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      »Das ist das Schneedepot. Was schätzt du, wie hoch der Haufen ist?«

      »Keine Ahnung. Fünfzehn Meter?«

      »Fünfundzwanzig Meter!«, sagt er triumphierend.

      »Wie kommt der denn dahin?«, frage ich. »Schmilzt der bei der Hitze nicht?«

      »Den haben wir im Winter mit den Pistenraupen zusammengeschoben, dann ein weißes Filzvlies drüber, und fertig ist der Reserveschnee. Was schätzt du, wie breit der Haufen ist?«

      »Keine Ahnung«, sage ich wieder.

      »Zweihundert Meter!«

      Ich nicke anerkennend, vermutlich sind die Schneehaufen auf anderen Gletschern kleiner, sonst würde er das wohl nicht so betonen.

      »Und wie lange hält der?«, frage ich.

      »Der hält schon eine Zeit lang. Damit haben wir ein bisschen Spielraum. Die Gäste wollen schließlich Schnee sehen. Echten Schnee.«

      Die Araber steigen aus der Gondel. Sie haben sich im Tal feste Winterschuhe und einen Anorak ausgeliehen. Es gibt schon vier Geschäfte, die auf die neuen Herausforderungen reagiert haben. Früher haben sie Ski und Skischuhe an die Touristen verliehen, aber die neue Gästeschicht kann gar nicht skifahren. Die will nur Schnee schauen. Und den gibt es nur noch auf dem Gletscher. »Gletscherbahnen« steht in großen Buchstaben auf dem Rücken der Araber. Oben am Gipfel stürzen sie sich gleich auf den zentimeterdünnen Streifen mit Frischschnee. Und simulieren eine Schneeballschlacht. Das haben sie wahrscheinlich im Internet gesehen. Sie lachen und wälzen sich im Schnee. Ich kann gar nicht sagen, was daran eigenartig ist. Es sieht irgendwie aus wie Spaß, aber es ist keiner. Fritz hat damit jedenfalls keine Freude.

      »Jetzt müssen wir bis zur Ankunft der nächsten Gruppe gleich wieder beschneien«, sagt Fritz verärgert. »Die sind wie Kinder«.

      Die Araber merken erst jetzt, wie kalt der Schnee ist und dass ihre Hosen nass geworden sind. Davon war im Internet keine Rede. Sie pusten sich die warme Luft in die zusammengefalteten Hände.

      Ich sehe mich um und entdecke gleich neben der Bergstation eine Schneekanone. In der Garage dahinter stehen mindestens zehn von ihnen.

      »So viele?«, frage ich Fritz.

      »Die Schneekanonen müssen dem Gletscher immer weiter nachrücken. Jedes Jahr wird ihr Einsatzgebiet größer. Deshalb brauchen wir immer mehr von denen.«

      Fritz muss zurück ins Tal. Die Gondel ist schon wieder voll mit Touristen, die genug vom Gletscher haben. Er zeigt mir noch den Weg zum Gletschermuseum, obwohl der gar nicht zu übersehen ist. Große Bildtafeln weisen zum Museum, das erst vor kurzem in den Berg gebaut wurde.

      Ein Mann mit Tirolerhut empfängt eine Gruppe von Chinesen. Die Chinesen wissen vermutlich nicht, dass wir nicht in Tirol sind. Er muss noch warten, bis die Gruppe komplett ist. In der Zwischenzeit frage ich den Mann mit dem Tirolerhut, ob zurzeit viele Touristen kommen.

      »Siehst ja«, sagt er.

      Ein gesprächiger Führer, ideal für den Job, denke ich. Neugierig bin ich aber trotzdem.

      »Warum brauchen die denn ein Museum am Gipfel, das ist doch ein herrliches Panorama?«, frage ich.

      »Heute!«, sagt er. »Bei der Sonne! Aber was machst du mit den ganzen Leuten, wenn es regnet, wenn die Wolken in den Bergen hängen?«

      Das habe ich mir noch nie überlegt. Was macht man am Berg, wenn man nichts sieht?

      »Na, eben«, sagt er. »Jetzt kannst du ins Museum gehen. Die Bergkristalle bewundern und dir anhören, wie der Berg von innen klingt.«

      »Da sind Bergkristalle drinnen?«, frage ich begeistert nach.

      »Nein«, sagt er. »Schautafeln über Bergkristalle. Das reicht eh. Die meisten bleiben sowieso im Gletscherkino hängen.«

      »Was gibt’s da zu sehen?«, frage ich, weil die Chinesen noch immer nicht vollzählig sind. Ein paar sind aufs Klo gegangen und scheinen nicht wiederzukommen.

      »Einen Film.«

      »Aha«, sage ich.

      »Den Leuten musst du einen Film zeigen, in dem sie sehen, wie schön die Natur ist. Wenn sie dann aus dem Kino kommen, erkennen sie die Sachen wieder und freuen sich. Die können gar nicht mehr selber schauen«, sagt er.

      »Wir verkaufen nicht die Berg- und Talfahrt. Wir verkaufen ein unvergessliches Erlebnis«, wird der Geschäftsführer der Gletscherbahnen später zu mir sagen.

      Ich spaziere durch den mystisch beleuchteten Bergstollen, der Boden ist mit Gummimatten ausgelegt, er ist weich wie Gras. Man hört seinen eigenen Schritt nicht, obwohl jedes Räuspern ein Echo zurückwirft. Ich bin allein im Berg. Da hat sich jemand etwas einfallen lassen, man kann einen alten, vollbeladenen Holzkarren hochhieven und sich wie ein Bergarbeiter in alten Zeiten fühlen. In der nächsten Koje kommt eine Werbung für die Amethystwelt, die nicht weit entfernt ist. Wunderbare Lichtspiele! Zweihundert Meter geht es bergab, dann bricht der Stollen aus dem Berg aus, und ich stehe auf einer Plattform und blicke durch die Metallgitter in ein paar Hundert Meter Tiefe.

      Ich stelle mein Stativ auf und fotografiere das Gletscher-Panorama, bevor ich im Berg zurück hinauf und zu den Punkten gehe, die mir die Umweltschutzorganisation aufgetragen hat. Von dort aus werden jedes Jahr Fotos gemacht, bis der Gletscher endgültig verschwunden sein wird. Der Fotograf, der das bisher gemacht hat, ist gestorben. Gut, dass er das Ende nicht erlebt, haben die Umweltschützer gesagt, das hätte er nicht verkraftet. Ich habe seine Fotos aus den Sechzigerjahren mit, die Perspektive muss stimmen, damit die Bilder dann im Zeitraffer geschnitten und abgespielt werden können. Damit die Dramatik besser zur Wirkung kommt.

      2

      Der Professor hat angeboten, mit mir auf den Gletscher zu fahren. Er kennt den Gletscher wie kein anderer. Seit fünfzig Jahren schon macht er Messungen auf dem Berg. Während seiner Studentenzeit hat er damit begonnen, aus reinem Forscherinteresse, sagt er. Erst im Lauf der Jahre stellte sich heraus, wie wertvoll eine derartige Langzeitreihenmessung ist.

      »Das sind Daten, die kann mir niemand mehr nehmen«, meint er. »Die Forscher werden untereinander immer misstrauischer. Die Jungen eignen sich Daten an, die ihnen nicht gehören. Die wissen gar nicht mehr, dass man ins Feld hinaus muss, um Datenreihen zu bekommen. Dass man durch meterhohen Schnee waten muss, in Gletscherspalten zu stürzen droht und mit eisigem Wind zu kämpfen hat. Dass man meterhohe Schneeschächte graben muss. Die glauben, die Daten sind von alleine im Internet, die muss man nur herunterkopieren. Ich bin der einzige weltweit, der so lange Messreihen hat – fünfzig Jahre«, sagt er triumphierend zu mir. »Weltweit! Meine Daten kennt jeder Glaziologe von Grönland bis Chile! Ich hab 1963 begonnen, das war das erste Haushaltsjahr, und durch Extrapolationen und Berechnungen komm ich mit der Messreihe bis in die Vierzigerjahre zurück. Gut, es gibt noch andere Messreihen, die über fünfzig Jahre gehen, aber die hat nicht ein Forscher alleine gemacht. Ich kenne den Gletscher wie kein anderer.«

      Der Gletscher hat ein Eigenleben. Er kommt und er geht. Es ist nicht so, dass er sich immer nur zurückzieht. Es hat Jahre gegeben, da ist der Gletscher vorgerückt. 1965, das war ein unheimlich spannendes Jahr, da waren die Sommer kühl und die Winter schneereich, daher haben die Gletscher an Masse aufgebaut, sie haben wieder vorzustoßen begonnen. Das Sonnblickkees-hat zehn Millionen Kubikmeter an Masse zugenommen, da hat sich ein riesiges Nährgebiet aufgebaut.

      »Was glauben Sie, wie die jungen Kollegen neidisch sind, dass ich noch einen Vorstoß erlebt habe! Und gemessen habe!«

      Als wir am Gletscherrand ankommen, zeigt mir der Professor eine Hinweistafel: »Gletscherlehrpfad«. Er zieht seine Jacke aus, lässt die Sonne auf seine braungebrannten Arme strahlen. Er ist trotz des Aufstiegs überhaupt nicht verschwitzt.

      »Den haben sie ohne mich gemacht«, sagt er.

      Ich weiß nicht, ob er mehr enttäuscht oder verärgert ist.

      »Den

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