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ihm zu. »Leiden Sie, leiden Sie, mein Freund, Sie werden groß werden, Ihre Schmerzen sind der Preis Ihrer Unsterblichkeit. Ich wollte, ich hätte die Mühen eines Kampfes zu überstehen. Gott behüte Sie vor einem schlaffen und kampflosen Leben, wo die Schwingen des Adlers nicht Raum genug finden! Ich beneide Sie um Ihre Leiden, denn Sie leben wenigstens! Sie werden Ihre Kräfte zur Geltung bringen. Sie erhoffen den Sieg: Ihr Kampf wird glorreich sein. Wenn Sie in dem herrlichen Reich angelangt sind, wo die großen Geister thronen, dann erinnern Sie sich der Armen, die vom Schicksal enterbt sind, deren Geist unter dem Druck moralischer Stickluft vernichtet wird und die zugrunde gehen mit dem beständigen Wissen um das Leben, ohne dass sie doch hätten leben können, die scharfe, durchdringende Augen gehabt und doch nichts gesehen haben, einen feinen Geruchssinn und doch keinen Duft empfunden haben als von verpesteten Blüten. Besingen Sie alsdann in Ihrer Dichtung die Pflanze, die inmitten eines Waldes vertrocknet, erstickt von Lianen, von wuchernden Schmarotzerpflanzen, ohne dass die Sonne sie gekost hätte, die stirbt, ohne geblüht zu haben! Wäre das nicht ein Gedicht von grausiger Melancholie, ein ganz und gar phantastischer Stoff? Was für ein himmlisches Bild, die Zeichnung eines jungen Mädchens, das unter dem Himmel Asiens geboren wurde, oder der Tochter der Wüste, die in irgendein kaltes Land des Okzidents verpflanzt wurde und nach ihrer geliebten Sonne ruft, die an Schmerzen stirbt, die niemand begreift, und in gleicher Weise von der Kälte und von der Liebe vernichtet wird! Das wäre der Typus so gar manchen Menschendaseins.«

      »Sie würden dann die Seele beschreiben, die sich des Himmels erinnert«, sagte der Bischof. »Übrigens muss dieses Gedicht früher einmal gemacht worden sein, ich habe mit Freude ein Fragment davon im Hohenliede gefunden.«

      »Das müssen Sie machen«, sagte Laura von Rastignac und brachte mit diesen Worten einen naiven Glauben an Luciens Genie zum Ausdruck.

      »Es fehlt Frankreich ein großes religiöses Gedicht«, sagte der Bischof. »Glauben Sie mir, auf den Mann von Talent, der für die Religion arbeitet, warten Ruhm und Reichtum.«

      »Er wird es machen, Monseigneur,« entgegnete Frau von Bargeton emphatisch. »Sehen Sie nicht, wie die Idee dieses Gedichts schon wie ein flammendes Morgenrot in seinen Augen aufblitzt?«

      »Naïs behandelt uns schlecht,« sagte Fifine; »was macht sie denn?«

      »Hören Sie nicht?« entgegnete Stanislaus; »sie reitet auf ihren großen Worten, die nicht Kopf noch Schwanz haben.«

      Amélie, Fifine, Adrian und Francis erschienen in der Tür des Boudoirs. Sie hatten sich Frau von Rastignac angeschlossen, die ihre Tochter suchte, da sie wegfahren wollte.

      »Naïs,« sagten die beiden Frauen, die sich freuten, dass sie die Abgeschiedenheit des Boudoirs störten, »es wäre sehr liebenswürdig, wenn Sie uns ein Stück spielten.«

      »Meine Liebe,« antwortete Frau von Bargeton, »Herr von Rubempré will uns seinen ›Johannes auf Patmos‹ rezitieren, ein prächtiges biblisches Gedicht.«

      »Biblisch?« wiederholte Fifine erstaunt.

      Amélie und Fifine kehrten in den Salon zurück und brachten dieses Wort dahin als neuen Stoff für den Spott. Lucien entschuldigte sich, er könne das Gedicht nicht rezitieren, da er es nicht auswendig wisse. Als er wieder erschien, erregte er nicht mehr das geringste Interesse. Alle plauderten oder spielten. Der Dichter war aller seiner Strahlen beraubt worden; die Grundbesitzer sahen in ihm nichts, was irgend nützlich sein könnte; die Prätentiösen fürchteten ihn als eine Macht, die gegen ihre Unwissenheit feindlich auftrat; die Frauen, die auf Frau von Bargeton, die Beatrice dieses neuen Dante, wie der Generalvikar sie genannt hatte, eifersüchtig waren, warfen ihm Blicke voll kalter Verachtung zu.

      »Das ist also die große Welt!« sagte Lucien zu sich selbst, als er über die Treppen von Beaulieu nach Houmeau hinabstieg, denn es gibt im Leben Augenblicke, wo man den längeren Weg vorzieht, um im Gehen sich seinen Gedanken zu überlassen.

      Lucien war nicht entmutigt, im Gegenteil, die Wut des Ehrgeizigen, der eine Niederlage erlitten hat, gab ihm neue Kräfte. Wie alle Leute, die von ihrem Trieb in eine höhere Sphäre geführt werden, wo sie anlangen, ehe sie sich halten können, versprach er sich, alles zu opfern, um in der hohen Gesellschaft festen Fuß zu fassen. Während er ging, entfernte er die Giftpfeile, die auf ihn abgeschossen worden waren, einen nach dem andern, sprach laut mit sich selbst, fand große Worte gegen die Dummköpfe, mit denen er zu tun gehabt, feine Antworten auf die dummen Fragen, die man ihm gestellt, und war verzweifelt über diesen seinen Treppenwitz. Als er auf der Straße nach Bordeaux angekommen war, die sich über den Ufern der Charente am Fuß des Berges hinschlängelt, glaubte er im Mondschein Eva und David in der Nähe einer Fabrik auf einem Balken am Ufer sitzen zu sehen und stieg auf einem Fußpfad zu ihnen hinab.

      Während Lucien sich zu seiner Folter bei Frau von Bargeton begeben hatte, hatte seine Schwester ein Kleid aus gestreiftem rosa Perkal, ihren genähten Strohhut und einen kleinen Seidenschal angetan. In diesem einfachen Anzug nahm sie sich aus, als ob sie geschmückt wäre, wie es allen Frauen geht, deren angeborene Hoheit die geringsten Zutaten hervorhebt. Daher war David überaus verschüchtert, als sie jetzt so anders vor ihn hintrat, als bisher in ihrem einfachen Arbeitsgewand. Der Drucker hatte sich zwar vorgenommen, von sich zu sprechen, fand aber nichts mehr zu sagen, als er der schönen Eva den Arm reichte und sie zusammen durch Houmeau gingen. Es gibt in der Liebe häufig diese respektvolle Furcht, die jener gleicht, in die die Herrlichkeit Gottes die Gläubigen versetzt. Schweigend überschritten die beiden Liebenden die St. Annabrücke, um das linke Ufer der Charente zu gewinnen. Eva, der das Schweigen peinlich war, blieb mitten auf der Brücke stehen, um den Fluss zu betrachten, der von dieser Stelle bis zu dem Platz, wo die Pulvermühle erbaut war, eine breite, ruhige Fläche bildet, über die jetzt die untergehende Sonne einen leuchtenden Lichtstreifen warf.

      »Welch schöner Abend!« sagte sie, nach einem Gesprächsstoff suchend; »die Luft ist zugleich lau und frisch. Die Blumen duften, der Himmel ist wunderbar.«

      »Alles redet zum Herzen,« antwortete David, der mit Hilfe von Analogien auf das Thema seiner Liebe zu kommen hoffte. »Liebende finden ein unendliches Vergnügen darin, in den Bildern einer Landschaft, in der durchsichtigen Luft, in den Düften des Bodens die Poesie zu finden, die ihre Seele erfüllt. Die Natur redet für sie.«

      »Und sie löst ihnen auch die Zunge«, sagte Eva lachend. »Sie waren, als wir durch Houmeau gingen, so schweigsam. Es war mir ganz peinlich...«

      »Ich fand Sie so schön, dass ich beklommen war«, antwortete David naiv.

      »Da bin ich also jetzt weniger schön?« fragte sie.

      »Nein, aber ich bin so glücklich, allein mit Ihnen spazieren zu gehen...«

      In größter Verlegenheit unterbrach er sich und blickte nach den Hügeln hinüber, über die sich die Straße von Saintes hinabzieht.

      »Wenn Sie an diesem Spaziergang Freude haben, bin ich glücklich, denn ich fühlte die Verpflichtung, Ihnen für den Abend, den Sie mir geopfert haben, einen andern zu schenken. Als Sie es zurückwiesen, zu Frau von Bargeton zu gehen, waren Sie ganz ebenso edelmütig wie Lucien, als er es auf sich nahm, sie mit seiner Forderung zu erzürnen.«

      »Nicht edelmütig, sondern klug«, antwortete David. »Da wir allein sind, nur den Himmel über uns, ohne andere Zeugen als das Schilf und die Büsche am Ufer der Charente, gestatten Sie mir, liebe Eva, Ihnen von den Sorgen zu sprechen, die mir der Weg macht, den Lucien jetzt schreitet. Nach dem, was ich Ihnen eben gesagt habe, werden Ihnen meine Befürchtungen hoffentlich als übergroße Freundschaftssorge erscheinen. Sie und Ihre Mutter haben alles getan, um ihn über die Lage, in der Sie sich befinden, hinauszuheben,– aber haben Sie ihn nicht, als Sie so seinen Ehrgeiz erregten, unbedachterweise auf einen Weg gebracht, auf dem ihn große Leiden erwarten? Wie wird er sich in der Welt halten können, in die seine Neigung ihn hineintreibt? Ich kenne ihn! Er hat eine Natur, die die mühelose Ernte liebt. Die Pflichten der Gesellschaft werden ihm seine Zeit stehlen, und die Zeit ist das einzige Kapital der Menschen, deren ganzes Vermögen in ihrem Geist besteht; er liebt zu glänzen, die Welt wird seine Begierden reizen, keine Summe wird groß genug für sie sein, er wird Geld ausgeben und keins verdienen;

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