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gerade.«

      »Eine Gletscherleiche?«, frage ich.

      Er lacht.

      »Nicht jede Grabung ist eine Leiche«, sagt er.

      »Ich dachte nur, wegen der Zeitungsmeldung«, sage ich etwas verlegen aufgrund meiner Sensationsgier.

      »Aber vielleicht liegt ja noch eine unter dem Eis«, sagt er. »Man weiß ja nie! Kommen Sie mal, und dann schauen wir weiter.«

      Am Gletscherrand sind nur ein paar Felsbrocken, zu einem Mugel aufgetürmte Steine und viel Matsch zu sehen. Die Stelle ist mit rot-weißem Baustellenband abgesichert.

      »Das war der römische Opferplatz«, erklärt der Gletscherarchäologe. »Früher hat es hier Almwirtschaft gegeben, bevor das Eis das Gebiet übernommen hat. Es gab auch Bergwerke im Hochgebirge, in denen nach den wertvollen Bergkristallen gegraben wurde.«

      Der Gletscherarchäologe hat schon ganze Bergwerke freigelegt. Er hat eine Sammlung von Ausrüstungsgegenständen von Bergleuten angelegt und dem Heimatmuseum im Ort vermacht. Ein touristischer Anziehungspunkt wie der Ötzi ist das nicht, aber durch die Publikationen ist der Fundort zumindest den vielen Hobbyarchäologen einen Besuch wert.

      Der Hochgebirgsarchäologe sieht meine Enttäuschung. Eine tolle Kulisse für ein Hochglanzfoto gibt das nicht her.

      »Ganz in der Nähe ist das freigeschmolzene Bergwerk«, sagt er.

      Ich lächle hoffnungsfroh.

      »Das wird Ihnen besser gefallen. Dort haben wir schon öfter Fotos gemacht, das kommt immer gut an.«

      Mein Lächeln schwindet wieder. Ich will nicht das zehnte Foto vom selben Motiv machen, das geht gegen meine Fotografinnen-Ehre.

      »Passt schon«, sage ich. »Ich seh mich ein bisschen um und suche uns eine interessante Perspektive. Wegen der Gletscherleiche wollte ich Sie noch etwas fragen …«

      »Ach die«, sagt er. »Das ist nichts Besonderes. In Tirol haben wir von 1989 bis 2013 schon achtzehn Gletscherleichen geborgen. Und ich schätze mal, dass da oben noch rund sechstausend Leichen im Eis stecken.«

      »Sechstausend?!«, sage ich und schaue nach oben zum Gipfel.

      »Nicht hier oben, auf allen Gletschern, auf denen es im Ersten Weltkrieg Gefechte gegeben hat«, sagt er. »Ich habe sogar schon eine Datenbank eingerichtet, damit wir nicht den Überblick verlieren – international gesehen, ich rede von der Schweiz, Frankreich, Italien, Südtirol usw. Die Leute sollen ja erfahren, wo ihre Verwandten geblieben sind.«

      »Wie meinen Sie das? Sind die alle als vermisst gemeldet?«

      »Vermisst, gefallen oder einfach verschwunden, und niemand hat’s gemerkt. Das hat’s auch gegeben. Wir stoßen hier ja auch auf Gletscherleichen von Bergsteigern, von Wilderern, oft sind es Lawinenopfer – die hat niemand gemeldet. Wir haben schon ein ganzes Flugzeug da oben gefunden. Ein JU-Bomber ist siebzig Jahre lang im Eis gelegen, der Gletscher hat ihn langsam auseinandergenommen, das Eis hat den Bomber in seine Bestandteile zerlegt und über hundert Meter zerstreut. Bei den Soldaten finden wir oft noch eine Erkennungskapsel, Briefe oder Hinweise auf der Kleidung.«

      »Das hat sich im Eis erhalten? Das ist ja wie CSI Glacier!«, sage ich. »Und die Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg waren Ihre letzten Funde?«

      »Nein«, sagt er, »wir haben eine Kultscheibe gefunden, die ist in allen wichtigen archäologischen Zeitschriften erschienen, das war eine Sensation …«

      »Und Gletscherleichen?«, frage ich und bemerke seine Enttäuschung, dass ich mich nicht für seine Kultscheibe interessiere.

      Er sieht mir direkt in die Augen und fragt unerwartet forsch: »Warum wollen Sie das wissen?«

      Ich schlucke. Er reagiert unverhältnismäßig heftig.

      »Die Soldaten stammen von einem Gefecht am Gletscher und basta. Die haben die Toten an Ort und Stelle gelassen. Was glauben Sie, wer die ins Tal hätte tragen sollen?«

      Ich zucke mit den Schultern.

      »Die Gletscherspalte, das war der Friedhof.«

      Er merkt wohl, dass er überreagiert hat und versucht, die Stimmung wieder zu heben.

      »Ein Gewehr, ein Fernrohr, ein Messer, eine Spindeltaschenuhr – was sagt Ihnen das?

      »Keine Ahnung. Ein Jäger?«, frage ich.

      »Fast! Ein Wilderer! Ich hab das alles in einem kleinen Museum gefunden. Und dann bin ich auf eine Polizeimeldung gestoßen, dass 1929 auf dem lokalen Gletscher eine Leiche entdeckt wurde. Da musste ich nur eins und eins zusammenzählen und wusste, wer der Wilderer war. Nicht schlecht, oder?«

      »Wow«, sage ich und meine es irgendwie auch so.

      5

      Zwei Tage später habe ich einen Termin mit einem Gletscherfun-Manager. Der Mann spricht gerne, und er verspricht mir ein tolles Motiv. Ich treffe ihn auf einem Gletscher, dem er eine spezielle Vision übergestülpt hat, wie er sagt.

      Ich traue meinen Ohren nicht. »O sole mio« schallt es über den Berggipfel. Ein singender Gondoliere zieht in einer Gondel seine Runden in einem Speichersee.

      »Ganz wie in Venedig!«, schreit der Manager begeistert. »Ist das ein Fotomotiv? Hab ich Ihnen zu viel versprochen?«

      »Warum eine venezolanische Gondel auf dem Berg?«, frage ich vorsichtig.

      »Es werden immer mehr Besucher aus Italien zu uns auf den Gletscher kommen. Und dieser künstliche Gletschersee war ohnehin zu nichts gut, langweilig! Jetzt ist er ein einmalig schönes Fotomotiv. Die Ausflügler kommen auf den Berg und suchen ein unvergessliches Erlebnis. Wir bieten ihnen einen Fotopoint, die Fotos können sie auf Facebook posten, und alle werden sie liken. Das Wichtigste sind die Fotos, damit sie allen zeigen können: Schau, wie schön wir es haben, schau, was wir erleben!«

      »Wozu war denn der Speicherteich vorher gut?«

      »Das waren tiefe Gruben, die wurden im Herbst mit Wasser angefüllt, und im Winter wurde das Wasser als Schnee auf die Pisten gespritzt. Die waren immer eingezäunt, damit niemand hineinfällt. Doch dann sind wir draufgekommen: Die Gäste lieben Seen, sie lieben Wasser! Wir mussten den See nur noch richtig bespielen. Hier drüben, schauen Sie, da haben wir eine ›Relaxzone‹, da drüben eine ›Genusszone‹ und noch weiter hinten eine ›Actionzone‹ – und das alles an einem wunderbar neu geschaffenen Bergsee! Mit einem neu geschaffenen Strand, da ertrinkt jetzt keiner mehr!«

      Ich mache ein Foto mit ihm vor der venezolanischen Gondel. Er hat ein breit strahlendes Grinsen. Ob er sich in die Gondel setzen könnte? Er kann! Außerdem mache ich Fotos aus der Gondel.

      Gletschereis ist hier im Sommer schon lange keines mehr zu sehen. Ein paar Jahre lang haben sie die Reste des Gletschers für den Sommerskilauf auf die Pisten geschoben, die es damals noch hier gab. Für die Beschneiung ist es schon lange zu heiß, sogar auf dieser Höhe. Die Liftstützen haben sie umfunktioniert.

      Der Fun- und Eventmanager klärt mich auf, dass sie ein neues Angebot schaffen mussten. Wenn der Gletscherskilauf stirbt, muss ein neues Highlight her.

      »Wir mussten den Sommer beleben, wenn der Winter wegbricht«, sagt er. »Es braucht immer ein Highlight. Wandern ist eine mühsame Angelegenheit. Warum sollen wir dabei zusehen, wie die Gäste zu Fuß auf den Berg gehen, und wir haben nichts davon, haben sich die Bergbahn-Betreiber gedacht. Die Leute lechzen förmlich nach Belohnung, wenn sie oben ankommen. Also haben wir den Skyglider positioniert. Der ist für jedermann, ich kann mich reinlegen, und das ist wie Drachenfliegen. Schauen Sie, machen wir dort ein Foto? Im Fliegen vielleicht? Das ist Thrill pur! Ihnen wird doch nicht leicht schlecht?«

      Wir machen Fotos im Skyglider, und mir wird schlecht. Die Fotos gefallen mir, sie sind dynamisch. Ich brauche, nachdem wir wieder auf dem Gipfel angekommen sind, eine kurze Pause. Er lädt mich auf einen Cappuccino ein, und wir setzen uns auf

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