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angestrichenen Kunst-Rasse?« – »Es ist richtig,« begann er, und schien zu einem längeren Exkurs auszuholen, »ich habe mich stark in meine Fabrik-Rasse hineingelebt, doch um Ihre Frage…« – »Nein!« schrie ich, »ich will nichts mehr hören!« und stürzte zum Tor hinaus. – Ein kalter, frischer Morgenwind schlug mir entgegen. Ich war erschöpft von dieser durchwachten Nacht, noch mehr von dem, was ich erlebt hatte. Die Sonne war noch nicht heraufgekommen, aber es schien ein prächtiger Tag werden zu wollen. Ich eilte, fortzukommen aus dieser schauerlichen Umgebung. – Auch hatte ich Hunger. Wie weit das nächste Dorf entfernt sein mochte, davon hatte ich keine Ahnung. Als ich den Kiesweg verlassen und wieder auf der Landstraße war, schaute ich mich noch einmal um, um dieses merkwürdige Haus zu betrachten. Vor Schrecken taumelte ich fast zurück: da standen im Parterre und ganzen ersten Stock an die Hunderte von diesen weißen, wunderschönen Menschen mit ihren glasig verzückten Augen und gelblichen Fingern dichtgedrängt an den Fenstern und schauten zu mir herüber und schienen mich zu verhöhnen. Ich wandte mein Gesicht ab und eilte, von diesem vertrackten Haus wegzukommen. – Aber wie es geht, lebhafte, beängstigende Eindrücke konzentrieren sich oft in uns bis zur Lebendigkeit und werden zu Reden, Handlungen, Lauten. Und so war es mir, als hörte ich, während ich rüstig weiterschritt, folgendes Gespräch dieser glasigen Gesellschaft im ersten Stock mich verfolgen: »Seht, da geht er. Seht, das ist so einer von der merkwürdigen Rasse, die Blut im Leib hat und denkt. Seht, wie er geht, wie er sich bewegt, wie er verschiedene Positionen annehmen kann; seht nur sein Gesicht an, wie es sich verändert. Jetzt lacht er, jetzt wird er wieder ernst. Diese merkwürdigen Geschöpfe sind wie von Gummi, sie können jede Position machen, auch im Inneren jedes Gefühl empfinden; dann verändert sich ihr Gesicht und zuckt und schnalzt und wird purpurrot und kreideweiß; seht nur, wie der geht, wie die wollenen Bein-Rohre, die nur Überzüge sind, um die fatale Bewegung zu verbergen, hin und her schlenkern; eine kostbare Rasse! Man muß sie sehen. wie sie oft in der Straße einhergehen und sich anzwinkern, dann plötzlich stehenbleiben, durch eine große, durchsichtige Scheibe hineinschauen und Bücher-Titel lesen, wie sie dann mit einemmal starr werden und die Augen heraustreiben und ihr ganzes Äußeres verrät, daß eine furchtbare Veränderung in ihrem Inneren vor sich geht; ihr Kopf fängt dann an zu denken, und der rote Saft in ihrem Körper wird dann durch ein Röhrensystem mit Windeseile durchgepeitscht; sie müssen dann denken, was der Kopf will, und empfinden, was ihnen ein roter Gummiball in der Brust vorschreibt, und sich bewegen, wie die beiden wollen; wie sie dann springen und schnalzen und den Hals verdrehen und hinüber-und herüberschießen und die Brust heraustreiben und schnaufen und dann wieder Knixer machen, – es ist zu possierlich…« – Ich eilte, so rasch ich konnte, mir wurde unheimlich; trotz des kalten Morgenwindes fielen die Schweißtropfen wie Perlen von meiner Stirn. Die Sonne mußte schon aufgegangen sein. In der Ferne zeigte sich eine glänzend bestrahlte Burg., und bald, bei einer Wegbiegung, sah ich, lag ein freundliches Städtchen mit Kirchen und Gärten vor mir. Mir war, als kehrte ich von einem grauenhaften Ausflug ins Schattenreich zur Welt zurück, die ich mit all ihrem Jammer vor Entzücken an mein Herz hätte drücken können. Und ich hatte kaum hundert Schritt weiter gemacht, als ich einen fleißigen Landmann, mit dem Rechen auf dem Rücken, mir entgegenkommen sah. Ich sah wohl, das war ein Mensch wie ich auch; durch natürliche Zeugung entstanden; das war keine Kunstrasse; denn er nahm zuweilen die Pfeife aus dem Mund, rückte am Hut, sah in die Luft, schaute nach dem Wind, hatte überhaupt viel natürliche Bewegung. – »Mein lieber Freund,« sagte ich, als wir einander nahe kamen, »können Sie mir nicht sagen, was das da hinten für ein Haus ist, kaum hundert Schritte von der Landstraße?« – »Ei, Herr Jäses!« rief der Mann, in dem ich sogleich einen Vertreter des liebenswürdigsten Volksstammes unter den Deutschen, einen Sachsen, erkannte, »mein kutestes Herrchen, das kann ich Sie wohl sagen – das is Sie die berühmte königlich-sächsische Porzellan-Fabrik von Meißen!« –

      Das Verbrechen in Tavistock-Square

       Inhaltsverzeichnis

      Hüten wir uns, immer nur allein den Menschen schuldig zu finden; überall, in der gesamten Natur, steckt, unter einem feinen Schleier verborgen, die Sünde.

      Swedenborg

      Vor zehn Jahren etwa sandte mich mein Vater, der mich in der englischen Rechtspflege sowohl als in der englischen Sprache ausgebildet zu sehen wünschte, nach London. Durch einige Empfehlungsschreiben, die nicht ganz ohne Einfluß waren, gelang es mir, in den Schutz eines Staats-Sekretärs im Justiz-Ministerium zu gelangen, der, wie ich wohl wußte, vortreffliche Beziehungen zum Minister selbst unterhielt: – »Junger Mann!« – sagte der Erstgenannte am Schluß einer Audienz zu mir – »ich weiß, daß Sie als Deutscher vor allem nach Bildung streben, und da Sie die niedere Gerichts-Praxis in erster Linie bei uns kennenlernen sollen, so habe ich Sie an Sir Edward Thomacksin, den Vorstand der metropolitan police-station in der Marylebone Street, verwiesen. Lassen Sie sich die paar Schrullen des alten Herrn nicht kümmern; er ist ein Mann von gründlichem Wissen, kennt ein wenig Ihre Verhältnisse drüben, und Sie werden dort in der kürzesten und einfachsten Weise das Verfahren unserer niederen Rechtspflege kennenlernen können. Und damit leben Sie wohl!« – Ich verbeugte mich, und die Audienz war zu Ende. – Für den, der die englischen Verhältnisse nicht näher kennt, möchte ich nur kurz bemerken, daß jedes reat in England, das einfachste und schwerste, das Vergehen und Verbrechen, zunächst vor die police-station des betreffenden Bezirks gebracht wird; und dort wird entschieden, ob es sich zu eigener Behandlung eignet, oder vor den höheren Gerichtshof, den justice-court, unser Schwurgericht, gebracht werden muß. Ist es einfacher Natur, so wird es sofort abgeurteilt und damit die wichtige Frage entschieden, ob der Täter verhaftet oder auf freiem Fuß behandelt werden kann. Ist es schwerer Natur, so wird der Täter meist sofort in Haft behalten und das Ganze dem höheren Gerichtshof hinübergegeben.

      Mr. Edward Thomacksin – oder wie man dort drüben sagt, Sir Edward – war ein Original im besten Sinn des Worts. Dieser Mann war für mich eine Fundgrube für den englischen Charakter weit mehr als für die englische Gerichtsbarkeit, die, ich darf wohl sagen, nach vierzehn Tagen mich nicht mehr interessierte als die Gerichtsbarkeit irgendeines anderen Landes. Er war ein langer, ausgemergelter Mensch mit glattrasiertem Gesicht, mit dünnem, schnappendem Fisch-Maul, einer langen, großlöchrigen Nase und graublauen vigilierenden Augen, die einen heißen, stets paraten Gedankenschatz hinter sich hatten. Immer in dem gleichen alten, abgeschabten schwarzen Rock erscheinend, war sein ganzes dienstliches Bestreben, weniger nach Recht und Gerechtigkeit zu urteilen, als Material für seine speziellen Ansichten und Bestrebungen hinsichtlich der Anlage und Erziehungsfähigkeit des menschlichen Herzens zu sammeln. Dieser rein immaterielle Gesichtspunkt ließ ihm manche Willkür in seinem Dienst entschuldbar erscheinen. Er war Inquisitor. Und nicht die Strafe eines Menschen zur Besserung war ihm so wichtig als die Analyse der innersten Triebfedern einer Persönlichkeit. Als ich ihm zum erstenmal meine Aufwartung machte, schaute er mich fast grimmig einige Minuten starr an und sagte dann lauernden Blicks, zögernd und mit scharfer Betonung: »Ich weiß nicht, ob Ihr Auge, mein junger Freund, genügend reinen Sinn verspricht, um der moralischen Aufgabe, die Ihrer hier wartet, gewachsen zu sein!« – Diese erste Ansprache machte mich nicht wenig perplex, und die nächsten Tage brachten dann noch mehr derartige Überraschungen. Doch bald hatte ich mich an die Eigentümlichkeit seiner Ausdrucksweise gewöhnt. Mit der Offenherzigkeit, die den Engländer auszeichnet, hatte er mich im Lauf der ersten Wochen in seine gesamten Anschauungen eingeweiht. Er war Swedenborgianer. Er glaubte an einen fortschreitenden Reinigungs-Prozeß der Menschheit bis zur endlichen Gottähnlichkeit. Er hatte aber seine höchst persönlichen Meinungen und Vorschläge zur Erreichung dieses Ziels. Nach ihm war es vor allem die Wollust und was drum und dran hing, die ihm auf dem Wege zur angestrebten Vergeistigung der Menschheit im Wege stund. Die »lust«, wie er es nannte, war das Ziel seiner Vernichtungspläne. Wenn er das Wort »lust« aussprach, gewann sein Gesicht einen unsäglich harten, wilden Ausdruck; mit den grauen erbarmungslosen Augen schaute er wie mit Marbelsteinen zu mir herüber, und die geöffneten Lippen zeigten die Härte eines Henkers. – »Junger Mann!« – sagte er mir eines Tages in einer Stunde vertrautesten Gesprächs, in dem er mir seine letzten Gedanken mitzuteilen schien – »wenn ich den Wollust-Faktor ans dem Kalkül der Menschen-Erzeugung eliminieren könnte,

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