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Sie sehnte sich direkt danach, ihren Blaumann anzuziehen, in die Stiefel zu schlüpfen und sich auf der Baustelle ans Werk zu machen. Hoffentlich, dachte sie, verschieben sie den Arbeitsbeginn nicht noch weiter – jetzt, wo ich wieder fit bin, darf es gern so schnell wie möglich losgehen!

      *

      »Du musst dich zusammenreißen, Sabine«, sagte Barbara Gerold nach einem nachdenklichen Blick auf ihre Freundin. »Du siehst aus wie ein Gespenst, das ist in unserem Beruf nicht so günstig. Mich hat schon jemand gefragt, ob du krank bist oder Liebeskummer hast.«

      »Und was hast du geantwortet?«

      »Dass deine Mutter krank ist und du dir Sorgen um sie machst. Warum gehst du nicht zu Robert und erklärst ihm, was los ist?«

      »Weil er eine Freundin hat.«

      »Vielleicht trennt er sich von ihr – schließlich war er ziemlich lange ziemlich heftig in dich verliebt. Das kann sich ja nicht alles von heute auf morgen in Luft aufgelöst haben.«

      »Von heute auf morgen vielleicht nicht, aber ich habe ihn ja immer ziemlich deutlich abblitzen lassen, und irgendwann hat es ihm dann wohl einfach gereicht. Ich komme mir so blöd vor, Babs!«

      »Das ist ja auch eine unangenehme Situation. Trotzdem: Rede mit ihm, das ist der einzige Rat, den ich dir geben kann.«

      »Und wenn er mich nicht will?«

      Barbara verlor die Geduld. »Ich will dir mal was sagen, Biene: Ein Jahr lang beschwerst du dich über Robert, der dich mit seiner Liebe verfolgt, obwohl du nichts von ihm wissen willst, und ich habe mir alles geduldig angehört. Nun stellst du fest, dass du dich leider geirrt hast und doch etwas für ihn empfindest. Riskier endlich was! Wenn dir etwas an ihm liegt, dann bemüh dich um ihn. Tust du das nicht, hör auf, über ihn zu reden, ich bin es nämlich allmählich leid! Und ich sage dir noch etwas: Solltest du nur etwas für Robert empfinden, weil er gerade unerreichbar ist, kündige ich dir die Freundschaft!«

      Sabine war so entgeistert, dass ihr im ersten Augenblick die Worte fehlten. »Du stellst mich ja hin«, brachte sie endlich heraus, »als wäre ich ein Monster. Ich habe mich doch nicht absichtlich in meinen Gefühlen geirrt.«

      »Nein, das glaube ich auch nicht – aber ich nehme schon an, dass du das nicht zu schätzen weißt, was du leicht haben kannst. Hast du dagegen das Gefühl, dass etwas oder jemand unerreichbar ist, dann wird das Unerreichbare plötzlich wertvoll. Denk mal darüber nach. Das ist nämlich kein besonders netter Charakterzug.«

      Das Erscheinen einer Kollegin unterbrach sie. Sabine blieb an diesem Tag einsilbig, und Barbara versuchte nicht, ihr ein weiteres Gespräch aufzudrängen. Sie nahm an, dass ihre Freundin Zeit brauchte, um sich ein paar Gedanken zu machen – und diese Zeit wollte sie ihr gern einräumen.

      *

      Eberhard Hagedorn, der lang-jährige Butler auf Schloss Sternberg, behielt auch an Tagen wie diesem die Übersicht, wo sich zahlreiche Gäste auf dem Schlossgelände befanden, die gekommen waren, um ein berühmtes Orchester und einige Künstler mit großen Namen zu hören. Unauffällig dirigierte er die Bediensteten, die heute von

      etlichen zusätzlich angeheuerten Hilfskräften unterstützt wurden. Das Wetter war strahlend, sodass die Veranstaltung wie geplant draußen im Park stattfinden konnte. An mehreren Ständen wurden Erfrischungen und Kleinigkeiten zu essen angeboten – von dieser Möglichkeit machten die meisten Gäste Gebrauch. Wie immer bei einem solchen Anlass fand man sich mindestens zwei Stunden vor Beginn des Konzerts ein, um Bekannte und Freunde begrüßen und in Ruhe mit ihnen reden zu können.

      Als Eberhard Hagedorn, etwa eine Stunde vor Beginn des Konzerts, der Küche einen kurzen Besuch abstattete, traf er die junge Köchin Marie-Luise Falkner ein wenig abgehetzt, aber glücklich an. Bei solchen Veranstaltungen war sie in ihrem Element, sie liebte die Herausforderung, und wie immer meisterte sie auch diese mit Bravour. »Die Leute reißen sich förmlich um Ihre kleinen Köstlichkeiten, Marie«, berichtete der alte Butler. »Ich bin nur gekommen, um Ihnen das zu sagen.«

      Sie strahlte ihn an. »Danke, Herr Hagedorn – warten Sie nur, wenn die nächste Fuhre fertig ist. Das schlägt alles!«

      Schmunzelnd verließ er die Küche wieder und warf genau in dem Moment einen Blick auf den Schlossplatz, als eine weitere Limousine vorfuhr. Ihr entstiegen

      Eliane und Johannes von Braun mit ihrer Tochter Albertina. Eberhard Hagedorn sah alle drei zum ersten Mal, aber selbstverständlich hatte er sich vorher mit dem Äußeren der zu erwartenden Gäste vertraut gemacht, damit er sie auf angemessene Weise begrüßen konnte. Nicht umsonst nannte man ihn einen perfekten Butler.

      Er ging ihnen entgegen, um sie in Empfang zu nehmen.

      *

      »Ich war wirklich lange nicht hier«, stellte Carl fest. Er hatte sich von seinen Eltern getrennt und schlenderte mit Anna und Chris-tian durch den Schlosspark.

      »Woran siehst du das?«, fragte Anna erstaunt. »Hier sieht doch alles wie immer aus – oder nicht?«

      »Nicht ganz, würde ich sagen. Ihr beide zum Beispiel habt euch ziemlich verändert.«

      »Sehen wir erwachsener aus?«, fragte Anna hoffnungsvoll.

      »Das kann man wohl sagen.«

      Anna hatte eine weitere Frage stellen wollen, doch eine verspätete Limousine, die soeben den Schlossplatz erreicht hatte, erregte ihre Aufmerksamkeit. »Wer ist das denn?«, fragte sie verwundert. »Drei Leute, die wir nicht kennen, Chris.«

      Auch Christian und Carl wandten sich jetzt der Limousine zu. »Kennst du die Leute, Carl?«

      »Nein, nie gesehen«, antwortete Carl. Zu den drei Neuankömmlingen gehörte eine attraktive, sehr elegante junge Frau mit kurzen schwarzen Haaren.

      »Herr Hagedorn scheint aber zu wissen, wer sie sind«, meinte Anna, »er …« Sie brach ab. »Wir sind ja blöd, Chris! Das muss Albertina von Braun mit ihren Eltern sein.«

      »Stimmt«, gab Christian zu, »alle anderen Gäste kennen wir.«

      »Albertina von Braun?«, fragte Carl. Er war zugleich zornig – auf seine Mutter, die dieses Zusammentreffen garantiert eingefädelt hatte – und verwirrt. Diese elegante junge Frau konnte nicht die fluchende, schimpfende, sich wie ein Mann gebärdende Person sein, die er auf der Baustelle beobachtet hatte, das war unmöglich! Wahrscheinlich war er einem Irrtum erlegen und hatte die Falsche beobachtet …

      »Komm mit, Carl, wir begrüßen sie«, schlug Anna vor.

      Er folgte ihr und Christian, seine Neugier war auf jeden Fall größer als der Zorn auf seine Mutter. Die würde sich später einiges anhören müssen, aber zuerst wollte er sich diese Albertina mal aus der Nähe ansehen!

      *

      Albertina fühlte sich wie immer beengt und unwohl in ihrem eleganten silbergrauen Seidenkleid und den schmalen Pumps. Ihr Fuß muckte zwar noch nicht auf, aber er würde es tun, wenn sie lange auf ihren hohen Absätzen herumlaufen musste, das war ihr klar. Nun ja, beim Konzert konnte sie sitzen und die Pumps unauffällig ausziehen – und das hatte sie auch vor.

      Sie sah zwei Jugendliche auf sich zukommen, einen Jungen und ein Mädchen. Vermutlich der kleine Fürst und seine Cousine, dachte sie. Mit einem Mal freute sie sich darüber, ihre Eltern begleitet zu haben. Es war schön hier – aus weiter Ferne stiegen ein paar Kindheitserinnerungen an das Schloss und seinen wundervollen Park in ihr auf.

      Erst als die beiden Teenager sie schon beinahe erreicht hatten, stellte sie fest, dass sie von einem gut aussehenden, ziemlich großen Mann etwa ihres Alters begleitet wurden, dessen Augen forschend auf sie gerichtet waren. Sie hatte ihn nie zuvor gesehen, dessen war sie sicher. Sein Gesicht gefiel ihr – er sah so aus, als wüsste er, was er wollte, und die Fältchen um seine Augen verrieten, dass er gern lachte. Mit Menschen, die keinen Humor hatten, konnte sie nichts anfangen. Nur: Warum guckte er sie so an wie ein Polizist, der einem Verdächtigen auf den Grund der Seele blicken will, um seine Geheimnisse zu ergründen?

      Eberhard

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