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Absolut nichts. Und alles ging auch noch so schnell! Steinrigl versuchte sofort reflexartig selbst ins Geschehen einzugreifen, in dem er das Lenkrad nach rechts drehte. Genau für solche Notfälle war aufgrund der strengen Sicherheitsvorschriften in Europa überhaupt noch ein Lenkrad verbaut worden – aber nichts geschah. Im Gegenteil: Das Auto beschleunigte auf 130 Stundenkilometer und raste schnurstracks auf die Baumallee zu, die sich direkt vor dem weißen Gefährt befand. Wenige Sekunden später prallte der Flexus Alpha mit voller Geschwindigkeit an die Buche, die am Wegesrand neben weiteren zehn Bäumen stand.

      Steinrigl blieb nicht einmal Zeit für einen letzten Gedanken. Nur das Gesicht seines Bruders Thomas flackerte kurz vor seinem Tod noch einmal auf. Seine Luftzufuhr wurde abgeschnitten, der linke Lungenflügel eingequetscht, der Kopf prallte mit voller Wucht gegen den Airbag. Die Scheibe zersprang beim Aufprall in Tausende kleine Einzelteile. Game over.

      Kapitel 2

      Plötzlich war es still. Bis auf die Krähen. Sie liebten den Nebel, der sich auf den Feldern, die direkt hinter der Baumallee lagen, festgesetzt hatte. Vom Aufprall aufgescheucht, krächzten die Tiere, als ob es um ihr eigenes Leben ginge, das gerade ausgehaucht worden war.

      Wenige Meter von der Unfallstelle entfernt war ein leises Wimmern zu hören. Die 13-jährige Melanie trat in die Pedale ihres rosaroten Fahrrads. Es war so kalt, dass ihr Atem in der Luft zu sehen war. Sie hatte keine Handschuhe an. Ihre Finger waren verschrumpelt vor Kälte und ihr Gesicht leicht gerötet. Melanie verließ die Straße und radelte direkt auf den Flexus Alpha zu.

      »Hallo?«, fragte die Schülerin schüchtern und mit leiser Stimme. »Geht es Ihnen gut?« Melanie blieb zuerst angelehnt am Sattel ihres Fahrrads stehen und wartete ab. Aus dem Wageninneren war keine Antwort zu hören. Das dunkelhaarige Mädchen, das ihr Smartphone aufgrund des Schocks noch mitten auf der Straße fallen gelassen hatte, wusste nicht, was es als Nächstes tun sollte. Melanie war überfordert. Eben hatte sie noch mit ihrer Oma telefoniert, die ihr befohlen hatte, nach der Schule noch beim Steinrigl-Bauern wegen der frischen Milch vorbeizufahren, als plötzlich dieses Auto von hinten kam und drauf und dran war, sie zu rammen. Melanie konnte sich nicht erklären, warum der Wagen so plötzlich beschleunigte. Es machte überhaupt keinen Sinn.

      Das Mädchen stieg jetzt vom Rad ab und ging auf das Auto zu. Das Auto, das sah irgendwie komisch aus mit all den Kameras am Dach. Ihr Blick blieb aber nicht lange an den Kameras hängen, sondern wanderte ins Wageninnere. Das, was sie dort sah, schockierte sie. Da drin lag ein etwa 50-jähriger Mann, der die Augen weit geöffnet hatte. Überall war Blut. Das lief auch aus den Augen und aus der Nase. Vom restlichen Körper war kaum etwas zu sehen, weil der Mann vom Fahrersitz gerutscht war und merkwürdig verdreht dalag. Melanie wusste sofort, dass der Mann tot war. Und sie erkannte ihn. Es war ein berühmter Politiker. Einer, der fast jeden zweiten Tag im Fernsehen zu sehen war. Irgendein Minister, aber was für einer, das hatte Melanie vergessen. Und der war der Bruder vom Steinrigl-Bauern, dem lokalen Bürgermeister aus St. Mergen im Attergau. Melanie musste wegsehen, von dem vielen Blut wurde ihr übel.

      Wie in Trance lief das Mädchen zurück zur Straße. Ihre Backen waren jetzt noch röter vor Aufregung als vorhin vor Kälte. Wie wild begann es zu winken, als sich das nächste Auto näherte. Sigrid Steinrigl sah Melanie gerade noch rechtzeitig und bremste. Die Reifen quietschten. Die brünette, mütterlich wirkende rundliche Frau, bei der sich bereits tiefe Falten in die Stirn eingekerbt hatten, stieg langsam aus ihrem zehn Jahre alten roten Kleinwagen aus, der bereits mehrere Dellen am Heck vorzuweisen hatte. Einen neuen konnte sich die Familie aber derzeit nicht leisten.

      »Was ist passiert? Ist dein Rad kaputt gegangen?«, fragte Sigrid Steinrigl das kleine Mädchen, nachdem sie das Fenster runtergekurbelt hatte. Sie sah zuerst nur das Mädchen, nicht aber den weißen Flexus Alpha am Wegesrand. Was für ein Zufall, dass ausgerechnet die Ehefrau des Bruders des gerade verunglückten Mannes stehen blieb, dachte das Mädchen. »Nein«, antwortete Melanie und zitterte am ganzen Leib. Zu mehr Worten war sie nicht fähig. Alles ging so schnell. Und da drüben lag immerhin ein Toter. Der erste Tote, den sie je gesehen hatte. Mit dem Zeigefinger deutete Melanie auf den zerschmetterten weißen Wagen, der an den Bäumen klebte und aus dem leichter Rauch aufstieg.

      Erst jetzt bemerkte Sigrid Steinrigl, dass da ein Unfall stattgefunden hatte. Sie schlug die Hände vor ihrem Gesicht zusammen und sagte stockend: »Mädchen, geht es dir gut? Bist du verletzt? Hast du schon die Rettung gerufen? Ist da noch wer drin?« Melanie schüttelte den Kopf. Sigrid Steinrigl versuchte sich zu erinnern, wo sie ihr Handy verstaut hatte. Sie hatte es während des Autofahrens nie neben sich, damit sie sich selbst nicht in Versuchung brachte. Telefonieren am Steuer stand nicht ohne Grund unter Strafe. Sie hielt sich akribisch daran. Gerade am Land wurde man wegen so etwas ja sofort angezeigt. Das Smartphone befand sich in ihrer Tasche am Rücksitz. »Hast du dein Handy in der Nähe? Kannst du 144 anrufen?« Melanie nickte. Auch wenn sie wusste, dass es sinnlos war. Der Mann im Auto war nicht mehr zu retten. Und ihr Handy hatte sie irgendwo auf der Straße verloren, sie musste es erst suchen gehen.

      Sigrid Steinrigl lief unterdessen im Eiltempo auf den Flexus Alpha zu. Der Wagen kam ihr merkwürdig vor. Irgendwie neumodisch. Aber auch gleichzeitig bekannt. Wo hatte sie den schon mal gesehen? War das etwa eines dieser neuartigen Fahrzeuge, die von selbst fuhren? Ohne dass es einen Fahrer gab? Warum war dann da drin ein Lenkrad zu sehen? Das dachte sich die Bauersfrau und Gattin des Bürgermeisters von St. Mergen im Attergau. Der Gemeinde, deren Ortsschild nur noch drei Kilometer entfernt vor ihnen lag. Dann erst begannen ihre Gehirnzellen langsam weiterzuarbeiten: Hatte sich nicht der Wolfgang gerade vor kurzem so einen Wagen angeschafft? Jetzt erst schaute Sigrid Steinrigl genauer hin. Plötzlich sah sie nicht mehr das Lenkrad, sondern den Mann, der dahinter saß. Und erkannte die dichten, schwarzen Haare von Wolfgang. Und dann sah sie seine Augen. Seine offenen, weit aufgerissenen braunen Augen, von denen es fast den Anschein hatte, als würden sie aus den Augenhöhlen herausquellen. Einmal mehr schlug Sigrid Steinrigl die Hände vor ihrem Mund zusammen. Und stieß einen leisen Schrei aus. Der Schrei klang ziemlich verkorkst. So als hätte ihr gerade jemand ein Messer in den Rücken gerammt und sie hätte es geahnt. Der Schrei klang überrascht und unterdrückt gleichzeitig.

      Melanie, die die Bürgermeistergattin die ganze Zeit beobachtet hatte, drehte sich dezent weg und ließ Sigrid Steinrigl mit ihrem Schmerz und Entsetzen allein. Sie suchte den Boden nach ihrem Handy ab – und fand es dann auch relativ rasch. Es lag direkt neben der Straße an der Stelle, an der sie fast überfahren worden war. Erst jetzt wählte sie den Notruf 144. »Kommen Sie rasch, auf der Bundesstraße ist ein Auto gegen einen Baum gefahren. Der Fahrer ist, glaube ich, tot. Zumindest hat er seine Augen offen. Und … es ist ein Prominenter«, fügte die Schülerin am Ende leise hinzu. Sie beschrieb die Unfallstelle und machte halbwegs präzise Angaben zur Entfernung vom nächsten Ort. Dann sah sie wieder zu Sigrid Steinrigl hin.

      Die war mittlerweile in die Knie gegangen und auf den Boden gesunken. Sie weinte, zitterte und trauerte. Tief versunken und nicht bereit, diese Emotionen und ihr Leid mit irgendwem zu teilen. Melanie dachte sich: Ich muss jetzt stark sein. Tapfer ging sie zur Bürgermeistergattin hin und strich ihr vorsichtig über den Rücken. Die Schwäche und Verletzlichkeit der Frau ermutigten das Mädchen, selbst mutig zu sein. Mutiger, als es eigentlich war. »Es wird alles gut«, flüsterte Melanie. Weil ihr nichts Besseres einfiel. So tröstete sie ihre Mama immer, wenn sie traurig war.

      Auf den Lippen von Sigrid Steinrigl zeichnete sich ein leichtes Grinsen ab und sie murmelte leise: »Damit könntest du recht haben, Mädel.« Ein Satz, den Melanie in dieser Situation ganz und gar nicht verstand. Sie runzelte die Stirn und entfernte reflexartig ihre Hand vom Rücken der Frau.

      Kapitel 3

      Es dauerte nur wenige Stunden, bis sich die Meldung über den Tod des Finanzministers via Nachrichtenagentur bei den Medien des Landes verbreitet hatte. »Wolfgang Steinrigl: In den Tod gerast«, lautete eine der ersten Schlagzeilen der Online-Plattform »Heute Mittag«. Über das soziale Netzwerk Facebook verbreitete sich die Meldung in Windeseile. Die Boulevard-Plattform war deswegen immer am schnellsten bei der Verbreitung von Neuigkeiten, weil in der Redaktion bereits ein Agentur-Roboter zum Einsatz kam. Das bedeutete, dass ein Roboter die Eilmeldungen, die über Nachrichtenagenturen verbreitet

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