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kaufte sowieso immer ein sogenanntes »flexibles Ticket«, das man jederzeit umbuchen oder stornieren konnte. Zu oft war es ihr in der Vergangenheit schon passiert, dass sie dringend in die Redaktion zurückmusste. Im Ressort »Tagesthemen«, in dem sie fix angestellt arbeitete, ging es eben um das Tagesgeschehen. Die Redaktion zahlte ihr die Kosten für den Aufpreis des Tickets außerdem immer ohne Murren. Es war nicht das erste Mal, dass sie es auch in Anspruch nehmen musste.

      Stefanie winkte den hübschen Kellner, mit dem sie kurz zuvor noch geflirtet hatte, herbei, damit ihr dieser endlich ihr Wechselgeld retourbrachte. Das hasste sie an Spanien, dass man hier in den Restaurants am Ende immer so lange warten musste. Wenig später brachte er ihr die fünf Euro 20 Cent in der Schale an den Tisch und lächelte sie ein letztes Mal an, bevor er sich weiterer Kundschaft zuwandte. »Adios«, sagte sie, doch das hörte er nicht mehr. Sie war schließlich nur eine weitere Touristin, die Geld in die spanische Stadt brachte. Über den Placa de George Orwell, an dem zahlreiche Einheimische in Tapas-Bars herumsaßen und sich lautstark unterhielten und lachten, ging Stefanie schnurstracks in ihr Hotel. Dass die Leute ausgerechnet an dem Platz so viel Spaß hatten, an dem an Orwell und an 1984 gedacht wurde! Das war fast ein wenig ironisch. Den Rest des angebrochenen Abends verbrachte Stefanie mit weiterer Online-Recherche. Wie oft war der Flexus Alpha bereits in Unfälle verwickelt gewesen? Wie gingen diese in der Regel aus? Wie war das selbstfahrende Auto programmiert? Kurz nach zwei Uhr früh drehte die blondhaarige Journalistin erschöpft ihren Laptop ab und gähnte. Morgen, das wusste sie, würde ein langer Tag werden.

      Kapitel 4

      Das Treiben in der Redaktion war hektisch wie immer, als Stefanie Laudon am nächsten Tag am frühen Nachmittag hereinplatzte. Bis zum Redaktionsschluss der Länderausgabe um 17.30 Uhr waren noch mehrere Stunden Zeit. Am Bildschirm im Newsroom blinkten die neuesten Zugriffszahlen, rechts davon war der Fernsehapparat ohne Ton aufgedreht. Die Bilder des zertrümmerten Flexus Alpha waren in Dauerrotation zu sehen. Am Screen poppte die Frage auf, die Stefanie Laudon bereits am Vorabend gestellt hatte: »War das selbstfahrende Auto für den Tod von Wolfgang Steinrigl verantwortlich?« Nach den Bildern des Todesfahrzeugs wurde ein Foto der 13-jährigen Melanie eingeblendet. Sie war der erste Mensch an der Unfallstelle. »Ich bin nach der Schule mit dem Rad ins Dorf gefahren. Es war ganz nebelig, aber ich merkte, dass hinter mir ein Auto war. Das Auto hat dann ganz plötzlich beschleunigt. Ich habe mir gedacht, dass der Mann mich überfahren wollte. Ich habe keine Ahnung, warum das Auto auf mich zugerast ist. Ich hatte große Angst davor, zu sterben. Doch dann ist es plötzlich doch noch nach links ausgewichen«, schilderte Melanie den Vorfall. Sie war die einzige Augenzeugin gewesen. Direkt dabei, als der Finanzminister gestorben war. Und selbst fast Opfer des selbstfahrenden Autos. Sie hatte auch den Aufprall mit angesehen. Dazu sagte sie jetzt im Fernsehen: »Es war schrecklich. Es war überall Blut, als ich nachgesehen habe, ob er noch lebte.«

      Der Text klang fast ein wenig wie auswendig gelernt oder die 13-Jährige war einfach schüchtern und hatte vorab einstudiert, was sie sagen würde. Eine grauenhafte Vorstellung, dass ein Kind so etwas mit ansehen musste und kurz davor selbst noch eine massive Todesangst gehabt hatte. Die Bilder und Gefühle werden Melanie wohl ihr Leben lang nicht mehr aus dem Kopf gehen, dachte Stefanie, bevor sie sich an ihre eigentliche Arbeit erinnerte. Darüber nachzudenken, wie es der kleinen Melanie ging, war schließlich nicht ihr Thema des Tages. In der Geschichte der Kleinen sowie im Privatleben von Wolfgang Steinrigl wühlten bereits die Kollegen herum. Stefanie kam es, anders als ihren Kollegen bei der Boulevard-Presse, auch nicht in den Sinn, die 13-Jährige an den Pranger zu stellen und wild darüber zu spekulieren, ob nicht das Mädchen mit ihrem Rad einfach zu weit in die Mitte der Fahrbahn geraten war und das Auto gar keine andere Wahl gehabt hatte, als ihr auszuweichen. Bei »Heute Mittag« waren derartige Gerüchte zu lesen.

      Stefanies Aufgabe hingegen war es, die technischen Hintergründe zum selbstfahrenden Noofle-Fahrzeug zu recherchieren.

      Noofle hatte natürlich, wie fast alle Autobauer, die etwas auf sich hielten, auch in der Vergangenheit schon teilautomatisierte Fahrzeuge auf die Straßen gebracht. Die hatten sich allerdings eher mittelmäßig verkauft und waren, technologisch betrachtet, bestenfalls Durchschnitt. Doch mit dem Flexus Alpha war es dem Konzern tatsächlich gelungen, das allererste Fahrzeug auf den Markt zu bringen, das gänzlich ohne menschliche Hilfe unterwegs war. Ein Auto, in dem der Passagier sogar hinten Platz nehmen konnte, wenn er wollte. Es war möglich, in Ruhe Nachrichten zu konsumieren, Präsentationen vorzubereiten oder das großflächig aufgerüstete Unterhaltungsprogramm inklusive Brillen, die einem eine veränderte Realität vorgaukelten, in Anspruch zu nehmen. Die meisten Menschen, die mit dem Flexus Alpha unterwegs waren, saßen aber trotzdem noch vorne. Und ein Lenkrad, das man im Zweifelsfall bedienen konnte, gab es auch noch. Sich beim Autofahren zurückzulehnen und das Ruder gänzlich abzugeben, das schafften die ersten Nutzer der neuen Technologie emotional dann doch noch nicht. Steinrigl hatte sich zwar bei einem Pressetermin mit seinem neuen Flexus Alpha mit beiden Händen winkend am Rücksitz ablichten lassen, aber am Unfalltag war er dann doch vorne im Auto gesessen, wie Stefanie messerscharf festgestellt hatte.

      Nachdem die Entscheidung im Straßenverkehr beim Flexus Alpha gänzlich in den Händen der Maschine lag, musste Stefanie für ihren Artikel eine alte Debatte ausgraben, die sie eigentlich schon lange Zeit als abgeschlossen betrachtet hatte. Da gab es schließlich eine jahrelange Vorgeschichte, die niemand besser im Gedächtnis hatte als die 33-jährige Journalistin von »24 Stunden«.

      Selbstfahrende Autos müssen, seit sie in Österreich auf den Straßen zugelassen sind und eingesetzt werden dürfen, auch über Leben und Tod entscheiden. Doch nach welchen ethischen Prinzipien sollen autonome Autos dabei vorgehen? Genau über diese Frage hatte es bereits in der Vergangenheit heftige Diskussionen gegeben – nicht nur in Österreich. Das Thema betraf schließlich die gesamte Welt. Forscher hatten versucht, zu einem Ergebnis zu kommen, indem sie mehrere Tausend Menschen befragt hatten. Nur einigen konnte man sich einfach nicht. Es hatte dazu Krisengipfel ähnlich den Welt-Klimagipfeln gegeben, bei denen hochrangige Forscher auf den Gebieten der Künstlichen Intelligenz, Robotik, Computer Vision und Ethik mit Politikern, die entsprechende Gesetze zu verabschieden hatten, und Wirtschaftstreibenden, Autobauern und Industriellen zusammengetroffen waren. Doch rausgekommen war dabei meistens nichts. Am Ende waren die USA mit einer eigenen Regelung vorgeprescht, von der man eigentlich erwartet hatte, dass sich auch Europa daran orientieren werde.

      Die Einigung sah so aus: Das Lenkrad im Auto, das sollte bleiben. Der Mensch darf sich damit immer über die Maschine stellen und selbstständig eine Entscheidung über das Fahrverhalten seines Fahrzeugs fällen und in die Geschehnisse eingreifen. Die Insassen dürfen zudem nie vom Autopiloten in Lebensgefahr gebracht werden. Falls dies doch passiert, haftet der Autohersteller.

      Für den Fall Steinrigl bedeutete dies Folgendes: Selbst wenn der Flexus Alpha die 13-jährige Radfahrerin praktisch erst in letzter Sekunde entdeckt hatte, hätte das Auto seinen Insassen schützen müssen und nicht die Radfahrerin. Es hätte ihr nicht so ausweichen dürfen, dass damit das Leben des Politikers gefährdet gewesen wäre.

      Diese Bestimmung mag zwar absolut nicht ethisch klingen, aber sie war der einzig gangbare Weg, um die Entwicklung der selbstfahrenden Autos am Ende voranzutreiben. Wer kaufte schon einen Wagen, der einen umbringen könnte? Die Entwicklung wäre komplett im Sand versackt und nicht weiter voran getrieben worden. Gestoppt von Gesetzen.

      Für so manch einen Autobauer war diese Regelung sowieso nicht ideal. Sie hatten schon längst Fahrzeuge in petto gehabt, die gänzlich ohne Lenkrad auskamen. Auch Noofle hatte den Flexus Alpha schon ohne Lenkrad angekündigt gehabt, und es hatte aufgrund der neuen Gesetze Verzögerungen gegeben.

      Auch in Europa war diese Regelung bereits in Gesetzesentwürfe eingeflossen – allerdings wie es in der EU üblich war, je nach Nationalstaat ein bisschen unterschiedlich. Außerdem waren manche Staaten langsamer und schneller unterwegs. Österreich zählte neben Finnland, Deutschland und Norwegen zu den ersten Ländern, die ein entsprechendes Gesetz umgesetzt hatten. Österreich hatte sogar bereits an einem Alleingang gearbeitet, der in Kraft getreten wäre, wenn die EU-Regelung gescheitert wäre. Diese hätte vorgesehen, dass der Fahrer im Fall des Falles immer die Letztverantwortung hat. »Wir müssen Vorreiter sein«, hatte es dazu aus dem Mund von Wolfgang Steinrigl

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