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      Heute bedankte er sich dafür mit eigenen Kompositionen in G-Dur und H-Moll, deren Akkorde und Kadenzen er über die beiden eingebauten Verstärker, hinter dem Altar und auf der Empore, zu einem Raumtonerlebnis zusammenführte und in den Raum und die Doppelkapelle hineinjagte, sich förmlich überschlagend, in den tiefen und hohen Tönen. Die ehrwürdige Orgel hatte nur ein Manual und ein Pedal mit 34 Tönen, aber sie hatte mit einer wundervollen Stimme die Jahrhunderte überdauert.

      Das war die offizielle Version, denn die Instandsetzung war mehr ein Nachbau der mittelalterlichen Orgel, der erst vor zwei Jahren von Seiffert, dem Schüler des Meisters Winold van der Putten erfolgt war.

      Albrecht irritierte die jagende Fülle; er liebte die leisen Töne. Vor allem aber hatte er den Patron geliebt, verehrt und geachtet, obwohl er erst vor fünf Jahren in seine Dienste getreten war. Seine Frau Hanna aber war offensichtlich berauscht von der Musik und ich sah, wie gebannt sie sich den Orgelklängen hingab.

      Zwischen beiden saß Anna-Maria in einem schwarzen Kleid und einem ebensolchen Hut, mehr einer Kappe, die leicht nach vorn gesetzt, wie die Kappe einer Stewardess aussah, und mit einem kleinen Schleier aus schwarzem Tüll über den Augen abschloss. Sie wirkte in dieser Bekleidung der Trauer auf mich seltsam fremd, so erwachsen und doch so tief vertraut.

      In der ersten Reihe hatte die Familie Platz genommen. Lothar, Almuths Sohn aus erster Ehe mit Ning und Mila, die Witwe, Bertram und Susanne. Ivette war auf den Malediven und hatte eine Kondolenz geschickt. Auf der anderen Seite des schmalen Ganges saßen Maibrit, Gunnar und Sören. Neben ihnen der pensionierte Pfarrer Giese von Sankt Marien, der die Kapelle nach ihrer Renovierung und dem Einbau der Glasfenster wieder geweiht und auch die Taufe von Mila hier vollzogen hatte.

      In der zweiten Reihe, neben Albrecht, Anna-Maria und Hanna saß der alte Arzt der Familie Dr. Haussmann in seinem Gehrock, den er nur zu besonderen Anlässen trug. In den weiteren Bänken dahinter, immer zu viert oder fünft, wie es der Platz hergab, der Landrat, die Bürgermeister von Kranichfeld und Hohenfelden, die beiden Vorsitzenden des Landesverbandes Sachsen - Anhalt - Thüringen der Johanniter und des Regionalverbandes ‚Mittel Thüringen’ und einige Männer, die ich nicht kannte. Sie kamen wohl von der Bundesvermögensverwaltung, dem Bundes- schatzamt und dem Kanzleramt.

      Oben auf den Plätzen der Empore ging es noch enger zu: der Kreisjägermeister mit seinen Vertretern, der ‚Heimatverein‘, der ‚Wandertag‘, die Vorstände der Angler und des Turnerbundes.

      Sie alle hatten sich der steten Zuwendung des Verstorbenen sicher sein dürfen, wenn der finanzielle Schuh irgendwo drückte und fast alle diese Vereine hatten den Reichsgrafen Gunther Hagen von Grainau-Solms zu ihrem Ehrenmitglied ernannt oder ehrenhalber in ihre Präsidien aufgenommen.

      Albrecht hatte die geladenen Gäste nach ihrem Defilee am Sarg des Verstorbenen in der ihm aufgetragenen Reihenfolge auf die beiden Kapellen, den Altarraum und die Empore, verteilt und die Fülle der Blumen so um den schlichten Sarg gehäuft, dass man eben noch daran vorbeigehen konnte.

      Anna-Maria war die einzige unter den Trauergästen, die am Sarg des Verstorbenen niederkniete. Es war ihre ganz eigene Art immer niederzuknien, wenn ihr etwas besonders nahe ging und wichtig schien.

      Zwischen dem am Altar aufgebarten Sarg und der ersten Bankreihe, gegenüber der Kanzel war das Trio mehr eingeklemmt als platziert; eine Violine ein Bass und eine Harfe. Besonders die zarte Frau an der Harfe hatte - auch mit zwei Soli aus ‚Time for Harp‘ der Ulla van Daelen - eine außergewöhnliche Feierlichkeit in den Raum gebracht, die über den angesagten Anlass der Besinnung hinausging. Besonders ihre Kunst des Flageoletts und der enharmonischen Verwechslung, sowie das abschließende Arpeggio unterstrichen diese Wirkung einer besonderen Feierlichkeit.

      Mich irritierte befremdlich, dass mich wohl die ganze Atmosphäre berührte, nicht aber der hölzerne Sarg unter der Last seiner Blumen.

      Die unvermeidlichen Reden bei einer protestantischen Beerdigung eröffnete nach alter Familientradition Bertram, der seinen Vater schilderte, als einen Menschen, dem seine Kinder über alles gingen. Er nannte ihn einen engagierten Architekten und einen dem sozialen Engagement tief verpflichteten Menschen. Die kleine mollige Pastorin, die Nachfolgerin von Pastor Giese, übernahm dann in ihrem theologischen Part das Wort der Vorbereitung auf das Seelenheil des Verstorbenen, wobei sie sein besonderes Schöpferbild in den Mittelpunkt stellte. „Aber ", so sagte sie „er ist als evangelischer Christ geboren, getauft und gestorben im christlichen Glauben seiner Väter.“

      Kein heroisierendes ‚‘Gesafte‘, keine faulen familiären Lügen! Sie sprach von der Frömmigkeit. Sie nannte den Verstorbenen ‚ ‚tief religiös‘, aber nicht im Sinne einer der etablierten Weltkirchen mit ihren eigenen oft kontroversen Maßstäben von Frömmigkeit. Sie sagte, „ der Tote habe nie auf Altären einem Gott geopfert, nie in der Erfüllung der von Menschen erfundenen Rituale einen Akt der Frömmigkeit gesehen. Sondern er habe versucht, eine zu leben, die den Katechismus der Gebote und Dienste sprengte, und er war bemüht, sich an einem Gewissen auszurichten, von dem er glaubte, das es eingeht in eine geistig-moralische Konzeption des Menschseins.“

       Wer der Pastorin das wohl gesagt haben mochte?

      Das konnte nur Anna-Maria gewesen sein. Es wurde aber heute in diesem Kreis mit großer Aufmerksamkeit aufgenommen. Dabei kannte ich den Verstorbenen wohl am besten, Anna-Maria vielleicht ausgenommen. Seine Stärken und Schwächen, seine Gefühle, seinen wachen Verstand und seinen Unverstand, wenn ihm menschliche Schwäche begegnete. Seinen beharrlichen Willen und dessen unvermittelte Aufgabe, wenn er mit Bitten und Wünschen konfrontiert war. Ein starker Charakter, aber zu schwach, wenn die Durchsetzung seines Willens Skrupellosigkeit und Härte erforderten. Er wäre nie ein Usurpator geworden!

      Ich habe das Bedürfnis, Anna-Maria auf den Nacken zu küssen, doch die Enge des Raumes ließ dies nicht zu. Aber sie spürte es wohl, denn sie fasste mit beiden Händen nach ihrem Nacken und drehte den Kopf zur Seite, wie immer, wenn sie dieses Gefühl festhalten wollte.

      Noch einmal spielte das Trio, und der Organist von Sankt Marien ließ mit einer beeindruckenden Virtuosität die kleine Orgel die Feierstunde beenden.

      Die junge Pastorin gab den Herren, die an der Innentür der Kapelle standen, das Zeichen, um ihr Werk zu beginnen. Sie öffneten die Tür zum ersten Innenhof der Burg und vier Männer der Johanniter trugen den Sarg vom Altar durch den Gang zwischen den Bankreihen hinaus.

      Hinter dem Sarg reihten sich die Männer und Frauen, so, wie ihnen die Plätze im Raum zugewiesen waren. Bertram und Lothar hatten die Witwe und Anna-Maria in die Mitte genommen, ihnen folgten die Frauen, die Vertrauten und die Ehrengäste.

      Als der Sarg an mir vorüber getragen wurde, spürte ich noch einmal, dass mich nichts mehr mit dem Leichnam in dem Sarg verband. Das berührte mich zu tiefst, umso mehr, wie mir die Zwiespältigkeit der Zusammengehörigkeit von Leib und Seele bewusst wurde.

      War dies schon das neue Denken, das mich erwartete und an dessen Schwelle ich stand? Dies beunruhigte mich, vor allem, da dieses ganze Aufgebot hier mit seinen Reden, seiner Musik, seinen Blumen und vereinzelten Tränen doch allein mir galt und mich selbst betraf.

      Es war, als wenn meine Seele ohne Gesellschaft des Körpers dachte; sie sah den Körper selbst als ein ihr fremdes Wesen an, wie etwa man ein Kleid ansieht

      Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre

      Jede Seele ist bewegt und unsterblich

      ( Sokrates ) Platon,Phädros 51

      Kap 2

      Der lange Trauerzug bewegte sich durch das Burgtor, über die Brücke bis zu dem kleinen Familienfriedhof am Anfang unseres Waldes. Das Grab war neben dem von Mathilde, der Reichsgräfin von Grainau-Solms und dem Erinnerungskreuz mit den Urnen von Graf Thilo, seiner Frau und den beiden Kindern, ausgehoben. Ein mannshoher Engel aus schwarzem Marmor, den Graf Gunther schon zu Lebzeiten erworben und hatte aufstellen lassen, sollte über seinem Grab wachen.

      Die Träger stellten den Sarg auf einen Halt über dem ausgehobenen Grab und die Trauergäste nahmen davor in einem weiten Halbrund Aufstellung.

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