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weiß nicht«, hört sie jetzt Brandt, den Handwerksmeister, sagen. »Mord möchte ich nicht behaupten. Vielleicht Notwehr?«

      »Mord?«

      Aller Augen sind auf Eva-Maria Harris gerichtet, die dieses Wort entsetzt ausspricht. »Ich glaube nicht daran«, setzt sie bestimmt hinzu.

      Präsident Feurig, ein schlanker weißhaariger Mann, mit klaren, durchdringenden Augen, lächelt.

      »Liebe, gnädige Frau, hier geht es nicht um Glauben oder Nichtglauben. Hier geht es um Beweise. Der Angeklagte hat gestanden –«

      »– und sich dann ausgeschwiegen«, zittert es erregt von Eva-Marias Lippen. »Nicht einmal sein Anwalt hat Licht in das Dunkel der Tat bringen können. Und die einzige Zeugin, die ihn hätte entlasten können, hat geschwiegen.«

      »Oder sie hat geschwiegen, um ihn nicht zu belasten«, wirft der Präsident gütig ein. Er mag sie gern, diese aparte, auffallend schöne Frau, mit dem leuchtenden Haar und den jetzt ganz dunkel erscheinenden Blauaugen, die das zarte Gesicht völlig beherrschen.

      »Aber das sind doch alles nur Vermutungen«, stößt sie rauh hervor. »Man kann doch einen Menschen nicht verurteilen, wenn man nicht von seiner Schuld überzeugt ist.«

      »Sind Sie es nicht, gnädige Frau?«

      Diese Frage wirft Eva-Maria völlig aus dem Gleichgewicht. Sie streicht sich über die Stirn. Sie fühlt sich naß an. Kleine Schweißtropfen stehen darauf. Hastig sucht sie nach ihrem Taschentuch und tupft über die Stirn. Sie zwingt sich eisern zur Ruhe.

      »Nein!«

      »Und sein Geständnis?«

      Sie fühlt die Augen der anwesenden Männer auf sich gerichtet.

      »Es kann aus edlen Motiven gegeben sein.«

      »Wir haben kein edles Motiv gefunden«, antwortet Feurig. »Was uns der Angeklagte verschwiegen hat, haben wir versucht allein zu finden. Es war nichts da. Er hat diesen John Unger erschossen, aus Eifersucht. Das ist kein edles Motiv.«

      Eva-Maria Harris sinkt etwas in sich zusammen. Sie spürt ihr Herz bis zum Hals herauf hämmern.

      »Ist Ihnen nicht wohl?« schlägt die Stimme des Vorsitzenden an ihr Ohr.

      Sie lächelt schwach, hilflos. »In der Tat«, stammelt sie und lehnt sich mit geschlossenen Augen zurück. »Wenn ich um ein Glas Wasser bitten dürfte?«

      Ein Gerichtsdiener wird herbeigeklingelt, und er kehrt mit dem Gewünschten zurück. Eva-Maria nimmt ein paar tiefe Schlucke. Dann setzt sie das Glas bedächtig vor sich hin. Es ist eine gewollt langsame Bewegung.

      »Es kann sich doch niemals um einen Mord handeln – höchstens um Notwehr«, knüpft sie wieder an das Vorhergesagte an. »Wir wissen, daß der Angeklagte John Unger mit seiner Verlobten überrascht hat. Sie hat sich gewehrt gegen den Mann, und da ist der Angeklagte ihr beigesprungen. So sehe ich jedenfalls die Tat. Ich gebe zu, daß auch Eifersucht dabeigewesen sein mag – aber daß es zu der Tat kam, war die Reaktion auf das Handgemenge, in das seine Verlobte verwickelt war.«

      Erstaunt zieht der Vorsitzende die Brauen hoch.

      »Woher wollen Sie das wissen? Das steht weder in den Akten, noch ist es in den Vernehmungen zur Sprache gekommen.«

      Hilflos zuckt Eva-Maria mit den Achseln. »Ich betonte schon, so sehe ich die Tat. Ich kann nur von Notwehr sprechen.«

      Eine Debatte setzt ein, an der sich Eva-Maria Harris nicht beteiligt, aber aufmerksame Zuhörerin ist. Kein Wort entgeht ihr.

      Doch sie fühlt, daß eine andere Stimmung unter den Anwesenden herrscht wie zu Beginn. Ihre Augen irren umher, bleiben an dem Zifferblatt der Uhr haften. Noch zehn Minuten Zeit – denkt sie, und sie ist der Verzweiflung ausgeliefert.

      Mit einem schwachen Laut, den keiner vernommen hat, so sehr sind sie in Reden und Gegenreden vertieft, lehnt sie sich tief in ihre Sessel zurück.

      Nur nicht ohnmächtig werden – denkt sie, aber dann wird es schon dunkel um sie. Dunkel, und barmherzige Ruhe hüllt sie ein.

      *

      Zur selben Zeit steht Dr. Ernst Rauh, mittelgroß, ziemlich beleibt, aber von einer Lebhaftigkeit, die man ihm nie zugetraut hätte, vor dem stummen Mann, den er verteidigt hat, verteidigen mußte.

      »Menschenskind, so reden Sie doch«, schreit er wütend. Er möchte diesem Mann, den er als Mensch wie als begabten, modernen Architekten schätzengelernt hat, helfen, und er spürt, wie dieser selbst sich alle Wege verbaut.

      »Karsten«, sagt er besänftigt und legt dem Angeklagten die Hand auf die Schulter. »Ich will Ihnen doch helfen. Meinen Sie, daß es ein Vergnügen ist, einen Mann in sein Unglück rennen zu sehen?«

      Karsten öffnet den Mund und schließt ihn sofort wieder. Er zuckt nur mit den Achseln.

      »Ich will Ihnen helfen«, betont Doktor Rauh abermals und erhebt seine Stimme wieder. »Aber Sie müssen sprechen.«

      Karsten macht eine kurze Handbewegung. »Sie können mir nicht helfen. Keiner kann mir helfen, und ich will auch nicht, daß Sie mir helfen.«

      Doktor Rauh möchte den Mann hernehmen und tüchtig schütteln. Er fühlt, daß hinter dieser Ablehnung keine Verstocktheit steht.

      Plötzlich hebt Karsten den Kopf. »Sie wollen mich vor einem Unglück retten?« Seine Lippen verziehen sich spöttisch. »Wissen Sie denn, ob es ein Glück für mich wäre, jetzt frei zu sein?«

      Doktor Rauh stutzt. Eindringlich fragte er: »Karsten, was verbergen Sie vor mir, vor Ihren Richtern, überhaupt vor den Menschen?«

      Sekundenlange Stille, dann ein kurzes, entscheidendes:

      »Nichts!«

      Achselzuckend wendet Rauh sich der Tür zu und gibt dem Wärter einen Wink, seinen Platz wieder einzunehmen. Zu Karsten sagt er:

      »Dann wünsche ich Ihnen nur, daß das Gericht auf mildernde Umstände zurückgreift. Ich kann nichts mehr für Sie tun.«

      Karsten kämpft mit sich. Ein kurzer Kampf ist es. Dann steht er schnell auf und geht auf den Mann zu, der in den langen Wochen immer wieder versucht hat, ihm zu helfen. Er streckt ihm seine Hand entgegen.

      »Ich danke Ihnen für alles, Doktor. Sie meinen es gut mit mir. Aber –« Er zögert, und vorübergehend pressen sich seine Lippen zusammen. Ganz langsam öffnen sie sich wieder. »Ich – ich habe meine Gründe.«

      Karsten sieht mit einem verzweifelten Ausdruck auf die Tür, die sich hinter der massigen Gestalt des Rechtsanwaltes geschlossen hat. Von dieser Minute an kommt die große Unruhe über ihn, Unruhe und eine grenzenlose Einsamkeit.

      *

      »Im Namen des Volkes…«

      Der Gerichtshof steht, auch der Angeklagte steht hoch aufgerichtet in seiner Bank.

      »… und so sind wir nach reiflicher Überlegung zu der Überzeugung gekommen, daß es eine Affekthandlung war, zu der der Angeklagte gereizt wurde. Da der Angeklagte ein bis jetzt ernsthafter, unbescholtener Mann mit bestem Leumund war, haben wir unedle Motive ausgeschaltet. Nach Paragraph…«

      Ein Laut fällt in die erwartungsvolle Stille. Eva-Maria Harris, blaß bis in die Lippen, hat ihn ausgestoßen. Sie preßt die Hände gegeneinander, schlingt die Finger zusammen, daß sie ihr schmerzen, und verhält sich wieder ruhig.

      Der Vorsitzende vollendet seine Rede.

      »… aus diesem Grunde hält das Gericht die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat mit zwei Jahren Gefängnis für abgegolten.«

      Eva-Maria Harris sinkt mit geschlossenen Augen auf ihrem Stuhl zurück.

      Herrgott! Lieber, guter Gott – denkt sie! Zwei Jahre wird er überstehen. In zwei Jahren wird er nicht zugrunde gehen.

      Langsam leeren sich die Bänke im Zuschauerraum. Der Gerichtshof

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