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Gesammelte Werke. Oskar Panizza
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke
Год выпуска 0
isbn 9788027204748
Автор произведения Oskar Panizza
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Bevor ich auf den kuriosen Fall, den die gegenwärtige Erzählung zum Gegenstand hat, näher eingehe, muß ich noch mit wenigen Strichen eine Persönlichkeit aus der Umgebung des Sir Edward zeichnen, die zwar eine untergeordnete Stellung im Polizeiwesen, aber keine untergeordnete Rolle in der vorliegenden Episode innehat. Jonathan war unter dem niederen Polizei-Personal, das den Aufsichtsdienst in dem betreffenden Bezirke zu besorgen hatte, ein feiner junger, blonder Bursche, von delikatem Aussehen, mit großen leuchtenden Augen, einer mädchenhaften, einschmeichelnden Stimme, weißen, schön gebauten Händen, kurz, von jener Sorte Menschen, die sich auf den ersten Anblick als aus besserem Menschenmaterial gebaut erweist und der auffällig gegen die übrigen Polizisten roheren Schlags abstach. Wie ich hörte, hatte Sir Edward den jungen Mann aus einer nebensächlichen Lebensstellung veranlaßt, in seinem Sprengel als policeman Dienst zu nehmen. Tatsache war, daß mein Chef dienstlich mit niemandem lieber verkehrte als mit Jonathan und daß dieser, dessen Lebens-Gewohnheiten gänzlich von denen der Leute niederer Gattung abwichen, nur dadurch sich bei seinen Kameraden zu halten vermochte, daß er durch seine Fürsprache bei Sir Edward diesen manche dienstliche Vorteile und Erleichterungen verschaffte, die sonst sicher ausgeblieben wären. Und wenn ich einer inneren Empfindung Gehör gab, so schien es mir, als sei Jonathan nicht nur ein gehorsamer und pflichtgetreuer Untergebener, sondern hätte auch mit einem gewissen Enthusiasmus die eigentümlichen Anschauungen seines Herrn in sich aufgenommen.
Es mochten wohl sechs oder acht Wochen her sein, daß ich den Vorgängen in den Gerichts-Zimmern der Marylebone Street tagtäglich mit großem Interesse gefolgt war. Weniger der schwierigen Rechtsfragen wegen, die etwa hier unter den großen und kleinen Bagatellen einer Großstadt-Vagabondage zum Austrag kamen, als wegen der originellen Entscheidungen, die mein Chef oft entgegen der allgemeinen Meinung und den Vorschriften der Gesetz-Bücher zu treffen sich erlaubte. Und nicht selten hatte ich Gelegenheit, über den feinen Instinkt und den großen Scharfsinn des Mr. Thomacksin zu staunen, der namentlich versteckte und sich aufs Leugnen verlegende Missetäter mit einer ganz bestimmten, nie fehlenden, sicheren Methode zu entwaffnen verstand. – Meist konnte man schon aus den Gesichtern der Polizisten und den im Vorzimmer unter ihnen geführten Reden auf die Art des Falles schließen. Denn dort im Vorzimmer gab meist der jeweilig Meldung Tuende oder frisch von seinem Patrouilliergang Zurückkehrende seinen Kameraden mit wenigen Schlagworten die kriminelle Neuigkeit kund; und dort waren meist einige ältere Sergeanten, die ein unfehlbares Urteil über die Person des Vorgeführten im Zusammenhang mit dem Tatbestand abgaben; derart, daß, wenn die Vorführung vor Sir Edward endlich stattfand, bereits eine Art Stimmung, eine Art Dunstkreis um den unsichtbaren und der Aufklärung bedürftigen Kern des verzwickten Vorfalls sich gebildet hatte. – Mr. Thomacksin und ich waren eines Nachmittags im Gerichtszimmer im eifrigen Gespräch begriffen, wie immer, wenn nichts Neues und Wesentliches vorlag und die Bureau-Zeit noch nicht abgelaufen war. Es war um Frühlings-Sommerwende. Aber es wurde noch früh dunkel. Und die Gasflammen, bedeckt mit riesigen Schirmen, die den Chef wie den Meldetuenden in dunkle Schatten warfen, waren gerade angezündet worden. Mein Chef hatte wieder sein altes Thema vorgenommen: Swedenborg, seine guten Ideen, aber seine Halbheiten, sobald es sich um Ausführungen handelt: vollständige Unklarheit hinsichtlich der Mittel und Wege, die er, Mister Edward Thomacksin, nach gründlichen Studien aufs präziseste angegeben. »Schneiden Sie sie aus, die Wollust, diesen Dorn, an dem sich alle blutig ritzen, und alles wird gut gehen«, – rief er mit Emphase aus und begann ein längeres Kapitel aus Darwin zu zitieren, wonach eine Funktion, die durch Jahrhunderte langes Gehenlassen ungeahnte Dimensionen angenommen, innerhalb weniger Jahrzehnte durch planmäßiges Ersticken ausgerottet werden könne… In diesem Augenblick drang verworrenes Gemurmel aus dem Vorzimmer zu uns herüber. »Don’t! Don’t! Don’t! Tell us stories! Don’t slander!«… Etwa: »Um Gottes willen, Freund, halt ein! Schwätz keinen Unsinn! Hör auf!«… In der Art schienen sich die Meinungen zwischen einem und dem Rest der Polizisten hin und her zu schieben und auszugleichen. Mein Chef runzelte die Stirn wegen der Störung. Endlich ging die Tür auf, und Jonathan, in vorschriftsmäßiger Ausrüstung mit dem schwarzen Tuchhelm, dem Handpickel im Gürtel und die Blendlaterne in der Hand, trat ein. Sir Edward wandte sich um. Gegen Jonathan war er immer milder als gegen die andern. – »Was ist los?« – rief er; dann hinzufügend: »Ich habe hier mit meinem jungen Freund Wichtiges zu besprechen; stört mich nicht mit Kleinigkeiten!… Hat wieder einer in eine falsche Hosentasche gelangt?«… – »No, Sir!« – sagte Jonathan in tiefer Erregung – »es hat sich etwas Außerordentliches zugetragen!« – Sir Edward wandte sich jetzt dem Sprecher voll zu. Der Brustton, mit dem der Polizist sprach, und das Vibrierende in seiner Stimme waren Symptome, die einem Menschenkenner wie meinem Chef nicht entgingen. – »Wo kommt Ihr jetzt her, Jonathan?« frug der Beamte. – »Ich komme von meiner Privatwohnung, Sir,« – antwortete der junge Mann – »ich habe den ganzen Tag gezaudert und überlegt, ob ich meine Beobachtung von vergangener Nacht amtlich mitteilen soll, aber das Vertrauen auf Euer Lordschaft, das Vertrauen auf Eure Weisheit, Sir, und meine Pflicht, – ich mußte es zur Anzeige bringen.« – »Was ist passiert? Heraus mit der Sprache!« rief Mr. Thomacksin und setzte sich in Positur. – Draußen im Vorzimmer hatte man leises Gemurmel und unterdrücktes Gekicher. – »Sir,« – begann Jonathan – »als ich gestern nacht auf meiner Runde durch Tavistock-Square kam und meine Blendlaterne durch die Zweige gleiten ließ, sah ich – wie soll ich es nennen, – es ist nicht zum Sagen, Sir,…« – »Hol dich der Henker mit deiner Laterne, wenn du nichts gesehen hast!« – »Ich hab’ etwas gesehen!« – »Was hast du gesehen?« – »Es war im südlichen Eck des Parks, wo eine Gruppe Rosen und Magnolen beieinanderstehen!« – »Was war dort los? Hast du jemand drunter gesehen?« – »Ich habe niemand drunter gesehen, Sir, die Gruppe stund frei.« – »Beim Henker, was war denn dann dort los?« – »Sir, es drang Gekicher aus den Hecken!« – »Es drang Gekicher aus den Hecken? Gut, hast du die Kichernden erwischt?!« – »Nein, Sir!« – »Wollt’ es dir auch nicht raten, Johny! Jedermann darf in England unter Rosen und Magnolen kichern, wenn er welche hat.« – »Sir, es war nicht das! Es war kein menschliches Gekicher; es war etwas Verdächtiges, und glänzende Stoffe fielen aus den großen Magnolenkelchen zur Erde, und ein unkeuscher Geruch verbreitete sich; ein Blitz, Sir, fuhr mir gleich durch den Kopf!« – »Jonathan, ich verstehe dich nicht. Besinne dich, was du sprichst!« – Der Polizist stund fiebernd vor Erregung; seine Augen strahlten; in dem rohen, schwarzen Polizeikittel stund der blonde, zarte Mensch dort wie ein junger Prediger. – »Sir, es war ein unbegreiflicher Vorgang!« – fuhr der Polizist weiter – »ich kann vielleicht nicht alles angeben, um meine Meinung zu stützen…« – »Nenn mir deine Meinung, Jonathan, – und laß die Einzelheiten!« – Der Polizist rang im Zwang mit sich selbst und fuhr heraus: »Ich kann nicht!« – »Du kannst mir ruhig deine Meinung sagen, Jonathan« – sagte Mr. Thomacksin. – »Sir, die englische Sprache ist nicht ausreichend, um die Scheußlichkeit zu umfassen!« – Sir Edward wandte hier den Kopf zu mir herüber und zeigte mir die zwei entblößtem Reihen Zähne, dann fügte er leise hinzu: »Sehen Sie, solche Leute haben wir! Welche klassische Ausdrucksweise! Ein wunderbarer Kerl! Wie?… Ich habe ihn mit Mühe herangezogen…«, dann laut