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tauchte die Stadt in eine für diese Jahreszeit ungewöhnliche Helligkeit.

      Zwiespältige Gefühle beschlichen Malin, als sie vom Parkplatz auf das Wellingsbüttler Torhaus zuging. Da ihr nächtlicher Besuch bei Fricke bereits Gesprächsthema über mehrere Etagen des Polizeipräsidiums war, hatte sie darauf verzichtet, die Kollegen über ihr Vorhaben zu unterrichten, und sich für die Mittagspause abgemeldet.

      Auf der Wiese lag eine Horde Jugendlicher, Mütter schoben Kinderwagen vor sich her und die meisten Parkbänke waren besetzt. Das Laub der Bäume strahlte in Gold- und Rottönen. Einzig ein paar Reste des rot-weißen Absperrbandes erinnerten an den Polizeieinsatz der letzten Woche.

      Malin blieb im Torbogen stehen. Deutlich stand ihr das Bild des toten Dr. Woy vor Augen. Sie schaute sich um und ging Schritt für Schritt den Bogen ab. Das alte Gemäuer und die dunklen Holzbalken verrieten nicht, was hier geschehen war.

      Eine mit Kameras behängte Gruppe Asiaten bog um die Ecke und stieß fast mit Malin zusammen. Ein schmaler Junge verbeugte sich entschuldigend vor ihr. Sie starrte ihn an. Ein paar schwarze Augen starrten zurück. Das Museum, dachte sie, und ging durch den Torbogen auf den hinteren Trakt des Torhausgebäudes zu.

      Ein Schild wies auf eine Sonderausstellung und die damit verbundenen zusätzlichen Öffnungszeiten hin. In den vormaligen Landarbeiterwohnungen wurden Fotodokumentationen über das ehemalige Adelsgut Wellingsbüttel und altbürgerliche Haushaltsgegenstände gezeigt.

      Malin ging auf den Kassentresen zu. »Hallo, Frau Larsen, Sie erinnern sich an mich?«

      Die Museumsangestellte runzelte die Stirn. »Brodersen. Die junge Frau von der Polizei. Ich vergesse nie ein Gesicht. Was wollen Sie?«

      »Haben Sie vielleicht eine Minute? Ich hätte da noch ein paar Fragen.«

      »Na schön, wenn es denn sein muss. Die Reisegruppe ist ohnehin gerade durch. Aber lassen Sie uns in den Garten gehen.«

      Malin folgte Frau Larsen zu einer Bank hinter dem Torhaus. Dort hatten sie freie Sicht auf die weiße Prachtfassade des Herrenhauses.

      »Sagen Sie, Frau Larsen, ist Ihnen zu letztem Mittwoch noch etwas eingefallen?«

      »Dann hätte ich angerufen.« Die Museumsangestellte hielt die Arme vor der Brust verschränkt und starrte auf einen imaginären Punkt in der Ferne.

      Malin stand auf und blieb dicht vor ihr stehen. »Frau Larsen, ich ermittle in einem Mordfall. Letzte Woche ist hier ein Mann tot aufgefunden worden. Er hat eine Frau und eine Tochter hinterlassen, eine Familie, die jetzt um ihn trauert. Ist es nun wirklich zu viel verlangt, mir noch ein paar Fragen zu beantworten?«

      Ingrid Larsens steinerner Gesichtsausdruck löste sich und Malin konnte erkennen, dass die Frau mit sich rang.

      »Also noch einmal, gibt es irgendetwas, das Sie mir erzählen können? Es muss nicht unmittelbar mit vergangenem Mittwoch zu tun haben. An einem Ort wie diesem kommen doch bestimmt viele interessante Menschen zusammen.«

      Frau Larsen runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht genau, ob es wichtig ist. Ehrlich gesagt, erscheint es mir jetzt doch ein bisschen komisch, dass ich ihn so lange nicht mehr gesehen habe. Aber bei solchen Leuten weiß man ja nie. Die kommen und gehen.«

      »Wen meinen Sie? Wer kommt und geht?«

      »Den ganzen Sommer über hat im Park ein alter Stadtstreicher übernachtet. Er hat mir leid getan, deshalb habe ich es niemandem gesagt.« Sie klang unsicher.

      »Warum haben Sie uns das nicht gleich erzählt? Oder ist da noch irgendetwas?«, hakte Malin nach.

      »Also gut, auch wenn ich nicht verstehe, was es mit dem Mord zu tun haben sollte … Eines Tages hat er frühmorgens vor dem Museum auf der Schwelle gesessen und um ein wenig Wasser gebeten. Er hat mir leid getan. Da habe ich ihm Kaffee gekocht und ihm ein belegtes Brötchen gegeben. Seitdem ist er jeden Morgen gekommen. Er war höflich und hat stets gewartet, bis ich ihm sein Frühstück gebracht habe. Wenn er fertig war, hat er Becher und Teller vor die Tür gestellt und ist gegangen. Bitte, Fräulein Brodersen, verraten Sie mich nicht. Wenn mein Chef das erfährt, bekomme ich bestimmt Schwierigkeiten. Und ich brauche diesen Job, um meine Rente aufzubessern. Wer nimmt denn sonst schon eine so alte Frau wie mich?«

      »Machen Sie sich deswegen mal keine Sorgen, wir werden das vertraulich behandeln. Erzählen Sie mir was über den Mann, wie sieht er aus? Wissen Sie vielleicht seinen Namen?« Malin fischte ihr Notizbuch aus der Jackentasche.

      »Er trägt immer so einen schmuddeligen schwarzen Regen­mantel und meistens eine rote Strickmütze. Ich glaube, seine Schuhe sind viel zu klein, denn er hat sich vorne die Spitzen weggeschnitten. Graue, schulterlange Haare, ziemlich zottelig, und er hat einen Bart. Sonst konnte man von seinem Gesicht nicht viel erkennen. Seinen Namen wollte er mir nicht sagen, aber er hat immer einen grünen Seesack dabei, da steht Harry drauf.«

      Malin machte sich eifrig Notizen. »Sie haben vorhin gesagt, Sie hätten ihn schon länger nicht mehr gesehen. Wissen Sie noch, wann es das letzte Mal war?«

      Frau Larsen schien einen Moment zu überlegen, dann wurde sie bleich. »Es war Dienstagmorgen – letzte Woche. Am Mittwoch, als ich die Leiche gefunden habe, war er nicht da. Er war seit Dienstag gar nicht mehr da.« Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern.

      Der kleine Ort Strande lag zwanzig Kilometer nördlich der Kieler Innenstadt auf der Halbinsel Dänischer Wohld, direkt an der Kieler Förde. Weiße Segeljachten im Strander Yachthafen, kilometerlange Sandstrände und die urwüchsige Steilküste hinter dem Bülker Leuchtturm waren die Aushänge­schilder des kleinen Ferienortes. An den schmalen Straßen standen liebenswerte alte Häuschen, kleine Katen und die eine oder andere feudale Villa.

      Eine davon gehörte der Krimiautorin Charlotte Leonberger. Aufgewachsen in der Großstadt, hatte es Charlotte immer wieder zurück an den Urlaubsort ihrer Kindheit und die Heimat ihrer Tante Alma gezogen. Sie hatte ihr Glück kaum fassen können, als sie erfuhr, dass das alte Reetdachhaus, das sie schon als Kind bewundert hatte, zum Verkauf stand. Für einen total überzogenen Preis hatte sie es erstanden und für noch einmal die fast gleiche Summe renovieren lassen. Sie konnte es sich leisten. Ihre Krimis stürmten die Bestsellerlisten und wurden in mehrere Sprachen übersetzt.

      Bereits als Kind hatte Charlotte ständig Geschichten zu Papier gebracht. Nach ihrem Journalistikstudium hatte sie eine Zeitlang für ein bekanntes Wirtschaftsmagazin gearbeitet, um sich ein finanzielles Polster zu schaffen. Dann hatte sie den Job gekündigt, um darüber zu schreiben, was sie wirklich faszinierte. Ihr erster Krimi hieß Frühjahrssterben.

      Nach der Fertigstellung hatte sie lange auf Nachricht warten müssen, bevor schließlich eine Lektorin des renommierten Hamburger Verlages Alster Books ihr Interesse an dem Manuskript bekundete. Ein knappes Jahr später erschien Frühjahrssterben auf dem Markt und schlug ein wie eine Bombe. Es folgten Interviews für Zeitungen, Signierstunden und Autorenlesungen in ganz Deutschland.

      Durch den Erfolg konnte Charlotte die renommierte Agentur Thompson & Leith im angesagten Viertel Hafen­city für die Vertretung ihrer Interessen gewinnen. Zur beeindruckenden Klientel zählten zahlreiche Prominente. Simon Thompson, einer der Teilhaber der Agentur und eine Koryphäe unter den Literaturagenten, nahm Charlotte höchstpersönlich unter seine Fittiche. Er schaffte es innerhalb kürzester Zeit, dass Alster Books sie für einen Vorschuss in sechsstelliger Höhe für zwei weitere Krimis verpflichtete. Dies glich in der Branche geradezu einem Ritterschlag, der weltweit nur wenigen Autoren zuteil wurde. Mit ihrem dritten Roman schaffte Charlotte den internationalen Durchbruch und ihr Agent verhandelte fortan erfolgreich mit ausländischen Verlagen. Ihr Bekanntheitsgrad ging mittlerweile weit über die eingefleischten Krimifans hinaus. Immer öfter sah man ihr Gesicht in Illustrierten und Talkshows. Zuletzt hatte sie es sogar auf die Titelseite des US-Magazins People geschafft.

      Doch der Erfolg hatte auch seine Kehrseite. Unter anderem waren die Reisen zu den Autorenlesungen im In- und Ausland oft strapaziös. In der Abgeschiedenheit ihres Reetdachhauses dagegen wurde die Ruhe nur gelegentlich vom Kreischen der Möwen unterbrochen.

      Charlotte hatte sich gerade einen Kaffee

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