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an Stelle des verstorbenen Wilhelm Windelband nach Heidelberg. Diese beiden Häupter der »badischen Schule« hatten ja eine gemeinsame und darum sehr wirkungsvolle Tätigkeit ausgeübt. Es war keine ganz leichte Aufgabe, nun hier für die Phänomenologie Boden zu gewinnen. Aber Husserl zögerte keinen Augenblick, dem Ruf zu folgen. Er wurde damit aus der peinlichen Lage befreit, in der er in der Göttinger Philosophischen Fakultät so viele Jahre gewesen war, und kam auf einen der angesehensten philosophischen Lehrstühle in Deutschland. Noch glücklicher als er selbst war sicher Frau Malvine. Aber die Freude sollte nicht lange dauern. Mitten während der Vorbereitungen zur Übersiedlung nach Freiburg kam die Nachricht, daß ihr Liebling Wolfgang gefallen sei. Er hatte kurz vor Kriegsbeginn sein Abitur gemacht, hatte schon genaue Pläne für sein Sprachenstudium, auf das ihn seine ganz ausgeprägte Begabung hinwies. Als Siebzehnjähriger war er in das Göttinger Freiwilligenregiment eingetreten. Auch den Vater traf der Tod seines Jüngsten sehr hart. »Man muß ausdulden«, schrieb er an mich.

      3.

      Mir machte der rasche Übergang nach Freiburg einen Strich durch die Rechnung. Ich hatte sicher darauf gezählt, daß ich in der mündlichen Prüfung von denselben Herren geprüft würde wie im Staatsexamen und nur noch einer kleinen Wiederholung bedürfe, da für die Nebenfächer im Rigorosum viel weniger verlangt wird als für die facultas docendi. Nun mußte ich mich darauf gefaßt machen, zu ganz unbekannten Professoren zu kommen. Auf die erste Nachricht von Husserls Berufung hatte ich ihm sofort geschrieben, ob ich nicht meine Arbeit schleunigst zum Abschluß bringen und zur Promotion nach Göttingen kommen sollte. Aber er antwortete, das sei nicht mehr möglich. Ich sollte nur in aller Ruhe das »opus eximium« zu Ende führen und dann nach Freiburg kommen. Er würde dort mit der größten Freude erwartet und die neuen Kollegen würden zweifellos auch seinen Doktoranden in jeder Weise entgegenkommen.

      Bald wurde meine Arbeit noch von einer andern Seite her bedroht: Eines Morgens brachte die Post einen Brief des stellvertretenden Direktors der Viktoriaschule. Unser alter Direktor Roehl war während des Krieges gestorben. Wohl, weil eine Reihe von Lehrern im Felde standen, wurde die Ernennung eines neuen Schulleiters bis nach dem Kriege verschoben. Die Direktoratsgeschäfte wurden vorläufig Herrn Professor Lengert übertragen, unserm guten Neuphilologen. Die Lauterkeit seiner Gesinnung und seine große Herzensgüte ließen wohl hoffen, daß er mit den menschlichen Schwierigkeiten dieser Stellung eher als irgendein anderer fertig werden würde. Man konnte sich keinen milderen und anspruchsloseren Vorgesetzten wünschen. Aber er selbst trug schwer an seiner Last. In wenigen Zeilen bat er um meinen Besuch, ohne den Grund anzugeben. Zur angegebenen Zeit machte ich mich mit einiger Spannung auf den Weg – meinen wohlbekannten alten Schulweg. Es war am Vormittag während des Unterrichts. Ich betrat das Direktorhaus, das vorn an der Straße lag – zum Schulgebäude mußte man über den großen Hof gehen –, und klopfte an das Amtszimmer. Mit herzlicher Freundlichkeit wurde ich empfangen. Und nun kam das große Anliegen: Professor Olbrich, unser alter Lateinlehrer, stand als Hauptmann der Reserve in Polen. An seiner Stelle hatte bisher Herr Oberlehrer Kretschmer den Unterricht in den drei oberen Klassen des Realgymnasiums gegeben – ein junger Lehrer, der noch während meiner Schulzeit angestellt wurde; ich kannte ihn vom Sehen, hatte aber keinen Unterricht mehr bei ihm gehabt. Nun war er erkrankt und brauchte dringend eine Erholung im Gebirge. Es waren wohl noch Herren da, die die Lehrbefähigung für die Mittelstufe hatten, aber die Oberklassen wagte keiner zu übernehmen. Da waren sie auf den Gedanken gekommen, mich um die Vertretung zu bitten. Ich hatte zwar gar keine facultas für alte Sprachen, aber man hatte mich noch als gute Lateinerin in Erinnerung. Und im Krieg ging ja alles. Zwei Studentinnen, die ein Jahr nach mir Abitur gemacht hatten und noch vor dem Staatsexamen standen, halfen bereits in Mathematik und Naturwissenschaften aus. Ich war ganz betroffen über den Vorschlag. Was sollte aus meiner Doktorarbeit werden? Professor Lengert versprach mir einen zusammenhängenden Stundenplan, der mir noch reichlich Zeit für wissenschaftliche Arbeit ließe. »Herr Professor, ich habe noch nie vor einer Klasse gestanden.« Er legte die Hand aufs Herz. »O, gnädiges Fräulein, Sie haben ja immer alles gekonnt; Sie werden auch das können.« Als ich immer noch unschlüssig war, bat er mich, mit ihm in das Schulgebäude hinüberzugehen und mit dem kranken Kollegen selbst zu sprechen. Im Amtszimmer des Direktors befand sich ein großer Stundenplan für die ganze Anstalt. Er bestand aus beweglichen bunten Holztäfelchen. Jedes Mitglied des Kollegiums hatte seine Farbe. Mit einem raschen Blick war hier festzustellen, in welcher Klasse sich gegenwärtig Herr Kretschmer befand. Wir gingen hinüber und riefen ihn auf den Gang heraus. Er sagte mir noch einmal alles, was ich zu übernehmen hätte: Die Hauptsache war der Lateinunterricht in den drei Oberklassen; dazu kamen noch einige Stunden Deutsch, Geschichte und Erdkunde. »Wenn Sie selbst durchaus nicht können, dann besorgen Sie uns eine andere ehemalige Schülerin. Am liebsten ist es mir aber, wenn Sie selbst kommen.« Er legte beide Hände auf die Brust und sagte: »Ich bin lungenkrank und soll eine Liegekur machen.« Als ich das hörte und zugleich die fiebrig glänzenden Augen sah, brauchte ich keine Überlegung mehr. Anfang Februar begann ich meine erste Schultätigkeit – knapp 5 Jahre, nachdem ich dieses Haus als Abiturientin verlassen hatte.

      Bis Ostern hatte ich nur 12 Wochenstunden, da das Abitur schon vorbei und die Oberprima entlassen war. Von Ostern ab kamen noch 6 Stunden (Latein und Geschichte) in der Oberprima hinzu. In dieser Klasse waren drei Schülerinnen, die die Prüfung nicht bestanden hatten und im Herbst wiederholen mußten. Ich hatte mich darauf gefaßt zu machen, daß ich dann auch der Prüfungskommission angehören würde, um das Examen in Latein abzuhalten.

      Völlig unbeschwert durch irgendwelche pädagogische Vorbildung, ging ich ohne große Ängstlichkeit an meine Aufgabe heran. Der vorzügliche Unterricht, den wir bei Professor Olbrich gehabt hatten, war mir noch lebhaft in Erinnerung und diente mir als Richtschnur. Die Lateinstunden meiner ersten Breslauer Semester steuerten manche Anregung bei. Meine eigene Freude an den alten Schriftstellern half mir, auch bei den Schülerinnen Verständnis zu erwecken. Ich suchte auch bei der Auswahl der Lektüre das heraus, was fruchtbare Anregung versprach. Z.B. las ich mit den Primen viel mehr Tacitus, als man uns in meiner Schulzeit zugemutet hatte. Es waren sehr begabte Mädchen in den Oberklassen; sie nahmen mit großer Dankbarkeit alles auf, was über den herkömmlichen Schulbetrieb hinausging. Eine Einführung in die griechische Philosophie, die ich ihnen zur Vorbereitung auf Ciceros philosophische Schriften gab, wurde mit Begeisterung begrüßt. Herr Direktor Lengert ließ mir volle Freiheit. Die Obersekunda, die ich übernahm, war in Latein sehr verwahrlost, da sie häufig den Lehrer gewechselt hatte. Als ich einmal als Klassenarbeit eine Übersetzung ins Lateinische schreiben ließ, versagten die meisten. Sie verlangten danach, eine andere Arbeit dafür schreiben zu dürfen. Sie konnten sich dabei auf eine neuere Ministerialverfügung stützen, daß eine Arbeit nicht zu rechnen sei, wenn über ein Drittel der Klasse eine geringere Note als 3 hätte. Ich erwiderte aber: »O nein! Das Ergebnis entspricht nur den Tatsachen. Wenn jemand anders die Klasse übernimmt, kann er gleich sehen, daß über die Hälfte unter dem Durchschnitt ist, den man verlangen muß.« Trotzdem erkundigte ich mich bei Herrn Professor Lengert, ob ich ein Recht hätte, die Verfügung unbeachtet zu lassen. »Das überlasse ich ganz Ihnen, gnädiges Fräulein«, erwiderte er freundlich. »Tun Sie nur, was Sie für richtig halten.«

      Wenn ich bei solchen Gelegenheiten streng erscheinen mochte, so stand ich doch gut mit meinen Schülerinnen. Es gab eine freigebildete Wandergruppe unter einer selbstgewählten Leiterin, einer jungen Turnlehrerin. Einmal baten die Mädchen mich, an Stelle von Fräulein Walter mit ihnen hinauszugehen. Ich sagte bereitwillig zu und war den ganzen Sonntag mit ihnen im Freien, richtig wandervogelmäßig mit Zupfgeigen und Kochgeschirr. An einem Mühlbach wurde abgekocht. Eine aus der Gruppe kannte die Müllersleute und bekam von ihnen einen großen Topf Milch geschenkt. Davon wurde das Hauptgericht – Schokoladenpudding – hergestellt. Ich brauchte nicht zu kochen, aber die Kessel wurden mir vor die Nase getragen, um zu begutachten, ob es kochte.

      Ganz eigentümlich war es mir, im Lehrerinnenzimmer unter meinen alten Lehrerinnen zu sitzen und den Konferenzen beizuwohnen. Wie oft hatten wir uns als Kinder gewünscht, in einem verborgenen Winkel als kleine Mäuschen zu sitzen und zuzuhören! Nun war es mir, als sei der Wunsch in Erfüllung gegangen. Und merkwürdig: Es ging gar nicht viel anders zu, als wir es uns damals vorgestellt hatten. Es gab tatsächlich Leute, die sich über kindliche Fehler schrecklich aufregten und moralisch

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