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davon; sie liefen zu Fuß aus allen Städten dorthin und kamen noch vor ihnen an. Als er ausstieg und die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen; denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben.“

      Und schon war ich in meinen Gedanken an einem einsamen Ort. Wie es dort wohl ausgesehen haben mag? Am anderen Ufer des Sees erstreckte sich eine weite Steinwüste. Im Schatten einiger großer Felsen wuchsen ein paar einsame dürre Büsche. Ein Schaf hatte sich verlaufen und knabberte gierig an den Blättern. Ich kniff die Augen vor dem gleißenden Sonnenlicht zusammen und sah noch weitere Schafe, die herbei getrottet kamen, um im Schatten der Steine vor der Sonne Schutz zu suchen. Das knabbernde Schaf hielt inne und blickte die anderen Schafe freundlich an. Ich musste lachen. Da waren sie, die Schafe, von denen Tante Maria gesprochen hatte.

      „Mäh“ sagte ich leise, doch meine Tante schien mich nicht zu hören. Sie war in den Text vertieft und las laut vor:

       „Und er lehrte sie lange. Gegen Abend kamen seine Jünger zu ihm und sagten: Der Ort ist abgelegen und es ist schon spät.“

      „Oh jeee“, stellte ich fest. Ich konnte mit diesen hungrigen Menschenschafen mitfühlen. Sie waren, ohne zu denken, Jesus nachgelaufen. Und jetzt wurde es dunkel und sie bekamen Hunger. Mein eigener Bauch fing an zu knurren. Wenn ich hungrig war, wurde ich grantig. Vielleicht waren diese Menschen ja Hunger gewöhnt, aber mit leerem Bauch konnte man nicht denken, das wusste ich.

      „Oh je“, seufzte ich noch einmal. „Das ist ein Problem.“

      „Genau“, nickte Tante Maria.

      „Lies du weiter“, forderte sie mich auf. Ich zog das Buch zu mir herüber:

      „Schick sie weg, damit sie in die umliegenden Gehöfte und Dörfer gehen und sich etwas zu essen kaufen können. Er erwiderte: Gebt ihr ihnen zu essen!“ Ich blickte auf. „Na, das ist aber gar nicht nett von Jesus. Die Jünger hoffen, dass Jesus etwas macht. Sie erwarten ja richtiggehend ein Wunder. Und was macht er? Woher sollen denn die Jünger etwas zum Essen nehmen?“

      Tante Maria grinste.

      „Jesus spielt den Ball zurück“, schmunzelte sie. „Nicht er, sondern die Jünger sollen selbst etwas tun. Sie sollen Verantwortung übernehmen.“

      Verantwortung. So hatte ich das noch nie gesehen. Bis jetzt hatte ich mir Jesus eher als einen Wunderzauberer vorgestellt. Wenn ein wirkliches Problem auftauchte, dann konnte er Wunder wirken. Aber Tante Maria hatte mir in diesem Moment eine ganz andere Sicht eröffnet. Jesus sprach davon, Verantwortung zu übernehmen. Galt das auch für uns? Und wenn ja, wie sollte das gehen?

      Ich las weiter:

      „Sie sagten zu ihm: Sollen wir weggehen, für zweihundert Denare Brot kaufen und es ihnen geben, damit sie zu essen haben?“ Ich frage mich, ob die Jünger damals überhaupt so viel Geld gehabt hätten, um für alle Menschen Essen zu kaufen. Sie waren arme Wanderprediger. Ich denke, sie waren genauso ratlos, wie ich mich in diesem Moment fühlte.

      „Die Jünger wissen eigentlich nicht genau, was sie tun sollen…“, begann ich vorsichtig.

      „Richtig“, bestätigte Tante Maria, „aber Jesus hilft ihnen auf die Sprünge. Jetzt kommt dieser Dreischritt ins Spiel: Sehen. Urteilen. Handeln. Pass gut auf!“ Und sie las weiter:

       „Er sagte zu ihnen: Wie viele Brote habt ihr? Geht und seht nach!“

      „Sehen!“, rief ich begeistert. Tante Maria nickte.

       „Sie sahen nach und berichteten: Fünf Brote und außerdem zwei Fische.“

      „Urteilen?“, fragte ich zögerlich.

      „Ja“, bestätigte Tante Maria, „sie schauen genau nach. Manchmal muss man sich ein realistisches und vor allem genaues Bild von der Situation machen.“ Ich nickte andächtig. Das schien mir sehr wichtig. Damals ahnte ich noch nicht, dass die Auseinandersetzung mit der Realität einen anderen Menschen aus mir machen würde.

      „Dann befahl er ihnen, den Leuten zu sagen, sie sollten sich in Gruppen ins grüne Gras setzen“, las Tante Maria weiter.

      „Handeln“, stellte ich trocken fest.

      „Und Jesus erklärt sogar wie“, führte sie weiter aus, „nämlich durch Selbstorganisation. Das erklärt seinen Befehl an die Menge, sich in Gruppen zu organisieren. Und sie setzten sich in Gruppen zu hundert und zu fünfzig.“

      Jetzt hatte ich verstanden. Ich war fasziniert. Ich freute mich. Sie handeln, sie tun etwas und dann … dann kann Gott wirken. So einfach war das. Ich las den Schluss des Textes laut vor, während meine Stimme selbstsicher in der Kirche widerhallte:

       „Darauf nahm er die fünf Brote und die zwei Fische, blickte zum Himmel auf, sprach den Lobpreis brach die Brote und gab sie den Jüngern, damit sie sie an die Leute austeilten. Auch die zwei Fische ließ er unter allen verteilen. Und alle aßen und wurden satt. Als die Jünger die Reste der Brote und auch der Fische einsammelten, wurden zwölf Körbe voll. Es waren fünftausend Männer, die von den Broten gegessen hatten.“

      Als mir Tante Maria damals die Geschichte von der Brotvermehrung erklärte, spürte ich, dass da mehr war. Ich wusste nun, warum man die Bibel Heilige Schrift nannte. Sie war kein simples Buch, das Geschichten von Gott erzählte, sondern die Bibel war ein Buch, das eine ganz eigene Weisheit offenbarte, wenn man es genauer las. Es waren nicht einfach nur Geschichten über Gott und die Menschen, sondern es war Leben in seiner ganzen Tiefe.

      Später erinnerte ich mich noch oft an dieses Erlebnis und verstand, dass dieser Zauber von der Bibel selbst ausging. Damals war ich einfach nur fasziniert und schrieb all diese Weisheit Tante Maria zu. Wie man sich nur so schnell nebenbei Gedanken über die Bibel und ihre Wunder machen konnte, staunte ich. In meiner Phantasie sah ich Tante Maria auf der Kanzel stehen und dem staunenden Volk die Bibel auslegen.

      „Sag mal Tante, wärst du gerne Priesterin geworden?“, fragte ich sie spontan. „Dann könntest d u heute die Messe feiern. Deine Predigt wäre sicher sehr interessant. Jesus hätte das sicher gefallen.“ Ob sie denn nie Lust dazu gehabt hätte, löcherte ich sie weiter mit meinen Fragen. Zu meinem Erstaunen war sie sichtlich emotional bewegt und nahm das Thema überhaupt nicht auf die leichte Schulter.

      „Na, ja weißt du Babette“, seufzte sie und wischte sich mit ihrem bunten Ärmel über die Augen. „Ich hätte wohl so vieles gerne gemacht, aber das Leben kommt manchmal anders. Ich bin eben eine Frau und da hat man andere Aufgaben in der Gesellschaft. Man kann nicht immer das machen, was man möchte.“

      Ich verstand sie damals nicht. Ich fand, meine Tante wäre die perfekte Pfarrerin geworden. In meinen Augen war sie philosophisch, spirituell und vor allem auch praktisch veranlagt. Und: sie verstand etwas von der Bibel. Ich beschloss mit meiner Fragerei nicht so schnell aufzugeben.

      „Was gefällt dir denn so an der Kirche?“ fragte ich weiter und schon begannen ihre Augen zu funkeln.

      „Ich bin immer schon gerne in die Kirche gegangen“, erklärte sie mir. „Besonders in die Messe. Das habe ich von meiner Großmutter gelernt. Als ich ein Kind war, gingen wir noch jeden Tag zur Frühmesse. Das gab mir Kraft. Es ist überhaupt so, dass mir der Glaube auch in schwierigen Situationen weitergeholfen hat. Damals, als wir im Krieg ausgebombt worden sind oder als mein Verlobter gestorben ist. Das war sehr schlimm. Aber ich habe immer gewusst, da ist noch jemand, der mich trägt: Gott.“

      Tante Maria lächelte und blickte gedankenverloren in den Kirchenraum, der inzwischen dunkel geworden war.

      „Komm gehen wir heim“, sagte sie und nahm meine Hand. Schweigend marschierten wir nach Hause, während die Dämmerung einen kühlen Wind mit sich brachte. Nicht nur Tante Maria, sondern auch ich hing meinen Gedanken nach. Wie selbstsicher sie war, wenn sie von ihrem Glauben erzählte und wie begeistert sie für die Bibel oder Liturgie sein konnte. Doch wie anders verhielt sie sich, wenn ein offizieller Kirchenvertreter nahte. Dann verfiel sie ihm gegenüber in eine devote Haltung. Wenn sie unseren Pfarrer auch nur aus

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