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      »Tun wir auch, schon immer. Aber dieses war ein Mord, und der ist ein Bärendienst an den Opfern von Trump und Konsorten. Und auch an allen, die in den nächsten zwei Tagen auf die Straße wollen.«

      »Nele, du wolltest los«, erinnert Tjark sie an ihr Vorhaben.

      »Ja, doch.«

      Nele lacht, dreht sich um und eilt Richtung Ausgang. Tjark, Birte und Jan bleiben noch. Es geschieht viel an diesen Tagen, über das sich das Reden lohnt.

      ***

      »Ich kann hier nicht herumsitzen und reden, während auf der Straße protestiert wird. Vor allem, nachdem Sven gestorben ist«, unterbricht Birte das Gespräch. »Kommt ihr mit in den Hafen?«

      Tjark und Jan wissen, dass Birte mit Hafen keineswegs Schiffsanlegeplätze oder Containerentladestationen meint, sondern die Hafenstraße mit ihren elf in den Achtzigerjahren besetzten Häusern und dem angrenzenden Altonaer Fischmarkt, dem kopfsteinbepflasterten Platz, auf dem sich sonntagmorgens ab fünf in der Früh die Nachtschwärmer und Touristen tummeln, der unzähligen Marktständen Platz bietet und über dem der Wind den Geruch brackigen Elbwassers mit dem Duft von Blumen und Gewürzen mischt. Dieser Platz ist als Versammlungsort für die Vorabenddemo genehmigt worden. Er liegt weit genug entfernt von der Demonstrationsverbotszone, die einen großen Teil der Stadt umfasst.

      Die drei wagen den Versuch, mit der U-Bahn zu fahren, und haben Erfolg: kein eingeschränkter Verkehr, keine Überfüllung, keine gesperrten Stationen. An den Landungsbrücken steigen sie aus und gehen die Hafenstraße hinauf. Gruppen von Demonstranten ziehen in unterschiedliche Richtungen, Polizeieinheiten mit Wasserwerfern und Panzern dominieren die Straße. Tränengas zieht an der Elbe entlang.

      Birte weist auf einen Polizeibus vor ihnen. Ein Jugendlicher, dessen Hände auf dem Rücken gefesselt sind, wird abtransportiert. Umstehende protestieren lautstark und wütend.

      »Lasst uns hier rechts hoch. Von oben können wir Richtung Fischmarkt schauen.«

      Tjark ist die Situation nicht geheuer. Er spürt, dass sie ein unkalkulierbares Risiko eingehen, wenn sie sich weiter dem Fischmarkt nähern. Birte und Jan stimmen ihm zu und sie gehen den Elbhang hinauf.

      Dicht an dicht stehen Demonstranten, Passanten und Anwohner am Geländer der Straße und auf einer über die Hafenstraße führenden Fußgängerbrücke. Durch den Nebel der Tränengasschwaden blickt Birte auf ein Gewimmel von Menschen, auf das sie sich keinen Reim machen kann. Sie spricht einen neben ihr stehenden Mann an.

      »Was ist denn hier passiert?«

      »Die Polizei hat die Demo nicht losgehen lassen und sie direkt auf dem Fischmarkt aufgelöst. Jetzt weiß niemand, wie es weitergeht.«

      »Wegen dem Schwarzen Block?«

      »Vorn waren wohl tausend im schwarzen Block, aber nur einige von ihnen vermummt. Dahinter standen bestimmt noch zehntausend, unvermummt. Die Polizei ist dann rein in den schwarzen Block. Das ging gleich zur Sache. Viele sind in Panik über die Hochwassermauer geflüchtet. Ich habe nur noch an die Loveparade in Duisburg gedacht.«

      Aus den Worten des Unbekannten spricht Aufregung und Unverständnis.

      »Lass uns zurück. Hier können wir nur herumstehen und gaffen.«

      Tjark behagt die Situation nicht und Birte und Jan schließen sich ihm, über den Polizeieinsatz schimpfend, an. Sie ziehen durch die engen Gassen von St. Pauli Richtung Reeperbahn. Jan blickt sich immer wieder um. Er will vermeiden, eingekesselt zu werden und nicht mehr vor oder zurück zu können. Auf der Reeperbahn werden sie von zahlreichen Wasserwerfern, Räumpanzern und einer Unmenge Behelmter erwartet. Sie reihen sich in die Menge ein, die die Gehwege okkupiert hat und von dort Parolen ruft und das Geschehen lautstark kommentiert. Jan deutet Richtung Nobistor, von wo Sprechchöre herüberwehen. Eine Spontandemo hat sich gebildet; die Polizei macht ihr zögerlich die Straße frei. Birte, Tjark und Jan reihen sich ein.

      Am nächsten Tag wird in den hinteren Seiten der Zeitungen stehen, dass laut Polizeiangaben achttausend Menschen über die Reeperbahn gezogen sind, friedlich und fröhlich. Aber auf Seite eins künden die Schlagzeilen von der Schlacht im Hafen.

      Nadel im Heuhaufen

      »Von anderen schlecht zu denken ist zwar eine Sünde, aber man hat oft recht damit.«

      Giulio Andreotti

      Monrovia, Liberia (2016)

      Samuel und seine Frau Musu stehen an ihrem Stand auf dem Markt. So kann es nicht weitergehen, sagt Samuel zu seiner Frau. Nein, kann es nicht, antwortet sie. Dann schweigen sie und beobachten, wie einkaufende Frauen an ihrem Stand vorbeiziehen. Samuels und Musus Traum ist zerstört.

      Vor zwei Jahren begannen sie, Hähnchen zu mästen. Hilfsorganisationen aus Europa unterstützten sie und finanzierten den Beginn ihrer Existenz. Sie fuhren mit lebenden Hühnern zum Markt, schlachteten sie dort und verkauften sie frisch an ihre Kunden. So wie andere Züchter und Händler auch. Denn wer will schon Fleisch, welches am Vortag geschlachtet wurde und dann stundenlang bei dreißig Grad und sengender Sonne auf einem Marktstand liegt? Und schnell mit Keimen verseucht ist?

      Die anderen Hühnerhändler erscheinen nicht mehr auf dem Markt, sie haben aufgegeben. Nur Samuel und Musu stehen noch dort. Doch auch sie überlegen aufzuhören.

      Samuel und Musu haben mehrmals den Preis für ihre Hühner gesenkt. Aber mit den Importen aus Europa, und besonders aus Deutschland, können sie nicht konkurrieren. Noch weiter senken können sie ihn nicht, wenn sie über die Runden kommen wollen.

      In Deutschland, hat Samuel gelesen, werden 630 Millionen Hühner jährlich geschlachtet, um Hähnchenbrust, Flügel und Keulen zu verkaufen. Der Rest der Tiere, etwa dreißig Prozent eines Hühnchens, zählt als Abfall. Hähnchenrücken, Hähnchenhälse und Hähnchenfüße.

      Der Export nach Afrika hilft, die Abfallentsorgungskosten zu senken; die Entsorgung tierischer Abfälle ist teuer in Europa. Ob die Kühlkette bis auf den Markt von Monrovia hält?

      42 Millionen Kilo Geflügelteile aus Deutschland überschwemmen Afrikas Märkte. Da bleibt kein Platz für Samuels und Musus frische Hühnchen. Und auch nicht für die anderer Kleinbauern. Die Käufer fragen nicht nach der Keimbelastung des Fleisches, denn der niedrige Preis schont den Geldbeutel, in dem sowieso viel zu wenig ist.

      Lass uns einpacken, schlägt Samuel seiner Frau vor. Ja, sagt Musu. Heute Abend brate ich uns ein Hähnchen. Frisches Fleisch, nicht so wie das aus den aufgetauten Tiefkühlpackungen. Das ist gut, antwortet Samuel. Er freut sich. Musu kann gut kochen.

      Auf den Markt in Monrovia werden sie nicht mehr fahren. Samuel überlegt, ob er es mit Schweinefleisch versuchen sollte. Ob das eine Zukunft für sie ist?

      Im Moment lässt sich damit noch Geld verdienen, aber Samuel hat auch gelesen, dass die Lieferungen von Schweinefleisch aus Europa nach Afrika zunehmen.

      Am Rande des Sperrgebietes residiert die Hamburger Staatsanwaltschaft. Im dritten Stock erblickt Jensen neben einer der zahlreichen Türen ein Plexiglasschild mit der Aufschrift Staatsanwalt Müller. Er klopft an und tritt ein. Moser befindet sich bereits im Büro des Staatsanwaltes; die beiden sind in ein lebhaftes Gespräch vertieft.

      »Moin«, grüßt Jensen.

      Der Staatsanwalt unterbricht seine Unterhaltung mit Moser abrupt und wechselt übergangslos das Thema.

      »Gut, fangen wir an. Herr Moser, wie ist der Stand?«

      Moser streicht sich, wie gewöhnlich, wenn er sich konzentriert, über seine Stoppelhaare. Über Nacht hat sich nichts Neues ergeben, ihm fällt die Zusammenfassung leicht. Müller ist unzufrieden.

      »Wieso ist bei der Fahndung nichts herausgekommen?«

      »Der Täter muss unerkannt aus dem abgesperrten Gebiet herausgekommen sein. Wie, wissen wir nicht.«

      »Haben

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