Скачать книгу

auch ein paar für deinen Vater und deinen Großvater übrig. Und iss nicht zu viele, sonst hast du später keinen Hunger mehr.«

      Ich ging in die Küche, schnappte mir eine Handvoll der fantastischen Kekse meiner Großmutter und polterte die Treppe zu meinem Zimmer hinauf. Mein Vater und mein Großvater waren draußen im Garten und säuberten die Grillstelle von nassem Laub. Ich beobachtete sie durch mein Schlafzimmerfenster, wollte sie aber nicht auf meine Anwesenheit aufmerksam machen, damit ihnen nicht einfiel, mich in ihre Arbeit mit einzuspannen. Ganz abgesehen davon würde ich ihnen dann ja auch erklären müssen, was meinem Gesicht so übel zugespielt hatte.

      Nachdem ich meine Kekse aufgegessen hatte, legte ich eine Bruce-Springsteen-Kassette in den Rekorder und schnappte mir meine Akustikgitarre, um ein bisschen dazu mitzuspielen, wobei ich das Fenster und die Arbeiten im Garten halb im Auge behielt.

      Als meine Großmutter beide zum Abendessen ins Haus rief, machte ich die Musik aus und hetzte in das obere Badezimmer, um mir Gesicht und Hände zu waschen. Bis mein Vater müde und schwer schnaufend zur Hintertür hereinkam, hatte ich mich längst auf meinem Platz am Küchentisch niedergelassen und war bereit, mich dem Unausweichlichen zu stellen.

      »Wann bist du nach Hause gekommen?«, erkundigte er sich, während er sein kariertes Flanellhemd abstreifte und über seinen Stuhl hängte. Er ging ans Spülbecken, um sich die Hände zu waschen.

      »Vor ein paar Minuten erst«, log ich und war froh, dass sich meine Großmutter außer Hörweite befand.

      Als er zum Tisch zurückkehrte, blieb er reglos stehen, sobald sein erster richtiger Blick auf mich gefallen war. »Was ist denn mit deinem Gesicht passiert?«

      »Ich habe mich blöd angestellt«, flunkerte ich. »Wir haben im Park Baseball gespielt und jemand hat einen kurzen, hohen Ball geschlagen. Ich wollte ihn fangen, aber die Sonne hat mich geblendet und da traf mich der Ball auch schon mitten im Gesicht.«

       »Autsch.« Mein Vater nahm mein Kinn in seine Hand und neigte meinen Kopf zur Seite, um sich die Verletzungen genauer anzusehen. »Ein einziger Ball hat dich am Auge und der Lippe getroffen?«

      Kleinlaut antwortete ich: »Sieht so aus.«

      »Das muss ja ein ziemlicher Schlag gewesen sein.« Er lächelte mich müde an. »Schätze, deine Freunde haben sich prächtig darüber amüsiert.«

      »Schon.«

      »Welcher Park?«

      »Was?«

      »In welchem Park habt ihr gespielt?«, fragte er, als er mir gegenüber Platz nahm.

      »Oh. Im December Park.«

      »Hmmm.« Er breitete seine Serviette aus. »Tu mir einen Gefallen und halte dich von diesem Park fern, ja?«

      »Wieso das denn?«

      »Nur für eine Weile. Wenn du in einen Park gehst, dann bitte in einen, der nicht so weit weg von zu Hause ist.«

      »Ist es wegen dieses Mädchens? Des toten Mädchens?«

      Das müde Lächeln kehrte in sein Gesicht zurück, aber nur flüchtig. »Ich würde mich einfach wohler fühlen, wenn du dich nicht allzu weit weg von zu Hause aufhalten würdest, Angie.«

      »Okay. Mach ich.«

      Als meine Großeltern nacheinander in die Küche kamen, musste ich beiden je einzeln erneut die erfundene Geschichte von dem Baseball erzählen, den ich ins Gesicht bekommen hatte. Meine Großmutter stellte das Essen auf den Tisch und wir vier aßen zur Monologkulisse meines Großvaters, der immer wieder über den katastrophalen Zustand des Landes schwadronierte – der Zigarrenladen, in dem er Stammkunde war, hatte einen neuen Kassierer, der unserer Sprache nicht mächtig war.

      Mir fiel Scotts Bitte ein: meinen Vater nach den vermissten Jugendlichen aus unserer Stadt zu fragen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich so ein Thema bei ihm anschneiden sollte – er sprach mit mir oder meinen Großeltern nie über seine Arbeit –, und ich vermutete, dass er die Fragen, die ich eventuell aufbrachte, sowieso nicht einmal ernst nehmen würde.

      Ich dachte mir, andere Jungs in meinem Alter wären sich bestimmt äußerst cool vorgekommen, wenn ihr Vater Detective bei der Polizei gewesen wäre – das war genauso, wie meine Freunde von der Tatsache fasziniert waren, dass sich in meinem Haus eine Waffe befand –, ich jedoch verschwendete kaum je einen Gedanken darüber. Ich wusste auch nicht, ob mein Vater in seinem Job gut war oder nicht (obwohl ich davon ausging, dass er es war), wie er sich bei seiner Arbeit fühlte oder wie lange er vorhatte, sie noch auszuüben. Ich wusste noch nicht einmal, ob er schon jemals einen Menschen erschossen hatte. Ich fragte ihn nie danach und auch redete er von sich aus nicht darüber. Bis zu einem gewissen Grad hatte er mit Charles immer darüber gesprochen, aber das war zu einer anderen Zeit in seinem Leben gewesen.

      Nachdem der Tisch abgeräumt war und sich meine Großeltern zum Fernsehen ins Wohnzimmer zurückzogen, blieb mein Vater noch am Tisch sitzen, nippte an einem Glas Rotwein und starrte abwesend aus dem Fenster. Ich füllte ihm Wein nach und wollte gerade die Flasche in den Küchenschrank zurückstellen, als er mich fragte: »War das deine erste Schlägerei?«

      Einen Moment lang wusste ich nicht, wovon er sprach. Er hatte mich, wie so oft, eiskalt erwischt, als ich nicht darauf gefasst war. Es hätte nicht viel genützt, zu versuchen, ihn von der Geschichte über den scharfen Ball, den ich angeblich mit dem Gesicht gefangen hatte, zu überzeugen. »Ähm, ja, war es wohl. Wieso weißt du das?«

      »Glaubst du, ich war nie fünfzehn?«

      »Ich wollte einfach nicht darüber reden«, verteidigte ich mich schwach.

      »Wer war es?«

      »Ein paar Typen aus der Schule.«

       »Typen? Mehr als einer?«

      »Nun, nur einer von ihnen hat mich geschlagen.« Ich hatte nicht vor, im Detail darauf einzugehen, wie zwei von Keeners Freunden meine Arme festgehalten hatten, während Keener mich mit seinen Fäusten bearbeitet hatte.

      »Hat der Kerl angefangen?«

      »Ja.«

      Er lächelte mit nur einem Mundwinkel. »Hast du es zu Ende gebracht?«

      Ich konnte nicht umhin, auch ein wenig zu lächeln. »So ähnlich.«

      »Weißt du noch, wie ich dir und deinem Bruder das Kämpfen beigebracht habe?«

       »Klar«, antwortete ich. Er hatte Boxhandschuhe aus der Polizeisporthalle mit nach Hause gebracht und uns die Grundlagen der Selbstverteidigung beigebracht. Fangt niemals eine Prügelei an, hatte er uns eindringlich belehrt, aber lasst auch niemals zu, dass jemand Hand an euch legt. Ihr müsst wissen, wie man sich selbst schützt.

      Mein Vater betrachtete das Weinglas in seiner Hand, dann starrte er aus dem Fenster.

      Es wurde gerade erst allmählich dunkel und ich konnte Gruppen verkleideter Kinder sehen, die von Haus zu Haus gingen. Ihre Beutel aus Kissenbezügen prallvoll mit Süßigkeiten gefüllt, marschierten sie im Licht der Dämmerung die hohen Gehsteige entlang. In gewissem Abstand folgten ihnen Minivans, in denen die Eltern saßen, die in diesem Jahr besondere Vorsicht walten ließen.

      »Grandma meinte, ich solle nach nebenan gehen und den Nachbarn Kekse bringen«, räumte ich ein.

      »Klingt gut«, erwiderte mein Vater, den Blick immer noch aus dem Fenster gerichtet.

      Wenige Minuten später zog ich mir meine Jacke über und machte mich mit einem Teller Haferflocken-Rosinen-Kekse, den ich in einer Hand balancierte, nach nebenan auf. Der Umzugswagen war irgendwann um die Abendessenszeit herum wieder gefahren und das ganze Haus war abermals totenstill. Selbst die umherziehenden Kinder machten aus irgendeiner Motivation heraus einen Bogen um das Haus, obwohl es vermutlich vielmehr daran lag, dass es noch immer unbewohnt aussah.

      Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte ich, ob ich das Ganze nur geträumt hatte – den Umzugswagen und die Möbelpacker, die Schachteln voller Comichefte und das Unwirklichste an der ganzen Sache:

Скачать книгу