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warten, bis Cairo mit lauwarmem Kaffee in Pappbechern zurückkommt. Sich eng aneinander haltend schieben sie sich durch das Gedränge der Besucher.

      Nach einer Weile entdecken sie den gesuchten Stand. Seine Frontseite ist mit einem Tuch versehen, auf das jemand mit makelloser Schrift Die Täter müssen bestraft werden geschrieben hat.

      Cairo wird schweigsam, Isa steigen Tränen in die Augen und Nele geht wortlos zum Kondolenzbuch. Wofür? schreibt sie hinein und Wir vergessen dich nicht.

      Hakim und Bernd diskutieren mit der Frau am Stand. Schnell sind sie sich einig, dass Svens Tod ein staatlicher Mord war.

      »Die schützen sich gegenseitig. Ich wette, der Mörder wird für immer frei bleiben.«

      Hakims Wut ist nicht verraucht, und Bernd empfindet es als Skandal, dass nicht ernsthaft nach dem Polizisten gesucht wird, der Sven zu Fall gebracht hat.

      »Und wenn Sven einfach nur gestolpert ist?«

      Nele mischt sich ein. Sie tut sich schwer mit der Schublade Mord. Selbst wenn sich ein Verursacher für Svens Sturz finden ließe, und selbst wenn sich derjenige oder diejenigen finden ließen, die in der panischen Situation Sven auf den Kopf und in den Rücken getreten haben – juristisch wäre das kein Mord. Aber moralisch?

      »Nele, was bist du spitzfindig geworden! Wird man so, wenn man die fünfzig überschritten hat?«, ärgert sich Bernd.

      »Wie meinst du das?«

      »Es war ein konkreter Mensch, der den Einsatzbefehl für einen absolut übertriebenen Polizeieinsatz gegeben hat. Und der trägt die Verantwortung. Und wenn sich nicht ermitteln lässt, wer Sven umgestoßen hat und über ihn hinweggetrampelt ist, dann doch der, der den Befehl gegeben hat. Seinen Namen kann man herausfinden. Alles andere ist Quatsch. Die Befehlsgeber sollten wir nicht laufen lassen; solche Zeiten müssen ein für alle Mal vorbei sein.«

      »Zumindest trägt er die moralische Verantwortung.«

      »Täter bleibt Täter«, stößt Cairo zu den Diskutanten und gibt seinen Senf dazu.

      Nele meldet sich mit ihrem Namen.

      »Sie?«

      Hauptkommissar Jensen stellt überrascht eine kurze und überflüssige Frage. Es ist Monate her, dass Nele seine sonore Stimme zuletzt gehört hat. Ihr Klang hat Nele immer gefallen. Doch ihre Gedanken an die Bekennermail verhindern, dass sie ihre Aufmerksamkeit dem Ton der Stimme widmet.

      »Ja, ich«, antwortet sie ähnlich knapp.

      Jensens Ungeduld verhindert, dass sich das beginnende Gespräch zu einem entwickelt, wie es verkrachte Verliebte miteinander führen, aber nicht ein Bürger mit der Polizei.

      »Wissen Sie, es ist gerade ein ganz schlechter Zeitpunkt. Eine Kollegin von mir ist erschossen worden.«

      »Deswegen rufe ich Sie an.«

      »Was? Sind Sie wieder mitten drin?«

      »Wie man es nimmt. Die Stadtrundschau hat ein Bekennerschreiben bekommen.«

      »Lesen Sie vor!«

      »Moment! Ich schlage vor, Sie kommen in die Redaktion und ich zeige Ihnen den Text. Aber nur unter einer Bedingung: Sie machen den Brief nicht öffentlich, bevor morgen früh die Stadtrundschau erschienen ist.«

      »Mir scheint, Sie arbeiten inzwischen wie Ihre großen Konkurrenten. Haben Sie mir nicht einst von einer alternativen Zeitung vorgeschwärmt, nur dem investigativen Journalismus verpflichtet?«

      »Daran glaube ich immer noch. Auch an die Arbeit im Kollektiv. Doch dort ist die Mehrheit dagegen, dass ich Sie einbeziehe; zumindest zu diesem Zeitpunkt. Ich brauche das Zugeständnis von Ihnen, dass das Schreiben bis morgen nur für Ihre Ermittlungen zur Verfügung steht und Sie es nicht an andere Redaktionen weitergeben.«

      »Es ist jetzt keine Zeit für Diskussionen. Ich komme bei Ihnen vorbei. Vielleicht ist das Schreiben gar nicht vom Täter, sondern von jemandem, der sich wichtigtun will. Wir werden sehen. Bis gleich.«

      Jensen ruft Moser an. Diesen vielleicht entscheidenden Hinweis kann er nicht für sich behalten. Der Staatsanwalt hat nicht ihn, sondern Moser mit der Leitung der Soko beauftragt. Er versteht sich nicht gut mit Moser, aber es wäre unfair, ihn zu übergehen.

      Moser geht nicht ans Telefon, und im Haus befindet er sich auch nicht. So macht Jensen sich, ohne ihn informiert zu haben, zusammen mit Wiebke Maurer und zwei Kollegen der Ermittlungsunterstützung auf den Weg durch die Stadt.

      Es ist, als ob ein Fahrverbot ausgerufen wäre; die Straßen sind, im Gegensatz zum gestrigen Tag, geisterhaft leer – wenn man von den Kolonnen blaulichtbespickter Einsatzfahrzeuge absieht.

      Jensen und Wiebke Maurer lassen sich von zwei Kollegen begleiten. Wer weiß, was sie im Viertel erwartet. Jensens Begleiter schweigen während der Fahrt, und er gibt sich seinen Gedanken hin.

      Er hat sich über den Tag nur am Rande mit Nachrichten versorgen können. Connys Mörder schnell auf die Spur zu kommen, hält er für wichtiger.

      Von den gewalttätigen Aktionen und Zerstörungen am Morgen hat er nur wenig mitbekommen. Dass diese unbehelligt von der Polizei, deren Priorität die Gewährleistung der Sicherheit der Staatsgäste ist, stattgefunden haben, hat ihn erschreckt und nachdenklich gemacht. Von den vielen friedlichen Protesten hat er nichts gehört. Sie stehen nicht im Fokus der Nachrichten.

      Jensen fragt sich, wie es so weit kommen konnte und ob nicht all diejenigen recht gehabt haben, die einen G20-Gipfel in einer Großstadt für eine nicht so gute Idee gehalten haben.

      Der Bürgermeister hat den Bewohnern ihre Sicherheit garantiert. Von diesem Versprechen ist nicht viel übrig geblieben. Und der Gipfel ist noch nicht vorbei. Jensen bricht das Schweigen im Auto und teilt seine Fragen mit seinen Kollegen.

      »Tagelang sind aus allen Bundesländern Kolonnen von Mannschaftswagen in die Stadt gerollt. Vor Hotels, Tagungsorten und rund um das Rathaus sind Betonsperren aufgebaut worden, die neuerdings Legosteine genannt werden. Seit Tagen werden an Kontrollposten Passanten kontrolliert. An den Grenzübergängen wird kontrolliert und einigen Reisenden die Einreise verweigert. Trotzdem haben die Kollegen auf der Straße die Lage nicht im Griff. Was ist da los?«

      »Die Stimmung hat sich in den letzten Tagen ganz schön hochgeschaukelt«, versucht sich Wiebke Maurer mit einer Erklärung. »Alle sind nervös. Kein Wunder, die Medien überbieten sich gegenseitig mit der Prophezeiung gewalttätiger Auseinandersetzungen. Und die Aktivisten diskutieren, wie sie sich gegen Polizeigewalt schützen können.«

      »Hast du mitbekommen, dass der bei einer Blockade verletzte Demonstrant vor drei Tagen seinen Verletzungen erlegen ist?«, fragt Jensen.

      »Ja. Tragisch. Die Stadtrundschau spricht von einem staatlichen Mord. Nicht direkt, nicht geplant, denn es mangelt juristisch gesehen an einer heimtückischen Tötungsabsicht. Aber das harte Vorgehen der eingesetzten Polizeieinheiten, der Befehl des Einsatzführers, all das hat den Tod des Jugendlichen zur Folge gehabt. Die Zeitung verlangt eine Untersuchung des Todesfalls und eine Bestrafung der Schuldigen.«

      Jensen fragt sich, ob Nele den Artikel geschrieben hat. Er traut es ihr zu. Aber ihre Forderung wird nichts daran ändern, dass die bisherigen und die kommenden Ereignisse den Tod des Jugendlichen zu einer Randnotiz des G20-Gipfels werden lassen. In wenigen Wochen werden sich nur noch seine Familie und seine Freunde an ihn erinnern. Niemand sonst.

      Sie parken vor dem Viertel und gehen zu Fuß weiter. Eine gute Idee, denn die meisten Zufahrtsstraßen sind gesperrt, entweder durch Polizeikräfte oder Demonstranten und Bewohner.

      Die Straßen im Viertel gehören den Menschen. Die Stimmung schwankt zwischen gespannter Erwartung, latenter Aggressivität und unpassender Fröhlichkeit.

      Hubschrauber kreisen im Himmel

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