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ein angemessenes Feld für meine besondere Gabe der Beobachtung und Schlußfolgerung zu finden, ist mein höchster Lohn. – Uebrigens bin ich nicht ganz unbekannt; meine kleinen Schriften werden sogar jetzt ins Französische übertragen.«

      »Ihre Schriften?«

      »O, wußten Sie es nicht?« rief er lachend. »Sie behandeln lauter technische Gegenstände. – Hier ist z. B. eine Abhandlung ›Ueber die Verschiedenheit der Tabakasche‹. Ich zähle da hundert und vierzig Sorten auf: Rauchtabak, Zigarren und Zigaretten, deren Asche sich unterscheiden läßt, wie Sie aus den beigedruckten, farbigen Tafeln ersehen. Vor Gericht ist das oft von der größten Bedeutung. Wenn man z. B. mit Bestimmtheit sagen kann, daß ein Mord von einem Manne verübt worden ist, der eine indische Lunkah rauchte, so wird dadurch offenbar das Feld der Untersuchung wesentlich beschränkt. Für das geübte Auge unterscheidet sich die schwarze Asche der Trichinopolly-Zigarre von den weißen Fasern des Birds Eye-Tabaks wie ein Kohlkopf von einer Kartoffel.«

      »Sie haben ein außerordentliches Genie für kleine Nebendinge,« bemerkte ich.

      »Ich erkenne ihre Wichtigkeit. – Hier ist ferner mein Aufsatz über die Erforschung der Fußspuren, mit Anmerkungen über den Gips als Mittel, die Abdrücke zu bewahren. Dies hier ist ein kleines, merkwürdiges Schriftchen über den Einfluß des Handwerks auf die Form der Hand, mit Abbildungen der Hände von Dachdeckern, Schiffern, Zimmerleuten, Schriftsetzern, Webern und Diamantschleifern. Das ist von großem praktischen Interesse für den wissenschaftlichen Detektiv, besonders wo es sich um die Erkennung von Leichen oder um die Vorgeschichte der Verbrecher handelt. – Aber ich langweile Sie mit meinem Steckenpferde.«

      »Durchaus nicht,« erwiderte ich eifrig. »Ich interessiere mich sehr dafür, seit ich Gelegenheit hatte, Zeuge seiner praktischen Anwendung zu sein. Sie sprachen soeben von Beobachtung und Schlußfolgerung, sind diese nicht in gewissem Grade gleichbedeutend?«

      »Hm – kaum.«

      Er lehnte sich behaglich in den Lehnstuhl zurück und blies dichte blaue Wolken aus seiner Pfeife. »Die Beobachtung zeigt mir z. B., daß Sie heute früh in der Wigmorestraße auf der Post gewesen sind, aber die Schlußfolgerung läßt mich wissen, daß Sie dort ein Telegramm aufgegeben haben.«

      »Richtig! Beides trifft zu,« rief ich. »Aber wie in aller Welt haben Sie das herausgebracht? Der Gedanke kam mir ganz plötzlich, und ich habe keiner Seele etwas davon gesagt.«

      »Das ist lächerlich einfach,« sagte er, vergnügt über mein Erstaunen, »und erklärt sich eigentlich ganz von selbst; es kann jedoch dazu dienen, die Grenzen der Beobachtung und der Schlußfolgerung festzustellen. – Die Beobachtung sagt nur, daß ein kleiner Klumpen rötlicher Erde an Ihrer Fußsohle klebt. – Nun wird aber gerade beim Postamt in der Wigmorestraße das Pflaster ausgebessert, und dabei ist die ausgeworfene Erde vor den Eingang zu liegen gekommen. Diese Erde hat eine absonderliche, rötliche Färbung, wie sie, soviel ich weiß, sonst nirgends in der Umgegend vorkommt. Das ist die Beobachtung. Das übrige ist Schlußfolgerung.«

      »Und wie folgerten Sie das Telegramm?«

      »Je nun, ich wußte natürlich, daß Sie keinen Brief geschrieben hatten, da ich den ganzen Morgen Ihnen gegenüber gesessen habe. In ihrem offenen Pult dort liegt auch noch ein Vorrat von Briefmarken und Postkarten. Wozu könnten Sie also auf die Post gegangen sein, außer um eine Depesche abzugeben? – Räumt man alle andern Faktoren fort, so muß der, welcher übrig bleibt, den wahren Sachverhalt zeigen.«

      »In diesem Fall trifft das zu,« erwiderte ich nach einigem Bedenken. »Die Lösung war allerdings höchst einfach. Ich möchte jedoch Ihre Theorie einmal einer strengeren Probe unterwerfen, wenn Sie das nicht unbescheiden finden?«

      »Im Gegenteil,« versetzte er, »es wäre mir sehr lieb; wenn Sie mir irgend ein Problem zu erforschen geben, brauche ich heute keine zweite Dosis Cocaïn zu nehmen.«

      »Ich habe Sie einmal behaupten hören, daß der Mensch den Gegenständen, welche er im täglichen Gebrauch hält, fast ausnahmslos den Stempel seiner Persönlichkeit aufdrückt, so daß ein geübter Beobachter an den Sachen den Charakter ihres Eigentümers zu erkennen vermag. Nun habe ich hier eine Uhr, die mir noch nicht lange gehört. Würden Sie wohl die Güte haben, mir Ihre Meinung über die Eigenschaften und Gewohnheiten des früheren Besitzers zu sagen?«

      Ich reichte ihm die Uhr, nicht ohne ein Gefühl innerer Belustigung. Die Aufgabe war nach meinem Bedünken unlösbar; ich wollte ihm damit nur eine kleine Lehre geben wegen des allzu anmaßenden Tones, den er zuweilen annahm. Er wog die Uhr in der Hand, blickte scharf auf das Zifferblatt, öffnete das Gehäuse und untersuchte das Werk; erst mit bloßen Augen, dann durch ein starkes Vergrößerungsglas. Als er endlich mit entmutigtem Gesicht die Uhr wieder zuschnappte und mir zurückgab, konnte ich mich kaum eines Lächelns enthalten.

      »Da giebt’s nur wenige Anhaltspunkte,« bemerkte er. »Die Uhr ist neuerdings gereinigt, was mich um die besten Merkmale bringt.«

      »Ganz recht.« erwiderte ich. »Sie wurde gereinigt, ehe man sie mir sandte.«

      Holmes brauchte diesen schwachen Vorwand offenbar nur, um seine Niederlage zu verdecken. Was für Anhaltspunkte hätte er denn bei einer nicht gereinigten Uhr finden können?

      »Die Untersuchung ist zwar unbefriedigend, jedoch nicht ganz erfolglos,« führ er fort, während er mit glanzlosen Augen träumerisch nach der Stubendecke starrte. »Irre ich mich, wenn ich sage, daß die Uhr Ihrem älteren Bruder gehört hat, der sie von Ihrem Vater erbte?«

      »Sie schließen das ohne Zweifel aus dem H. W. auf dem Deckel?«

      »Ganz recht. Das W. deutet Ihren eigenen Namen an. Das Datum reicht beinahe fünfzig Jahre zurück, und das Monogramm ist so alt wie die Uhr. Sie ist also für die vorige Generation gemacht worden. Wertsachen pflegen auf den ältesten Sohn überzugehen, der auch meistens den Namen seines Vaters trägt. Da Ihr Vater, soviel ich weiß, seit vielen Jahren tot ist, hat Ihr ältester Bruder die Uhr seitdem in Händen gehabt.«

      »Soweit richtig,« sagte ich. »Und was wissen Sie sonst noch?«

      »Er war sehr liederlich in seinen Gewohnheiten – liederlich und nachlässig. Er kam in den Besitz eines schönen Vermögens, brachte jedoch alles durch und lebte in Dürftigkeit. Zuweilen verbesserte sich seine Lage auf kurze Zeit, bis er endlich dem Trunk verfiel. Das ist alles, was ich ersehen kann.«

      Ich sprang heftig erregt vom Stuhl auf, und ging im Zimmer auf und ab.

      »Das ist Ihrer unwürdig, Holmes!« rief ich, um meiner Erbitterung Luft zu machen. »So etwas hätte ich Ihnen nicht zugetraut. Sie haben Erkundigungen eingezogen über die Geschichte meines unglücklichen Bruders und geben jetzt vor, Ihre Kenntnis auf irgend eine abenteuerliche Weise erlangt zu haben. Sie können mir unmöglich zumuten, daß ich glauben soll, Sie hätten dies alles aus der alten Uhr gelesen! Ihr Benehmen ist höchst rücksichtslos und streift, gerade herausgesagt, an Gaukelei.«

      »Entschuldigen Sie mich, bitte, lieber Doktor,« erwiderte er freundlich. »Ich habe die Sache nur als ein abstraktes Problem, angesehen und darüber vergessen, daß dieselbe Sie persönlich angeht und Ihnen peinlich sein könnte, Ich versichere Sie, ehe Sie mir die Uhr reichten, wußte ich nicht einmal, daß Sie einen Bruder hatten.«

      »Aber wie in aller Welt sind Sie denn zu diesen Thatsachen gekommen, die durchaus richtig sind – in allen Einzelheiten?«

      »Wirklich! Nun, das ist zum Teil nichts als Glück. Ich hielt mich an die Wahrscheinlichkeit und erwartete durchaus nicht, es so genau zu treffen.«

      »Aber Sie haben doch nicht bloß auf gut Glück geraten?«

      »Nein, nein; ich rate nie. Das ist eine widerwärtige Gewohnheit, die jede logische Fähigkeit zerstört. Die Sache erscheint Ihnen nur sonderbar, weil Sie weder meinem Gedankengang folgen, noch die kleinen Anzeichen beobachten, die zu großen Schlußfolgerungen führen können. Wie bin ich zum Beispiel zu der Ansicht gelangt, daß Ihr Bruder nachlässig war? – Betrachten Sie einmal den Deckel der Uhr genau. Sie werden bemerken, daß er

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