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Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften
Год выпуска 0
isbn 9788075830890
Автор произведения Edith Stein
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Daß ich bei meiner Jugend schon ein gewisses Ansehen in der Stadt hatte, in den intellektuellen Kreisen und sogar bei der Hochfinanz (beides stand in Breslau in naher Beziehung) etwas galt, erfüllte meine Mutter mit einem gewissen Stolz. Wenn etwas ihre Freude in dieser Zeit trübte, so war es die übergroße Arbeitslast, die ich auf mir hatte. Wenn ich aus der Schule kam, legte ich alle Schulsachen beiseite und nahm meine Doktorarbeit vor. Zum Abendessen erschien ich in der Familie, zog mich aber nach Tisch sofort wieder zurück. Erst etwa um 10Uhr begann ich mich für den Unterricht des nächsten Tages vorzubereiten. Wurde ich dabei so müde, daß ich kaum noch etwas auffassen konnte, dann las ich ein wenig Shakespeare. Das wirkte so auf meine Lebensgeister, daß es wieder weiterging. Ehe meine Mutter zu Bett ging, kam sie erst zu mir herein und bot mir ihren Arm, um mich mitzunehmen. Dann wehrte ich lächelnd ab, und sie zog sich nach einem Gutenachtkuß zurück. Sie sorgte aber dafür, daß ich immer noch eine kleine Stärkung für die nächtliche Arbeit bekam. Wenn die Familie Obst aß, wurde ein Tellerchen voll für mich mundfertig zurechtgemacht und mir auf den Schreibtisch gestellt. Außerdem hatte Rosa in einem geheimen Versteck einen Vorrat an Cakes und Chokolade und brachte mir jeden Abend etwas davon. Trotzdem machten sich die Folgen der fortgesetzten Anspannung allmählich bemerkbar. Im Sommer 1916 kam zuerst eine längere Periode völliger Appetitlosigkeit, die sich dann fast jedes Jahr wiederholte. Ich nahm in kurzer Zeit wohl etwa zwanzig Pfund ab. Dabei kam ich im stillen zu der Überzeugung, daß sich Schuldienst und angestrengte wissenschaftliche Arbeit auf die Dauer nicht vereinen ließen. Es war mir klar, daß ich ohne Zögern den Schuldienst aufgeben würde (obgleich er mir lieb war), wenn ich hoffen dürfte, wissenschaftlich etwas Tüchtiges zu leisten. Darum bedeutete Husserls Urteil über meine Dissertation für mich eine Entscheidung über meinen Lebensweg.
X. Vom Rigorosum in Freiburg
1.
Die Osterferien benützte ich, um meine Arbeit zu diktieren. Meine Cousinen Adelheid Burchard und Grete Pick, beide sehr tüchtige Stenotypistinnen, stellten sich mir zur Verfügung und kamen abwechselnd in ihrer dienstfreien Zeit zu mir. Alle Sonn- und Feiertage wurden dafür ausgenützt. Es war eine große Arbeit, denn die Dissertation war zu einem unheimlichen Umfang angeschwollen. Ich hatte in einem ersten Teil, noch in Anlehnung an einige Andeutungen in Husserls Vorlesungen, den Akt der »Einfühlung« als einer besonderen Art der Erkenntnis untersucht. Von da aber war ich weitergegangen zu etwas, was mir persönlich besonders am Herzen lag und mich in allen späteren Arbeiten immer wieder neu beschäftigte: zum Aufbau der menschlichen Person. Im Zusammenhang jener Erstlingsarbeit war diese Untersuchung notwendig, um begreiflich zu machen, wie sich das Verstehen geistiger Zusammenhänge vom einfachen Wahrnehmen seelischer Zustände unterscheidet. Für diese Fragen waren mir Max Schelers Vorlesungen und Schriften sowie die Werke von Wilhelm Dilthey von großer Bedeutung. Im Anschluß an die umfangreiche Einfühlungsliteratur, die ich durchgearbeitet hatte, fügte ich noch einige Kapitel über Einfühlung auf sozialem, ethischem und ästhetischen Gebiet an. Diese Teile habe ich später nicht mit drucken lassen.
Das Manuskript, auf starkem weißen Aktenpapier getippt, war so umfangreich, daß ich es nicht in einem Band binden lassen konnte. Es hätte einen Folianten ergeben, der für den guten Meister allzu unhandlich gewesen wäre. So ließ ich drei Hefte mit biegsamem blauen Pappeinband herstellen, dazu eine feste Mappe, in die alle drei hineingelegt wurden. In dieser Aufmachung ging das opus kurz nach Ostern als Postpaket nach Freiburg ab. Ich bat Husserl, es im Lauf des Sommers zu prüfen. Im Juli, während meiner großen Ferien, wollte ich selbst nachkommen, um das Rigorosum zu machen. Der Meister freute sich über das stattliche Werk, bereitete mich aber gleich darauf vor, daß er nicht leicht Zeit finden würde, es durchzusehen. Es war sein erstes Freiburger Semester. Er hielt ein Kolleg zur Einführung in die Philosophie und arbeitete es mit größter Sorgfalt ganz neu aus, um den neuen Schülern das Verständnis für die phänomenologische Methode zu erschließen. Das nahm seine ganze Kraft in Anspruch. Ich ließ mich dadurch nicht einschüchtern. Meine schulfreie Zeit benützte ich jetzt zur Vorbereitung auf die mündliche Prüfung. Auch sonst rüstete ich mich für die große Reise. Seit ich in den Schuldienst eingetreten war, hatte ich es schon für notwendig gefunden, mit größerer Sorgfalt meine Kleider zu wählen. Es war mir klar, wie sehr man beobachtet wird, wenn man vor jungen Mädchen auf dem Katheder steht, und ich wollte ebensowenig durch Nachlässigkeit wie durch übertriebenen Putz auffallen. Für die Reise mußten noch einige neue Sachen angeschafft werden. Für die Prüfung selbst spendierte meine Mutter mir das erste seidene Kleid. (Seidene Kleider trug man damals nur bei feierlichen Gelegenheiten. Meine Schwestern hatten die ersten in ihrer Aussteuer bekommen, als sie heirateten. Erst als in den letzten Kriegsjahren keine Wollstoffe mehr zu haben waren, wurde Seide etwas Alltägliches.) Wir wählten miteinander einen schweren, weichen Seidenstoff; die Farbe war ein mattes Pflaumenrot.
Ich freute mich sehr auf die Reise. Zum erstenmal sollte ich über die »Mainlinie« hinausgelangen. Ich kannte ja Süddeutschland noch gar nicht und hatte mich schon immer danach gesehnt. Der Aufenthalt in Freiburg sollte zugleich meine Ferienerholung bilden. Suse Mugdan hatte ein Semester dort studiert und gab mir verschiedene gute Ratschläge mit. Vor allem sollte ich nicht im Innern der Stadt, sondern draußen in Günterstal