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ein Wahnsinn!«

      Der Professor will mit mir den Lehrpfad abmarschieren und mir alle Fehler zeigen.

      »Ja, gerne«, sage ich, »aber lieber später«.

      Ich will zuerst meine Fotos machen. Wir sind schon um drei Uhr in der Früh aufgestanden, um ein schönes Licht zu haben. Jetzt ist das Licht hervorragend.

      »Herrlich«, sage ich. »Das sollten wir nutzen.«

      »Wie lange wird der Gletscher noch da sein?«, frage ich, während ich die schmutzigen Schneereste in den Fokus nehme.

      »Wenn es so weitergeht, ist das Kees in dreißig Jahren verschwunden. Man spricht davon, dass in fünfzig Jahren nur noch die Hälfte der Gletscher da sein wird, und wenn die Erwärmung so schnell voranschreitet, dann könnten in hundert Jahren nur noch vielleicht zehn bis fünfzehn Prozent der jetzigen Alpengletscherfläche da sein«, sagt der Professor. »Den hier will ich jedenfalls bis zum bitteren Ende begleiten. Mal sehen, wer zuerst verschwindet.«

      Der Professor grinst.

      Der Professor hat noch immer ein kleines Büro an der Universität. Und das, obwohl er schon seit zehn Jahren in Pension ist. Dank seiner Messreihe kann er jedes Jahr wieder Fördergelder aufstellen und zwei Assistenten beschäftigen. Einer von ihnen soll später einmal die Messreihe übernehmen. Das Schlimmste wäre, wenn es zu einer Lücke käme. Dann wären all die Jahre umsonst gewesen. Der Professor hat kein Jahr ausfallen lassen. Als er sich einmal im Urlaub ein Bein gebrochen hat, ist er pünktlich wie jedes Jahr zu seinen Messpunkten gegangen. Es war eine Qual und ein Kampf gegen die Schmerzen und gegen den Berg, aber er hat es geschafft. Auf seinem Schreibtisch liegen stapelweise Artikel. In den Regalen stehen Bücher, die sich blockweise aneinanderreihen. Es sind Bücher, die er selbst geschrieben hat. Bücher, die noch in Folie verpackt und dutzendweise eingereiht sind. Dazwischen liegen überall Steine. Er nimmt einen Stein und gibt ihn mir in die Hand.

      »Das Stück, das Sie jetzt in Händen halten, ist zehntausendzweihundert Jahre alt«, sagt er stolz.

      Ich zucke automatisch zurück.

      »Kann ich das einfach so halten, ohne Handschuhe?«, frage ich.

      Der Professor lacht.

      »Das ist nur Holz. Das ist ein Baumstamm von einer Zirbe. Dort, wo heute die Gletscherzunge ist, war damals ein Zirbenwald. Der war schon im Labor und ist durchanalysiert.«

      Er kramt herum und sucht etwas. Einen Schlüssel. Er schließt damit den Aktenschrank auf und nimmt ein Fotoalbum heraus. Das Album ist voll mit historischen Fotografien.

      »Da, schau«, sagt er.

      Ich weiß nicht, was er meint. Ich sehe den Gletscher in seiner vollen Pracht.

      »Warte«, sagt er und hält mir Satellitenaufnahmen vor die Nase.

      »Dein Herz schlägt auch für den Gletscher«, sagt er. »Das hab ich gleich gesehen.«

      Ich nicke.

      »Siehst du«, sagt er, »der Gletscher verändert sich. Ich gehe immer am gleichen Tag. Vier Mal im Jahr. Jedes Jahr. Das sind Stellen, da kommt sonst keiner hin. Da spazierst du nicht mal so eben vorbei.«

      Er macht eine bedeutungsschwangere Pause.

      »Ich habe Bohrlöcher gefunden. Probebohrungen. Irgendjemand bohrt meinen Gletscher an.«

      »Bohrlöcher wofür?«, frage ich.

      »Ich habe keine Ahnung. Es gibt kein Projekt da oben, das ist alles Naturschutzgebiet. Da gibt’s nichts zu bohren.«

      »Vielleicht ein Forschungsprojekt?«, frage ich.

      Der Gletscherforscher schnaubt.

      »Das wüsste ich!«, sagt er laut. »Ich gehe nächste Woche wieder hinauf. Außerplanmäßig.«

      3

      Die Umweltschutzorganisation hat mir für jedes neue Foto ein Extrahonorar geboten. Jedes neue Foto heißt, ein historisches Gletscherfoto zu finden und es mit dem heutigen Zustand zu vergleichen. Das Abschmelzen sichtbar zu machen. Sie sagen, sie brauchen das gar nicht unbedingt für die Dokumentation des Klimawandels, den bezweifelt inzwischen niemand mehr. Außer ein paar rechtspopulistische Politiker. Es ist vielmehr ein Service für nachfolgende Generationen, sie sollen die letzten Reste der Gletscher noch zu sehen bekommen. Es soll ein »Museum der Gletscher« werden. Das ist eine Idee, die vom isländischen Künstler Ólafur Elíasson inspiriert ist. Elíasson dokumentierte die Gletscher auf Island in allen Ausformungen, die das Eis ausbildete. Solche Details wollen sie gar nicht, sie wollen einfach eine schöne Totale.

      Doch wer weiß, vielleicht kehrt sich die Geschichte schneller wieder um als erwartet, und es ist wie damals, als 1815 der Vulkan Tambora in Indonesien ausbrach. Das darauffolgende Jahr war das Jahr ohne Sommer. Wegen der Ernteausfälle brach eine Hungersnot aus, aber die Kälte hatte auch noch andere Auswirkungen: Die Gletscher stießen vor. Damals setzte ein erster Tourismusboom im Hochgebirge ein, alle wollten die Gletscher in ihrer vollen Pracht sehen. Lord Byron bezeichnete den Gletscher als einen erhabenen Ort ewiger Stille und kristalliner Reinheit.

      Vulkane gäbe es genug, die wieder einen solchen Klimawandel auslösen könnten. In Island zum Beispiel würde der Ausbruch der Bárðarbunga genügen, um das Weltklima zu verändern.

      »Na, wie geht’s?«, fragt Erik am Telefon.

      Seit einiger Zeit ist er in Reykjavik, um Vulkane zu erforschen. Er hat sich auf Gletschervulkane spezialisiert. Manchmal ruft er jede Woche an, und dann wieder drei Wochen nicht.

      »Brauchst du Geld?«, frage ich ihn jedes Mal, wenn er anruft, und er verneint auch diesmal wieder.

      In der Familie ist er jetzt derjenige, der ein fixes Einkommen und keine Geldprobleme hat. Er wusste immer schon, dass er Wissenschaftler werden will, schon als kleines Kind wünschte er sich einen Chemiebaukasten und ein Mikroskop. Er sezierte Fliegen und Ameisen und spießte Schmetterlinge auf Nadeln auf, der geborene Naturforscher. Ich habe ihn in seinem Interesse unterstützt, aber nicht gelenkt. Schritt für Schritt hat er selbst die Welt entdeckt, und ich habe nur zugesehen, mit welcher Begeisterung er die Natur eroberte. Als Kind bettelte er den Leiter der Wolfsstation so lange an, bis er im Sommer drei Wochen lang mitarbeiten durfte. Als Jugendlicher schrieb er dem Leiter des Sonnblick-Observatoriums, ob er ihn im Sommer auf die Wetterbeobachtungsstation begleiten darf – und er durfte.

      Der Job in Island war ein Glücksfall.

      »Und du?«, fragt er und lacht, »brauchst du Geld?«.

      Ich lache auch. Lustig ist es aber eigentlich nicht.

      4

      Ein paar Wochen später schlage ich die Zeitung auf und lese im Chronikteil eine kleine Meldung: »Gletscherleiche freigelegt. Am Presena Gletscher wurde durch die hochsommerlichen Temperaturen wieder eine Gletscherleiche freigelegt. Es handelt sich um einen Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg. Schon im Jahr 2013 waren zwei Tote aus dem Ersten Weltkrieg geborgen worden. Damals konnten zwei rund zwanzig Jahre alte Soldaten der Österreichisch-Ungarischen Armee identifiziert werden. Sie waren bei Gefechten durch Granatsplitter tödlich am Kopf getroffen worden. Der neuerliche Leichenfund ist wieder ein Soldat, der Gletscherarchäologe Hans Sturm ist zuversichtlich, dass auch seine Identität über die Uniform geklärt werden kann.«

      Ich möchte diesen Gletscherarchäologen treffen. Neben dem offiziellen Auftrag der Umweltschutzorganisation habe ich noch ein privates Projekt für ein Fotobuch. Ich porträtiere Menschen, die ihr Leben dem Gletscher widmen. Denn auch sie sind eine aussterbende Spezies. Der Gletscherarchäologe ist nach dem Professor erst mein zweiter Kandidat. Ich rufe ihn an und frage, ob ich zu seiner nächsten Grabung mitkommen darf. Er ist sehr offen und freut sich über mein Interesse. Seine Grabungszeit ist sehr eng begrenzt, meist nur Juli, August und September, in den letzten Jahren haben die Witterungsbedingungen aber sogar noch im Oktober Grabungen in den Hochgebirgsregionen

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