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nachdenklich. »Welchen Weg hat sie genommen?«

      »Das weiß ich nicht«, antwortete die Dame in der Zentrale.

      »Ist sie den Bergpfad hinaufgegangen«, fragte Dr. Trautner, »oder am Karbach entlang?«

      »Den Bergpfad ist sie nicht hinauf.« Weiter kam die Dame der Zentrale nicht, denn Dr. Trautner hatte den Hörer schon auf die Gabel gelegt.

      Ihm ging durch den Kopf, was Rosenberg gesagt hatte. Projektion im psychoanalytischen Sinn heiße, daß eigene Gefühle, auch Schuld, auf andere übertragen werde. Wenn Bettina Wagner vorhatte, sich das Leben zu nehmen, würde die Hemmschwelle, es zu tun, dann nicht automatisch tiefer gelegt? Konnte es nicht sein, daß sie mit einem Suizidversuch Stolzenbach eine Schuld übertragen wollte, die ihn ihr gegenüber verpflichten würde?

      Dr. Trautner sah auf die Uhr, sagte rasch drei Termine ab, zog sich noch rasch festes Schuhwerk an und verließ dann die Klinik Richtung Predigtstuhl-Alm. Er folgte diesmal nicht dem kürzeren und direkten Bergpfad, sondern ging am Karbach entlang, der sich in einem weiten Bogen aus dem Gebirge herunterschlängelte.

      Plötzlich fiel ihm die alte Brücke ein. Hatte sich da nicht ein Haltebolzen gelöst? Bettina Wagner mußte nicht mal beabsichtigen, sich etwas anzutun! Wenn sie den hölzernen Steg begehen würde, konnte der Bolzen jederzeit aus der Verankerung springen, und sie würde in die Tiefe gerissen.

      Plötzlich donnerte es, und gleich darauf zuckte ein greller Blitz vom Himmel, so daß Trautner erschrocken zusammenfuhr. Erst jetzt sah er, daß ein Wetter aufgezogen war. In den Bergen passierte so etwas mitunter binnen weniger Minuten, und man mußte zusehen, daß man sich rechtzeitig in Sicherheit brachte.

      Die Karbach-Klamm war gerade an der Stelle des Stegübergangs sehr steil und tief; schon vorher waren dort einige waghalsige junge Burschen umgekommen, die die Klamm an dieser Stelle hatten überqueren wollen und dabei abgestürzt waren.

      Inzwischen zuckte Blitz um Blitz vom Himmel, und es hatte heftig zu regnen begonnen. Zuerst fielen nur ein paar Tropfen, doch dann schüttete es wie aus Kübeln, sogar Hagel prasselte mit herunter.

      Vinzenz Trautner wurde immer nervöser. Nicht des Wetters wegen, dem er schutzlos ausgesetzt war, sondern weil er an Bettina Wagner dachte und daran, was Dr. Rosenberg gesagt hatte.

      Dann schlug plötzlich ein Blitz ein. Ganz in seiner Nähe schlitzte es eine hohe Föhre der Länge nach auf.

      Vinzenz Trautner begann zu rennen. Er stolperte, fiel ein paarmal der Länge nach hin, riß sich an scharfen Felsen den Arm auf. Daß er vollkommen durchnäßt war und heftig blutete, spürte er gar nicht, er mußte Bettina Wagner finden. Sie noch einholen…!

      Blitz auf Blitz züngelte derweil herunter, manchmal sogar mehrere gleichzeitig, es mußten zwei oder drei Gewitter sein, deren Kraft sich noch lange nicht erschöpft hatte. Dunkelgelbe und schwarze Wolken mischten sich am Himmel, walgten ineinander, immer wieder von neuen Blitzstrahlen ausgeleuchtet, die ein Inferno zeichneten, wie Vinzenz Trautner es noch nicht erlebt hatte.

      Mit letzter Kraft quälte er sich weiter, immer wieder warf es ihn zu Boden, inzwischen blutete er aus mehreren Wunden. Er hatte nur einen Gedanken, er mußte Bettina Wagner finden, sie brauchte Hilfe.

      »Heilige Jungfrau«, murmelte Trautner vor sich hin, »ich hab’ dich net oft angefleht, jetzt tu ich’s. Laß ihr nix geschehen sein. Bitte…!«

      Dann war er da, wo der Steg einmal mit starken Stahlschrauben im Felsen verankert gewesen war, die Balken standen bizarr in die Luft. Wenn Bettina Wagner hier hinabgestürzt sein sollte, gab es keine Rettung mehr für sie.

      Vinzenz Trautner stand längst nicht mehr; er robbte und kroch nur noch voran, er sah zum Erbarmen aus. Mit letzter Kraft zog er sich zur Klamm, wischte sich das Wasser aus den Augen, um besser sehen zu können. Da bekam er zum ersten Mal mit, daß er heftig blutete. Die vom wolkenbruchartigen Regen aufgepeitschten Wassermassen zerrten derweil an den Stegbalken, die tief in der Schlucht ächzten und zerbarsten.

      Trautner zog sich noch ein Stück weiter vor, noch konnte er wegen eines überhängenden Felsstücks nicht die ganze Breite der Klamm einsehen.

      Im gleichen Moment zuckte ein Blitz herunter und erhellte die Szene in der Klamm. Trautner meinte, sein Herz bliebe stehen, denn ganz am diesseitigen Felsrand ragte ein Arm aus dem Wasser, dann sah er ein Stück Schulter, dann war wieder Nacht um ihn herum.

      *

      »Das ist er also!« Der alte Lois lächelte Clemens Stolzenbach verschmitzt an. »Grüß’ Sie Gott, lieber Professor.«

      »Grüß Gott, Herr Gratlinger«, antwortete Stolzenbach. »Lassen Sie den Professor weg. Die Moni hat mir von ihrem Großvater so viel vorgeschwärmt, und Doktor Trautner hat ebenfalls von Ihnen erzählt, ich bin selten so neugierig auf einen Menschen gewesen wie auf Sie.«

      »Machen S’ mich net verlegen«, wehrte der Lois ab, »und glauben S’ denen kein Wort. Der Vinzenz ist vorbelastet, mit dem bin ich in die Schul’ gegangen, und das Madel«, er lächelte Monika zärtlich an, »na ja, welches Madel würd’ von ihrem Großvater nix Nettes sagen?«

      Dann unterhielten sie sich über die einmalig schöne Lage der Alm, daß es nur ein Katzensprung vom Sterzenhof herüber war. Plötzlich zogen Gewitterwolken auf, und gleich darauf zuckten die ersten Blitze vom Himmel.

      »Kommt schon herein«, forderte der Lois seine Besucher auf, und als sie in der Hütte waren, tobte das Unwetter bereits.

      »Das ging aber rasch«, sagte Clemens Stolzenbach. Er schüttelte sich, denn er hatte Monika rasch seine Jacke übergeworfen.

      Es wurde immer dunkler, Regen prasselte vom Himmel und Blitze zeichneten die Alm und die Berge in einem bizarren Licht.

      »Bei dem Wetter möcht’ ich nicht draußen sein.« Monika schmiegte sich in Clemens Stolzenbachs Arme.

      »Berggewitter sind nix Ungefährliches«, brummelte der Lois, »es sind schon oft Leut’ umgekommen.« Dann ging er zum Herd, um Tee aufzusetzen. Plötzlich stutzte er. »War da net was?« fragte er.

      »Da hat’s grad geklopft«, sagte Monika. »Da an der Tür. Ganz leise.«

      »Schau halt nach«, forderte ihr Großvater sie auf.

      »Ich fürcht’ mich…!«

      »Also so was.« Der Lois ging zur Tür, öffnete sie, und vor seinen Füßen lag Vinzenz Trautner, völlig verdreckt, durchnäßt, voller Blut, zerschunden und zerkratzt, und er bewegte sich nicht.

      Clemens Stolzenbach sprang auf, zog Vinzenz Trautner in die Hütte, hob ihn auf, legte ihn auf die Bank, horchte ihn mit dem Ohr auf der Brust rasch ab und nickte.

      »Sein Herz schlägt gut«, murmelte er, »er ist sicher vom Unwetter überrascht worden. Mein Gott, wie schaut er aus.«

      »Warten S’, ich hab’ einen Tee für ihn«, sagte der Lois und flößte seinem langjährigen Weggefährten ein wenig davon ein.

      »Er will was sagen.« Monika beugte sich über Vinzenz Trautner. »Was ist? Da ist noch jemand draußen?«

      Da richtete sich Vinzenz Trautner mit letzter Kraft auf. »Bettina Wagner«, flüsterte er, »sie liegt in der Schlucht. Beim Steg, den hat’s vollkommen hinuntergerissen. Ihr… ihr müßt sie retten. Ruft die Bergwacht an. Professor…!« Dann sackte er in sich zusammen.

      »Meine Tasche. Sie ist in meinem Wagen. Da ist alles drin, was ich brauch.«

      Während Monika sich um Vinzenz Trautner kümmerte, funkte der Lois den Hof an, redete mit seinem Sohn, sagte, was passiert war, und daß der die Tasche aus Stolzenbachs Wagen zur Karbach-Klamm bringen sollte. »Aber rasch, es geht um Leben und Tod.«

      »Geh du mit«, sagte der Lois zu Monika. »Und du bleibst da liegen.« Vinzenz Trautner hatte sich mühsam aufgerichtet und schien auch aufstehen zu wollen.

      Das Unwetter schien ein wenig nachgelassen zu haben, aber Blitze zuckten immer noch vom Himmel.

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