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verletzt?», fragte Herr Saxe langsam.

       «Sicher nicht! Ich weiss selber noch nicht einmal was genau passiert ist. Ich hatte eine Auseinandersetzung, fuhr davon und erwachte danach vor einer defekten Frontscheibe.»

      Ich wischte mir die Tränen aus den Augen. Die alten wurden durch neue abgelöst.

      «Was geht hier vor sich? Wieso fragen Sie mich so etwas?», erkundigte ich mich.

      Marcus Saxe teilte mir mit, dass die Medien voll mit Spekulationen seien und man mich als Amokfahrer hinstelle, der absichtlich Menschen verletzt und eine Person getötet habe. Was das für ein Gefühl ist, kann man kaum beschreiben, man fühlt sich, als wäre man in der Hölle erwacht, in einer Art Paralleluniversum, wo sich die Welt gegen einen gerichtet hat. «Ein Mensch ist tot, mehrere verletzt.» Dieser Satz rotierte in meinem Kopf und lähmte meinen Körper. Meinen Kopf besetzten per sofort zusätzliche Fragen. Wer ist der Verstorbene? Wer sind die Verletzten? Wie kam es dazu? Der Anwalt orientierte mich. Ich würde zuerst von der Polizei und in den kommenden Tagen von einem Staatsanwalt vernommen, wobei ich mich nun bei der ersten Einvernahme mit Reden zurückhalten solle, bis sich meine Gedanken geordnet und ich vor allem Schlaf und Ruhe hinter mir hätte. Kurz nach diesen Anweisungen erfolgte eine erste polizeiliche Einvernahme, wobei ich mit einer Hand durch Handschellen an einen Heizungsradiator gefesselt wurde. Nach der Einvernahme wurde mir mitgeteilt, ich würde nun in die Polizeikaserne gebracht, wo ich erst mal verweilen müsse, bis man die weiteren Schritte geprüft hätte. So wurde ich vom Polizeiposten abtransportiert und kam zu einem neuen Gebäude namens Kaserne. Bei der Kaserne handelt es sich um das Zürcher Polizeigefängnis, wo die Straftäter kurz verbleiben und anschliessend entweder wieder frei gelassen oder in ein Untersuchungsgefängnis überstellt werden. Es handelt sich dabei um ein Gebäude, das auch als Schlachthalle einer Grossmetzgerei durchgehen könnte. Ein Aufseher nahm mich in der Kaserne entgegen, drückte mir einige Zigaretten und eine Schüssel Suppe in die Hand und brachte mich in eine Zelle, in der sich bereits eine Person befand. Die Türe schloss sich hinter mir und mein Puls raste wie wild.

      «Hallo», entgegnete mir der Zellenbewohner und wies mich an zu sitzen.

      Ich setzte mich auf eine Art Holzbank vor einen kleinen Tisch, begrüsste mein Gegenüber und begann mich umzuschauen. Ein düsterer Raum umgab uns, spartanisch mit einem Bett und einem offenen Toilettenbereich eingerichtet.

      «Kann ich eine Zigarette von dir haben?», fragte mich der Fremde.

      Ich bejahte und zündete ihm eine an. Der Mann schien jung. Er war dunkelhäutig, hatte eine Brille und erinnerte vom Typ her an einen Studenten.

      «Du siehst ja übel aus, wer hat dich so zugerichtet?», fragte der Mann mit prüfendem Blick.

      «Was?», erkundigte ich mich nach einigen Sekunden und realisierte nicht, was er meinte.

      «Schau mal selbst in den Spiegel hinter dir», doppelte der Fremde nach.

      Ich erhob mich, begab mich zum Spiegel und beim Blick hinein blieb mein Puls einmal mehr kurz stehen. Meine Haare waren in alle Richtungen verteilt, mein Gesicht war mit gut hundert kleinen Rissen übersät, überall an meiner Haut waren noch Blutspuren erkennbar. Mein Unterarm war mittlerweile violett und meine Hände voller Krusten. Ich ging zurück zum Tisch und bediente mich ebenfalls einer Zigarette.

      «Willst du darüber reden?», erkundigte sich der dunkelhäutige Fremde.

      Nach kurzem Überlegen fing ich an zu reden. Ich kam nur etwa zu drei Sätzen, als das Gegenüber meinte:

       «Ah, du bist das! Über dich höre ich schon den ganzen Tag im Radio. Sie berichteten fast den ganzen Tag von dir. Es gab eine Sondersendung von der Langstrasse. Du hast Menschen umgefahren und jemanden getötet.»

      Ich war baff und die Tränen schossen erneut aus meinen Augen. Ich erklärte ihm, dass ich mittlerweile auch vom Unfall Kenntnis hätte, jedoch nicht von den genauen Details.

      «Also hast Du gar niemanden absichtlich getötet und verletzt?», erkundigte er sich.

      «Sicher nicht, wie kommt ihr nur alle auf so einen Mist», konterte ich und bat um etwas Ruhe.

      In meinem Kopf kreisten so viele Fragen: Was ist genau passiert? Wer wurde verletzt? Wer ist gestorben? Wo ist meine Familie? Wie geht’s meiner Familie? Wie muss es den Verletzten gehen? Wie muss es der Familie des Verstorbenen gehen? Wie geht es weiter? Meine Gedanken nahmen kein Ende, dazu kam immer noch das nervende Piepsgeräusch, das mich verfolgte, was, wie ich später erfahren habe, vom Airbag stammte. Durch den Druck, welcher durch den Aufprall eines Airbags erfolgt, kann es zu tagelangen Hörproblemen kommen. Ich legte mich ins Bett und versuchte den Vorabend zu resümieren und die momentane Situation zu realisieren, aber das Denken viel mir schwer. Die Tränen drückten, alles schmerzte, trotz Müdigkeit brachte ich kein Auge zu. Ich begab mich zum Notfallgerät der Zelle und drückte. Eine Stimme erkundigte sich nach meinem Problem. «Ich benötige jemanden zum Reden, mir geht es nicht gut», erklärte ich. Man teilte mir mit, ich müsse mich gedulden, man hätte den Notfallpsychiater für mich bestellt. Ich bedankte mich mit leiser Stimme und begab mich ins Bett zurück, wo ich versuchte, den Vorabend gedanklich zu ordnen.

       Der 10. Februar 2012

      Es war ungefähr 16 Uhr als ich an der Langstrasse, im Zürcher Kreis 4, ankam. Ich begab mich in die Elite Bar an der Langstrasse 139, wo ich einst als Geschäftsführer tätig und jetzt wieder in einer ähnlichen Funktion beschäftigt war. Die Elite Bar, ist ein seit über 25 Jahren bestehendes Nachtlokal, im Herzen der Langstrasse gelegen, im Zürcher Milieu. Die Lokalität war in zwei Teile unterteilt. Auf der rechten Seite befand sich ein Imbiss und auf der linken Seite, im Hauptteil, die Bar mit einer kleinen Tanzfläche. Das Ambiente war nicht mehr auf dem neusten Stand, es überzeugte dafür durch sein liebevoll zusammengestelltes Inventar. Betrat man das Lokal, fühlte man sich in eine andere Welt versetzt und man konnte sich von den südamerikanischen Barmaids bedienen lassen. Der Besitzer Kadir war ein Freund, wir kannten uns schon länger. Er war in den Fünfzigern und zählt im Kreis 4 als Urgestein des Milieus. Er war ein etwas korpulenter Mann mit längeren schwarzen Haaren und einem imposanten Auftreten. In den letzten Jahren entwickelte er sich allerdings immer mehr zum Familienmensch und zog sich nach und nach etwas in den Hintergrund. Er überliess den exekutiven Teil des Geschäfts seinem Schwager und zeitweise mir. Als ich in der Elite Bar ankam, war Kadir noch nicht da. Wir telefonierten und er meinte dabei:

       «Bin gleich bei dir Sascha.»

      In meiner Hand trug ich eine CD und einige Musterflyer für eine geplante Karnevalsparty, ganz im Stil von Rio de Janeiro. Offiziell war ich heute nicht am Arbeiten, aber die Vorbereitungen lagen mir am Herzen und die Flyer mussten in Druck gehen.

      «Sieht super aus, wird bestimmt ein Erfolg», äusserte sich Kadir, als er meine Flyer sah.

       «Bleibst du heute hier? Kannst ruhig oben schlafen, den Schlüssel hast du ja.»

      «Mal schauen, bleibe sicher noch eine Weile, ob ich ganz bleibe, weiss ich noch nicht», antwortete ich.

      Ich begab mich zum DJ Pult und brachte mit Latino-Musik Stimmung ins Lokal. Im gewohnten Milieuambiente nahm der Abend seinen Lauf. Bajram, ein guter Bekannter, betrat nach einer Weile die Elite Bar. Bajram war ein Jahr jünger als ich. Er war eine imposante Erscheinung und kannte sich im Milieu aus. Sein Vater war jahrelang als Türsteher tätig. Wir kannten uns alle schon des Längeren. Bajram arbeitete in einem benachbarten Nachtbetrieb als Türsteher.

      «Hast du heute frei? Machen wir später mal wieder eine Runde?», fragte Bajram.

       «Warum nicht, komm später vorbei, ok?»

      «Ok, mach ich», und so beschloss ich, den Abend im Kreis 4 zu verbringen.

      Isa, der Schwager von Kadir, betrat nach etwa zwei Stunden ebenfalls die Elite Bar und begrüsste

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