabschiedeten sich von dem Toten, wie es bei einem christlichen Begräbnis üblich ist. Zuerst die Witwe, die Kinder, Anna-Maria, die Vertrauten und Freunde. Albrecht war der erste, der der Familie folgte, dann Hanna und Hausmann. Gunther hatte seinem Sohn in einem verschlossenen Brief schon zu Lebzeiten gebeten, Anna-Maria an das Grab zu begleiten. Und dies erwies sich als richtig und notwendig. Als sie die Erde eingestreut hatte, glitt ihr die Rose, die ihr Abschied sein sollte, aus der Hand und sie sank in einer plötzlichen Ohnmacht in die Arme ihres erschrockenen Vaters.
Es war aber nur eine kurze Blutleere im Kopf, denn sie konnte, auf den Arm ihres Vaters gestützt, das Defilee der Trauergäste mit ihren Eltern und der Familie des Verstorbenen entgegennehmen.
Sie hatte sich schnell erholt. So konnte ich hinter sie treten und ihr ins Ohr flüstern: „Lass mich nun los, ich muss jetzt dem Licht folgen. Ganz sicher werde ich bald wieder bei euch sein als euer Schutzengel und über euch wachen.“
Sie musste es verstanden haben, denn sie hob ihre nach vorn gesunkenen Schultern und den Kopf, wie um zu zeigen, dass sie sich meiner Bitte nun stellen wollte.
Da lösten sich meine Füße zunehmend vom Boden und ich konnte über den Reihen der Trauernden schweben und ich sah klarer, was diese Trauergemeinde verband und unterschied: Konvention, Respekt, Neugier und echte Trauer.
Der Trompetensolist war noch einmal hervorgetreten und hatte den ‚Zapfenstreich‘ angestimmt, den sich Gunther schon zu Lebzeiten für diese Stunde gewünscht hatte; den der Solist mit unterschiedlicher Lautstärke so lange spielte, bis der letzte der Trauergäste sich von dem Verstorbenen verabschiedet und der Familie kondoliert hatte.
Die Gäste, die eine Einladung zum Trauermal erhalten hatten, strebten dem Schloss zu, die übrigen den Parkplätzen.
Anna-Maria, am Arm ihres Vaters, war noch einmal an das Grab getreten, um dort eine kurze Zeit zu verweilen. Ich hatte den für unser Leben schicksalhaften und alles bestimmenden Eindruck, als ob sie noch einmal den Kontakt zu mir suche.
Ich aber hob mich schwebend und folgte, ohne mich umzuwenden, dem Licht, dem ich schon einmal gefolgt war. Dem Licht, das so viel intensiver war, als das Licht aller Sonnen und dennoch so mild und so verheißend.
Ein großes Licht wird sein, und alles, was hier schön ist, wird dort nichts sein. Unsre Augen werden glänzen wie fein Silber, unser Leib wird leicht wie Flaum dem Licht und dem Willen folgen.
Martin Luther
Kap 3
Die Straße war unendlich lang. Sie führte schnurgerade zum Horizont und sicher darüber hinaus. Das Licht, das mich wie ein Sog hierher geführt hatte, war zu einer riesigen untergehenden Sonne zusammengezogen, die zu einem Drittel unter dem Horizont stand. Wohl hunderttausende, wie ich von der Erde Abberufene, strebten auf dem Weg diesem Lichtball entgegen, ohne sich umzudrehen oder nur zurück zu blicken. Es gab kein Zurück mehr, nur ein Voran in eine unbekannte und ungewisse Zukunft.
Wir liefen zu fünft oder dritt, eine feste Ordnung gab es nicht. Rechts neben mir liefen ein Mann und eine Frau, die ich beide kannte, aber nicht einzuordnen wusste. Die Frau, mir am nächsten, hatte ein fürchterliches Gesicht und eine Nase, die allein schon dafür gesorgt habe mochte, dass sie unverheiratet blieb. Ich war ihr schon wiederholt begegnet, aber es gelang mir nicht, einen Bezug zu ihrem Beruf oder zu einer Aufgabe herzustellen. Ebenso erging es mir mit dem Mann neben ihr.
Vor uns liefen zwei Männer, die nur mit einem Lendenschurz bekleidet waren und grobe Leinentüchern über ihren Schultern trugen. Ihre Arme und Beine zeigten von geronnenem Blut überkrustete Wunden, die auf eine brutale Gewalteinwirkungen schließen ließen. Sie erinnerten mich an ein Bild von Golgatha, an die Schächer neben dem Gekreuzigten. Aber was hatten beide, wenn sie es denn waren, hier zu suchen? Lag doch ihr Tod am Kreuz 2000 Jahre vor dem meinen. Und hatte Jesus Christus ihnen nicht zugesagt: „Heute noch werdet ihr mit mir im Paradiese sein.“ Gab es da eine himmlische Bürokratie, die das Wort des Sohnes Gottes in Zweifel ziehen durfte?
Was sollten wir überhaupt hier tun auf diesem langen Weg? Selbstprüfung? Aber mit welchem Ziel und nach welchem Maßstab?
Es war mir nicht gegeben zu erkennen, was jeder einzelne dieser Tausenden, die hier auf dem Weg waren, für einen Auftrag auf den Schultern trug. Sollten wir alle nur über unser Leben nachdenken, um zu einem eigenen kritischen, von Selbstgerechtigkeit freien Urteil zu kommen? Oder hatte jeder einen anderen, konkreten Auftrag der Selbstbefragung?
Ich spürte, dass solche Fragen immer noch menschlicher Logik folgten. Aber ich war es über 80 Jahre meines Lebens eben gewohnt, in meinem moralisch determinierten und durch die gesellschaftlichen Verhältnisse dreier politischer Verhältnisse bestimmten Leben, klaren Vorgaben folgen zu müssen. Ob ich ihnen folgte, war immer meine Sache; wo ich faule Kompromisse einging, habe ich mich jahrzehntelang selbst kasteit.
Bräuchte man zu einer Selbstprüfung nicht kritische Fähigkeiten? Was war mit den Menschen, denen es a priori an diesen durch einen geistigen Defekt mangelte und ihnen gar nicht möglich war, solche zu entfalten? Oder solchen, denen es nicht an der Fähigkeit, aber an der Bereitschaft dazu fehlte? Was war mit denen, deren geistiger Mangel sie vom Wissen um den Wertecanon ihrer Kultur und dem Katechismus ihrer Religion ferngehalten hatte? Oder gar mit denen, die eine Vergebung der Sünden durch Reue in ihrer Religion überhaupt nicht kannten, die einmal ausschließlich nach ihren Taten beurteilt werden sollten?
Durch die gleiche Instanz, der ich glaubte auf diesem Wege zu zustreben oder eine andere moralische Autorität?
Oder - und das war eine der makabersten Fragen, die ich mir stellte - was war mit den Tausenden, die sich schon beim Bau des Petersdomes in Rom den Erlass ihrer Sünden durch ‚Ablass‘ der katholischen ‚Etzel‘ gesichert hatten?
Ich merkte, dass ich wieder bei den Fragen meiner Religion war, die ich nie richtig verstanden hatte.
Aber ich sollte wohl nicht so viel fragen, sondern eher mich befragen. Doch es gelingt mir kein Einstieg.
Was ist mit denen, die als Kind von den Eltern zur Taufe getragen und so zu Christen wurden und denen, die sich erst im späten Leben hatten taufen lassen oder nie? Und was mit denen, die aus Abscheu vor der Unzucht der weltlichen Kirche, der christlichen Gemeinschaft den Rücken gekehrt haben?
Ist solch eine einseitige Entscheidung der Abkehr nach der Taufe überhaupt möglich? Alle diese Fragen sind von den großen Kirchen wohl schon beantwortet, von jeder etwas anders oder gänzlich verschieden, je nach ihrem Gusto.
Ich habe alle diese Vorstellungen, Auslegungen und Rechtfertigungen gelesen. Jetzt wo ich sie prüfen möchte, mit der Wirklichkeit vergleichen könnte, - von der ich nun etwas erfahren werde, das ist mir Gewissheit -, ist mir die Erinnerung gerade an dieses angelesene Wissen verlustig gegangen. Ich habe mich mit so viel unnützem Wissen vollgestopft; jetzt wird mir bewusst, was parat zu haben, wichtig wäre.
Es gelingt mir nicht, in die großen und kleinen Sünden der Kindheit, ,in die Notlügen‘ bei selbst verschuldeten Verspätungen, vergessenen Terminen, unterlassenen Anrufen zu Geburtstagen der Freunde, Unfreundlichkeiten an der Kaufhauskasse, die immer drängelnde Ungeduld in ungeliebten Wartesituationen, erinnernd und vielleicht reuend einzutauchen. Auch in die vielen erkennbaren Sünden der Mitte des Lebens, des Lebenskampfes, der Behauptung gegen eine Welt gänzlich anderer Interessen, vorzudringen und sie mir kritisch bewusst zu machen, gelingt mir nicht.
Mein Denken verengt sich immer wieder auf den letzten Abschnitt meines Lebens, auf das wunderbare Domizil, in dem ich Anna-Maria, Mercedes des ersten Mal begegnet bin. Ich gewinne die Überzeugung, dass es mein Schicksal wohl sein soll, nicht selbstquälerisch und endlich doch vergeblich, nach lange Vergessenem zu suchen, sondern allein den Gedanken zu folgen, die sich mir aufdrängen.
Kap 4
Gunther-Hagen legte den Griffel beiseite und ordnete die vier beschriebenen Seiten in das Manuskript seines neuen Buches.