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Texte, die in die Bibel aufgenommen wurden. Es gab Schreiber, die man nicht mehr identifizieren konnte und die man dann den Jahwist, der Gott immer als Jahwe bezeichnete, oder den Elohist, nach dem Gottesnamen Elohim, nannte. Die historisch-kritische Bibelauslegung lehrte uns, dass Texte eine lange, teils mündliche, teils schriftliche Vorgeschichte haben. Und es ist immer mit zu bedenken, dass es ein bestimmtes historisches und theologisches Umfeld des Autors gibt. Es kann also durchaus einen Unterschied zwischen den ursprünglichen Ereignissen und den biblischen Berichten geben. Das war für uns, die wir weder Hebräisch noch Griechisch konnten, nicht zu erkennen.

      Ich saß mit großen Ohren und wahrscheinlich auch mit weit aufgerissenen Augen da und lauschte. Mir gefiel was ich hörte. Die Bibel zog mich in ihren Bann.

      „Das“, rief Peter und hielt sein zerlesenes Bibelbuch in die Höhe, „ist eine ganze Bibliothek! Es ist die Geschichte Gottes mit den Menschen. Jeder von ihnen hat seine ureigenste Erfahrung mit ihm aufgeschrieben! Gott spricht zu uns. Und jeder hat das Recht es zu lesen.“

      Mir wurde warm ums Herz. Das war allerdings weniger den historisch-kritischen Erkenntnissen geschuldet, die schienen mir damals zu wissenschaftlich, sondern es war die Art und Weise, wie Peter mit der Bibel umging. Es erinnerte mich an mein Erlebnis mit Tante Maria, als sie mir den Dreischritt des Sehens-Urteilens-Handelns erklärt hatte. In diesem Moment verstand ich, was damals die eigentliche Faszination in mir ausgelöst hatte: Es war der Umgang mit etwas, was eigentlich mystisch-fern und geheimnisvoll sein sollte. Tante Maria hatte einen selbstverständlichen Zugang zu den biblischen Texten und versuchte den daraus gewonnenen Glauben lebenspraktisch umzusetzen, ohne zu viel Schnickschnack und ohne blinden Gehorsam. Ich hatte diesen Zugang emotional in mich aufgesaugt, ohne zu wissen, was es bedeutete. Nun verstand ich, dass dieser intensive und praktische Umgang mit etwas Heiligem die Türe zu genau dieser Sehnsucht war, die ich immer gespürt, aber längst wieder verloren hatte. Jeder von uns hatte die Möglichkeit in die Geschichte Gottes einzutauchen. Es war die Banalität des für-jeden-Verfügbaren, das meine Seele berührte.

      Heute ist das für mich selbstverständlich. Damals war es das nicht. Hatte man mir doch schon als Kind beigebracht, dass die Bibel äußerst kompliziert und schwer zu verstehen sei. Abgesehen von den paar Jesusgeschichten befanden sich in meinen Augen nur mühevolle Berichte über Vergangenes in der Bibel, die ich als langweilig abgestempelt hatte. Die Bibel in die Hand zu nehmen, zu lesen, direkt in einen Text einzutauchen und die Freiheit zu haben ihn so zu verstehen, wie ich ihn eben verstand, war nicht nur für mich etwas Neues. Jahrhundertelang war das Bibellesen Wissenschaftlern vorbehalten gewesen. Selbst lesen, auch nach der Erfindung des Buchdruckes, war und ist bis heute keine Selbstverständlichkeit.

      Keiner von uns Jugendlichen hatte die Bibel wirklich gelesen. Nicht einmal in Auszügen. Geschweige denn im Originaltext. Darüber hinaus waren wir eine schulverwöhnte Jugend, die erwartete, dass man ihnen die Inhalte der Bibel, oder des Lebens im Allgemeinen, auf leicht verständliche Weise näherbringt. Ich hatte nie selbst in der Bibel nachgelesen, ob denn das dort auch so stand, wie man mir erzählte. In anderen Ländern mache man das, meinte Peter. Er erzählte uns von den südamerikanischen Basisgemeinden, die er letzten Sommer besucht hatte und erklärte uns die politische Funktion, die diese Basisgemeinden wahrnahmen. Die einfachen Menschen dort machten sich trotz, oder gerade wegen, einer relativ hohen Analphabetenrate ihre eigenen Gedanken zur Bibel.

      Selbst Denken. Das konnte ich von ihnen lernen. Und so kämpfte ich mich als 17-Jährige mühsam durch die hochheiligen und nicht immer verständlichen Sätze der Heiligen Schrift. Die Konkordanz, eine Art Stichwortkatalog mit Bibelverweisen, gehörte bald zu meinen Standardnachschlagewerken. Mit heutigem Wissen scheint mir das eine lange, mühsame Ewigkeit her. Und trotzdem, auch wenn ich bis heute einige Stellen gar nicht und manche Stellen hundert Mal gelesen habe, es war die Zeit und die Energie, die ich investierte, die meine Liebe zu diesem Buch wachsen ließen.

      Gegenwärtig muss man noch weniger selbst erarbeiten. Schnell mal gegoogelt, um zu wissen, was Sache ist. Damals konnte ich mir nicht vorstellen, dass die Bibel einmal digitalisiert werden würde. Allerdings - die Instagrambilder von heute waren im Mittelalter gemalte Bildzyklen und Fastentücher. Es waren Bilder, die die Lehre von Himmel und der Hölle lebendig werden ließen und sich dabei oft vom ursprünglichen Text entfernten. Es gab die biblia pauperum11, die dazu verführte vorgegebene Bilder zu verinnerlichen. Schnell verfügbares Wissen stellt uns heute vor die gleiche Frage wie damals. Wie können wir wissen welchen Wahrheitsgehalt die uns täglich durch Filme und Fernsehen vermittelten Bilder haben? Sind auch sie eine Form der biblia pauperum? Wer lehrt uns Fake von Wahrheit zu unterscheiden?

      Damals war ich auf jeden Fall fasziniert, welch unterschiedliche Bilder über Gott in den biblischen Texten steckte und ich war überzeugt, dass wir gemeinsam mit Peter Priester einem großen Geheimnis auf der Spur waren. Ich lernte einen ganz anderen Gott kennen, als den, über den ich in meiner Kindheit erzählt bekommen hatte. Dieser Gott war wild, leidenschaftlich und manchmal gar nicht so nett.

      Die Entmystifizierung der Bibel war die Eröffnung einer neuen Welt. Ich denke, den anderen Jugendlichen ist es damals genauso gegangen, denn wir kamen schnell ins Diskutieren. Es war spannend. Gott sprach zu uns. Jetzt und hier aus einem alten Buch. Von da an nahm ich mir die Freiheit die Bibel zu entdecken. Ohne Vorschrift. Ohne Theologie. Ich erlaubte es mir. Gott erlaubte es mir. Und je tiefer ich in die Gotteserfahrungen der Menschen von damals eintauchte, desto größer wurde meine spirituelle Sehnsucht. Wenn ich die biblischen Texte im Gottesdienst hörte, spürte ich eine unerklärliche Vertrautheit, die nicht nur von der Liturgie herrührte. Da war etwas, was mich mit den Menschen von damals in Verbindung brachte und bald wusste ich: So wie die Menschen in der Bibel, konnte auch ich direkt mit Gott in Kontakt treten.

      Gott hatte mich berufen.

      Bloß wozu?

      lydia et al

      Ich erlebte Kirche anders als der rotblonde Roman. Er wollte Reformen. Ich fand, dass die Kirche, so wie sie war, gut war. Er wollte eine junge, dynamische Gemeinschaft und er fand das Rosenkranzgebet ultrakonservativ.

      „Kirche sollte auch etwas für Junge sein“, forderte er, „modern und schwungvoll“. Ich hörte ihm schweigend zu und lief rot an. Ich hatte nichts gegen das Rosenkranzgebet. Es war meditativ und ich kam dabei ins Nachdenken. In unserer Pfarre gab es jeden Abend Rosenkranzgebet. Meist wurde es vom Grafen vorgebetet. Der Graf war noch ein Relikt aus der Kaiserzeit. Er war damals in den 1970ern und 80ern schon weit jenseits der 70 Jahre. U r a l t kam er uns Jugendlichen vor. Er war ein Österreicher mit dem eigentümlichen deutschen Akzent der Ungarn, die sich selbst noch als adelige Nachkommen der Habsburger verstanden. Er war nett, zuvorkommend, unauffällig und betete den Rosenkranz. Jeden Abend. So wie auch der tägliche Messbesuch Ausdruck seiner Identität war. Kaiserlich-Katholisch.

      Da der Rosenkranz unter uns Jugendlichen verpönt war, schlich ich mich eines Tages heimlich in die halbdunkle Kirche, um mich unauffällig in eine der letzten Bankreihen zu setzen. Der Graf begann mit seiner dünnen Stimme den Rosenkranz vorzubeten. In seinem Gebet war eine ganz eigene Intensität zu spüren. Es war eine Sehnsucht, die sich mit einer inneren Überzeugung vermischte, die ich beneidenswert fand. Noch heute ist dies ein Gefühl, das mich nicht unberührt lässt.

      Damals musste ich innerlich lachen, da ich mich daran erinnerte, wie er uns Jugendliche eines Tages über die Erotik des Rosenkranzes aufgeklärt hatte. Maria sei eine wunderbare Frau, hatte er mit einem verzückten Lächeln geflüstert. Sie sei ihm wie eine Geliebte und er selbst fände den Rosenkranz sinnlich. Ich mochte mir lieber nicht vorstellen, wie der Graf Maria heißblütig umarmte, aber ich musste zugeben, dass der Ton in seiner Stimme und die Inbrunst mit der er vorbetete, den Rückschluss auf eine äußerst intime Beziehung zulassen konnten.

      „Na, und wenn schon“, dachte ich mir. Ist ja nicht das Schlechteste. Ich schloss die Augen und ließ mich vom Gebet mitziehen.

      Ich fragte mich, ob ich in 20 Jahren wohl noch hier sitzen und beten würde? Wenn der Graf nicht mehr wäre, dann könnte ja ich den Rosenkranz vorbeten. Ich musste lachen, nein, irgendwie war mir das zu langweilig. Meine Blicke schweiften zum Seitenaltar. Blumenschmuck? Nein, ich konnte mir beim besten Willen mein

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