Скачать книгу

Aber er wagte es nicht, eine Hand von dem schründigen Stein zu nehmen, um nach der Schulter zu tasten.

      Jetzt kam das, was der furchtbare Sturz völlig aus seinem Gedächtnis gelöscht hatte wieder zu ihm zurück: Der Überfall oben am Weg! Irgend jemand hatte ihn niedergeschossen. Er war zurückgetaumelt. Die Pferde scheuten, waren aufgestiegen und der Wagen war abgerutscht.

      Mit Wilma und dem Jungen.

      Weiter – nein, weiter vermochte der Mann nicht zu denken. Er wagte nicht an seine beiden anderen Kinder zu denken, die hinter dem Fuhrwerk gegangen waren. Und dann tat er es doch, weil er es mußte, weil er nicht die Kraft besaß, gegen diesen furchtbaren Gedanken anzukämpfen.

      Nein, sie waren nicht mehr oben auf dem Paßweg. Der Schooner hatte sie mit in die Tiefe gerissen. Mary hätte sich längst gemeldet. Und Bill hätte längst etwas getan. Aber was hätte der Bursche denn tun sollen?

      Der irrsinnige Gedanke, daß die beiden doch noch oben auf dem Weg sein könnten, ließ ihm das Blut wild in den Schläfen klopfen.

      Vielleicht sind sie so entsetzt, daß sie keinen Schrei aus der Kehle bringen können. Weil sie auch mich für verloren halten müssen.

      Aber dann wieder wurde ihm mit fürchterlicher Deutlichkeit klar, daß sie gar keine Chance gehabt hatten, dem Sturz zu entrinnen. Bill ganz sicher nicht, weil er bestimmt vorwärts auf den rutschenden Wagen zugesprungen war, um den Blockierstein noch unterzuwerfen.

      Und Mary?

      Schwer hob und senkte sich die Brust des gepeinigten Mannes.

      Dann wurde er ruhiger. Weil er wußte, daß er nichts zu erhoffen hatte. Weil er wußte, daß auch Mary von dem rutschenden Gefährt erfaßt und mitgerissen worden sein mußte.

      Sie waren alle tot! Außer ihm. Und er würde ihnen folgen.

      Jetzt – gleich jetzt! Je eher, desto besser.

      Worauf sollte er warten? Auf den Schlaf? Er erwog den Gedanken nicht, daß der Schlaf sein Ende vielleicht gnädiger gestalten könnte, wenn er im Schlaf loslassen und abrutschen würde…

      Aber Jesse Hacatt wußte, daß er nicht einschlafen würde!

      Es war elf Uhr am Vormittag. Der grellgelbe Feuerball der Sonne schob sich über die Schlucht und warf gleißende Strahlenbündel in die Tiefe. Eines davon traf den Rücken des unglücklichen Mannes in der Felswand.

      Und plötzlich durchzuckte den Iren ein eisiger Schlag.

      Ein Geräusch war an sein Bewußtsein gedrungen, das ihm das Herz stillstehen lassen wollte: Die Stimme eines Menschen.

      Und dann hörte er, daß der Mann nicht allein war; er sprach mit einem anderen.

      Und wieder ließ der unbegreifliche Gott oben über den Felsgipfeln, über dem Blau des Himmels es zu, daß der Ire alles miterleben, mitanhören mußte.

      Glasklar und deutlich drangen die Worte einzeln in seine Gehörgänge und von dort in sein Gehirn, wo sie zu vereisen schienen.

      »Idiot!« kam die Stimme krächzend von oben.

      »Konnte ich wissen, daß der Kerl zurückflog und die Gäule den Boden verloren?«

      »Yeah, das konntest du wissen! Du hast zu früh geschossen. Sie waren noch fast zehn Yards von dem Steinschlag entfernt…«

      Der andere hustete. »Well, ist nicht zu ändern. Die sind alle Sorgen los. Auch die, die wir noch haben. Sie brauchen nichts mehr. Kein Geld, keinen Tabak, kein Fleisch und keinen Colt mehr…«

      Leise knirschend gruben sich die Nägel des Iren in den Stein.

      »Und jetzt?« fragte der andere nach einer Weile.

      »Was jetzt?« entgegnete der erste Sprecher, der eine dunkelgefärbte Stimme hatte und älter zu sein schien als der andere, der seinen eigenen Worten nach geschossen hatte. »Wir haben sie in die Hölle geschickt! Da unten ist für uns nichts mehr zu holen. Ein großer Verlust ist es ohnehin kaum; das war armes Pack aus dem Osten.«

      »Wir reiten.«

      Kurz darauf hörte Hacatt den Hufschlag zweier Pferde.

      Dann war alles wieder still.

      Der Felspfad zum Tecca-Paß lag unter der Stille des Mittags, in der Einsamkeit der Mountains.

      Nur wenige Yards unterhalb des Pfades hing der Ire im Gestein.

      Laß los! Immer wieder hörte er die Worte in seinen Ohren, sie klangen wie Trommelschläge in seinem Hirn.

      Aber er ließ nicht los. Er hielt fest…

      Waren Stunden vergangen – oder Tage?

      *

      Es war dunkel, als er es hörte.

      Ein fernes Geräusch. Von einem Tier verursacht? Von einem Wild?

      Es war ein Reiter!

      Ein Mensch!

      Jesse Hacatt zog plötzlich unter dem scharfen Geräusch des Huftritts den Kopf in die Schultern. Ein scheußlicher Gedanke hatte sich hinten in seinem Hirn eingenistet und ließ ihn den Mund, den er schon zum Schrei geöffnet hatte, wieder zufallen. Die Mörder kehrten zurück. Jedenfalls einer von ihnen.

      Still kauerte der Ire und lauschte mit angehaltenem Atem. Oben trottete der Reiter jetzt vorüber.

      Er ritt weiter!

      Wer er auch war – und wenn es einer der Mörder war, Hacatt hatte keine Wahl. Er schrie.

      Seltsam krächzend entrang sich der Laut seiner Kehle, brach sich drüben an den Felswänden und flog durcheinanderschwimmend hin und her, bis er endlich verebbte.

      Hacatt lauschte.

      Der Hufschlag war verstummt.

      »Hilfe!« schrie der Ire noch einmal.

      Da hörte er erschreckend nah über sich die Stimme eines Mannes: »Sie müssen sich noch einmal melden!«

      Jesse Hacatt hauchte die Kühle ein, die der Stein unter seinem Gesicht ausstrahlte.

      Ein Mensch also, ein Fremder. Und seine Stimme gehörte keinem der beiden Banditen. Es war eine andere, fe­stere, fast metallische Stimme. Auch sie würde der Irländer nie vergessen.

      Erst nach Sekunden rief er: »Hier!«

      »Sie sind abgestürzt?«

      »Yeah!«

      »Well, ich kann zwar nicht sicher abschätzen, wie tief Sie hängen, werde aber zunächst den Lasso herunterlassen.«

      Einen Lasso herunterlassen? Wie will er den oben befestigen? überlegte der Ire. Aber dann gab ihm der Klang der Stimme des Fremden Hoffnung. Der würde wissen, was er tun konnte.

      Und nach kurzer Zeit hörte er auch schon das geflochtene Seil am Gestein niederrutschen.

      Hacatt schrak zusammen. Wie ein Finger, so tippte das Lassoende plötzlich auf seinen Rücken.

      »Es ist hier, anhalten!« schrie er.

      »Können Sie sich einen Moment loslassen?«

      »Ja, mit einer Hand, vielleicht.«

      »Dann schnell, und gleich die andere nach. Wenn es geht, ziehen Sie das Ende unter dem linken Oberschenkel durch und halten es dann mit beiden Fäusten fest.«

      Hacatt ließ los. Aber seine Hand war steif und bewegte sich nicht.

      »Es geht nicht. Meine Hand läßt sich nicht bewegen.«

      »Das ist der Krampf. Warten Sie, schütteln Sie die Hand…«

      Der Fremde sprach beruhigend und ohne jede Hast auf ihn ein. Eine seltsame Kraft schien von seiner Stimme auf den Iren auszugehen.

      Schließlich hatte er wieder das Gefühl in seiner Hand. Er spannte sie um das Seil. Es war

Скачать книгу