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      „Grüß Gott, Herr Pfarrer. Na, waren wir zum Frühstück bei Frau Müller? Wie geht es ihr denn, ich habe gehört, sie muss demnächst eine größere Operation machen…“ Und dann ging das Gespräch über die Leiden der Schäfchen und über die knapp bemessene Zeit, die der Herr Pfarrer zwischen all den Bedürfnissen, die an ihn herangetragen wurden, aufteilen musste. Das Begräbnis vom Herrn Lutz sei wirklich wunderschön gewesen, bestätigte dann Tante Maria und die Predigt sei eines Toten würdig gewesen.

      Ich war irritiert. Meine Tante sparte nicht unbedingt mit Kritik am Pfarrer, aber wenn sie dann in seiner Nähe stand, schien alles vergessen und sie sonnte sich in seiner Aura der Heiligkeit, die sie sich selbst aufgebaut hatte. Der Pfarrer nickte verständnisvoll, genoss die lobenden Worte und beeilte sich dann zu sagen, dass er weiter müsse, da er noch ein Taufgespräch hätte und über die morgige Predigt nachdenken müsse. Aber er würde gerne wieder einmal zum Essen kommen.

      Ich musste grinsen. Tante Maria liebte und verwöhnte ihren Pfarrer.

      Verwöhnen? Das konnte Jesus wohl nicht gemeint haben, als er damals die Jünger motivierte Verantwortung zu übernehmen. Was wollte uns der Jesus von damals mitteilen? Sollten wir, so wie die Jünger, Verantwortung für seine Kirche übernehmen?

      Ich auch?

      bunte wolken

      Meine Kirchengeschichte mit Tante Maria lehrte mich Selbst- und Gottvertrauen. Denn durch sie wurde mir irgendwann klar, dass meine Kleinmädchenvorstellungen keine Phantasiegeschichten, sondern Transzendenzerfahrungen waren.

      „Die Grenze zwischen Transzendenz und Phantasie ist fließend“, sagte Tante Maria eines Tages und obwohl ich die Worte nicht verstand, wusste ich, dass das die Erklärung war, nach der ich gesucht hatte.

      „Wie sollen wir Gottes Gegenwart und das, was nicht in Worte fassbar ist, ausdrücken, wenn nicht in Kreativität, Phantasie, Musik oder jeder Form von Kunst“, philosophierte sie weiter. „Welche Worte oder Bilder gibt es für jenseitige Erfahrungen? Wie können wir eine große Liebe, die über diese Welt hinausgeht und die Unsterblichkeit hinterlässt, sonst ausdrücken, wenn nicht in Religion?“

      Wenn meine Tante so redete war sie ruhig, gelassen und strahlte die ihr typische Selbstsicherheit aus. Sie unterschied im Übrigen sehr klar zwischen psychischen Krankheiten wie schizophrenen Anfälle oder Wahnvorstellungen, die Menschen nichts Gutes brachten und der Transzendenz, die sich in dieser Welt Ausdruck zu verschaffen suchte. Ich überlegte, ob ich ihr vom Rhinozeros meiner Kindheit erzählen sollte, aber unterließ es dann doch. Was wäre wenn meine Geschichte doch keine Bedeutung hätte? Wenn das schreckliche Tier und die Muttergottes kein wirkliches Erlebnis, sondern pure Einbildung gewesen wären? Dann hätte ich diese Erfahrung, die mir so wichtig war, für immer verloren.

      Und doch motivierten mich die Aussagen meiner Tante die Welt genauer zu beobachten und zu spüren. Ich versuchte zwischen Wirklichkeit und Phantasie zu unterscheiden und orientierte mich dabei an Tante Maria, da diese offenbar genau wusste was Gott, was Realität oder was Illusion war. Es war, als ob sie eine Wolke der Ehrfurcht umgab, die sie schützte und stärkte.

      Ich nahm mir fest vor, dass ich, wenn ich einmal groß wäre, auch so eine Wolke um mich haben würde. Diese Wolke wäre wie feiner Wasserdampf und würde, je nach Stimmung, die Farbe wechseln. Ich wusste auch genau, was die Farben bedeuteten. Die grüne oder gelbe Wolke zeigte mir, dass ich glücklich war und sie würde sich rot färben, wenn ich wütend wäre. Eine blaue Wolke würde bedeuten, dass ich meine Ruhe haben wolle und feurig orange-lila hieße, dass es mir schlecht ginge und ich getröstet werden wolle. Emotionale Kommunikation ohne Missverständnisse. So einfach stellte ich mir das vor.

      Mit der Zeit gelang mir das. Ich begann bei meiner Tante Farben zu sehen. Wenn ihre Wolke grün war, dann kuschelte ich mich ganz nah an sie heran, um möglichst viel von ihrer Freude mitzunehmen. Wenn sie rot umwölkt war, dann suchte ich lieber das Weite. Wenn allerdings das Rot in Orange wechselte, dann blieb ich, weil ich wusste, dass sie eigentlich traurig war.

      Ich perfektionierte dieses kindliche Spiel. Eigentlich sah ich diese Farben gar nicht. Ich spürte sie. Und: Ich spürte diese Farben nicht nur bei Tante Maria, sondern auch bei anderen Menschen. Ich fühlte, wie es diesen Menschen ging, ob sie glücklich oder unglücklich waren und begann Gefühle in Farben zu packen. Die Farben halfen mir, mich richtig zu verhalten. Das kam mir auch bald bei meinen Eltern zu Gute. Ich sah sofort, wenn mein Vater drauf und dran war wütend zu werden und suchte das Weite. Ich spürte, wenn es meiner Mutter schlecht ging und war ganz still in ihrer Nähe.

      Bald merkte ich, dass ich so viel leichter lebte. Wenn jemand etwas brauchte, konnte ich sofort helfen, oder zumindest Verständnis zeigen. Das war anstrengend, aber es war gleichzeitig eine wunderbare Erfahrung. Ich fühlte mich sicher und als ein nützliches Mitglied der Gesellschaft, ja mehr noch, quasi unersetzlich, denn, wenn ich in der Nähe war, dann lief für meine Mitmenschen alles leichter ab, denn ich wusste, was sie brauchten. Was ich nicht merkte war, dass es genau die Rolle war, die sich mein patriarchaler Vater für eine Frau wünschte: Unsichtbar und dienend da zu sein, wie ein Engel, um dem Patriarchen das Leben zu erleichtern.

      Irgendwann hatte ich erreicht, dass meine Eltern gar nicht mehr merkten, ob ich in der Nähe war oder nicht. Ich konnte mich praktisch unsichtbar machen. Ich konnte zaubern. Ich konnte mich in eine angenehme Person verwandeln. Die Farben halfen mir dabei. Meine Welt wurde immer bunter. Jedem, der mir wichtig war, verpasste ich einen Farbklecks. Diese Farbkleckse ließ ich dann Geschichten erzählen und entdeckte, dass meine enge Stadtwelt erträglicher wurde.

      Als ich älter wurde, achtete ich immer weniger auf die Farben. Ich war mit mir und mit anderen Dingen beschäftigt, wie Teenagerfreundschaften oder Mädchenproblemen. Die Farben wurden blasser und ich vergaß beinahe, dass es sie gab. Was trotz allem blieb, war ein Gespür für den Seelenzustand anderer Menschen. Ich spürte und reagierte. Ganz automatisch.

      back to the roots

      Als ich sechzehn war, starb meine Tante. Ihr Haus und ihr Geschäft vererbte Tante Maria meinem Vater, der, ob der Tatsache, dass er damit nichts anfangen konnte, die Häuser verkaufte und das Geld anderweitig investierte. Mit ihrem Tod und dem Verkauf der Häuser fiel jedoch für mich eine Tür ins Schloss. Es war die Türe zu einer Welt, die ich vorher als selbstverständlich erlebt hatte und deren Fehlen ich erst jetzt bemerkte.

      In den Ferien, bevor das Haus verkauft wurde, fuhr ich noch einmal in den Ort meiner Tante. Ich atmete den Duft ihrer alles-in-Frage-stellenden, philosophischen Gedankengänge ein und versuchte mir vorzustellen, wie sie weiterhin durch die Kirche schwebte und die Dinge an ihren Platz rückte. Tatsächlich schien mir jedoch der sakrale Raum ohne meine Tante weniger zugänglich. Ich merkte zwar, dass ich dort einen Platz zum Beten gefunden hatte, aber Tante Marias Wärme und Engagement fehlten. Mit wem sollte ich dort reden?

      Ich schlenderte in diesen Tagen immer wieder zum Kurhotel am Berg hinauf. Auch dort war alles wie immer, aber nun schien es mir fremd. Es war wie ein Film, dessen Zuschauerin ich war. Ich versuchte mir das Gefühl der Freiheit und Neugier, das ich hier immer empfunden hatte, in Erinnerung zu rufen. Hatte i c h mich verändert oder war es die Welt, die nicht mehr so war wie früher?

      Es war wohl beides. Am meisten ist mir in Erinnerung, wie souverän und autonom die Frauen, die im Kurhotel weilten, auf mich plötzlich wirkten. Während in dem kleinen Ort immer noch der Pfarrer und der Bürgermeister das Sagen hatten, merkte man an den Weltbürgern im Hotel, dass sich die Gesellschaft verändert haben musste. Nur wenige fanden sonntags den Weg in die kleine Kirche. Elegante Frauen bewegten sich selbstbewusst an der Seite von erfolgreichen Männern, von denen sie sich scheiden ließen, wenn es ihnen nicht mehr passte. Es waren Frauen, die eine Form von Freiheit lebten, die Selbständigkeit versprach. Auch die Leitung des Kurhotels war mittlerweile in die Hände einer Frau übergegangen. Diese weiblich-emanzipierte Selbstbestimmung berührte mich besonders. Ich merkte, dass sich Frauen in Berufen breitmachten, die davor Männerdomänen gewesen waren. Sie wollten mitbestimmen und gestalten. Sie interessierten sich für Politik und Wirtschaft und sie nützten die Möglichkeit zur Bildung. Keiner konnte ahnen, dass es ein Vierteljahrhundert danach mehr Frauen als Männer mit

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