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dem Bauch zu der Sumpfstelle hin. Der Stock jedoch, den der Eingesunkene ergriff, genügte auch nicht, um ihm Kraft genug zu geben. Da löste Haik das Gürteltuch, das er um den Kopf geschlungen hatte, und warf es Stephan hin, damit er es mit einem Knoten um seine Brust befestige. Eisern hielt er es auf der andern Seite fest. Es diente als eine Art Rettungsseil. Nach endlosen Versuchen konnte Stephan schließlich das rechte Bein, das nicht allzuweit eingesaugt war, freibekommen. Eine gute halbe Stunde war vergangen, als Haik ihn wie einen Ertrunkenen auf die feste Erde zog. Eine weitere halbe Stunde verging, ehe sich Stephan so weit erholt hatte, um, von Haik nunmehr an der Hand geführt, auf dem tückischen Boden weitertaumeln zu können. Er war bis zur Brust hinauf mit Schlamm bedeckt, der an der Luft rasch trocknete und unter seiner festen Kruste die Haut der Arme und Beine zusammenzog. Ein günstiger Umstand war es noch, daß Stephan seine Schuhe in den Rucksack gesteckt und diesen während des Kampfes mit dem Sumpf weit von sich aufs Trockene geschleudert hatte. Mit festem Griff führte Haik den Halbbewußtlosen. Er schalt ihn nicht wegen seiner Unvorsichtigkeit, sondern wiederholte mehrmals wie eine Beschwörung:

      »Wir müssen bei der Brücke sein, ehe es hell wird. Vielleicht stehn Saptiehs dort ...«

      In dem Bagradiansohn raffte sich noch einmal aller Stolz und Ehrgeiz auf:

      »Jetzt kann ich ... schon wieder gut gehn ...«

      Als sie sich gegen Norden wandten, wurde der Boden sicherer. Das matratzenartige Schwingen hörte auf. Stephan löste sich von Haik und warf seine Beine in scheinstrammem Takt. Aus der Ferne kam ein Wehen und Glitzern. Haiks Sinne spürten den Karu-Su-Fluß. Bald kletterten sie über den Damm auf die Straße, die wie ein breiter Lichtstreif die Nachtwelt erleuchtete. Das Postenhäuschen an der Brücke war leer. Wie vom Teufel gejagt, rannten die Jungen an dieser allergrößten Gefahr vorbei, die nun zum Glück keine war. Diesmal aber wirkte die glatte Heerstraße ganz anders auf Stephan als am Nachmittag. Der geebnete Boden der Zivilisation raubte seinen Gliedern die letzte Kraft. Hinter der Brücke wurde sein Schritt immer stockender. Er begann im Zickzack zu schwanken und legte sich plötzlich mitten auf die Fahrbahn hin. Haik starrte zu ihm nieder. Zum erstenmal zeigte er Verzweiflung:

      »Ich verliere Zeit ...«

      Etwa eine Stunde jenseits der Brücke läuft die Straße auf einem langen hochgebauten Steindamm über den letzten großen Sumpf von El Amk. Der Damm heißt Dschisir Murad Pascha und eröffnet recht eigentlich das große Steppenland, das viele hundert Meilen über Aleppo und den Euphrat hinaus sich bis nach Mesopotamien erstreckt. Nicht weit aber von diesem Damm erhebt sich an der nördlichen Straßenseite die reizendste Hügellandschaft wie eine letzte grüne Herzlichkeit vor Tod und Erstarrung. Am Fuße dieser Hügelwelt liegt ein großes Turkmenendorf, Ain el beda, klare Quelle. Allein schon lange, bevor sich die Siedlungen zu diesem Dorfe zusammenschließen, begegnet die Straße einzelnen Häusern aus Holz und Stein, auffallend blanken Bauerngehöften. Hier hatte vor fünfzig Jahren die Regierung Abdul Hamids einen der turkmenischen Wanderstämme seßhaft gemacht. Niemand gibt einen besseren und strengeren Bauern ab als solch ein bekehrter Nomade. Dies bewiesen die festgebauten und wohlgedeckten Behausungen dieser sanften Gegend.

      Das erste Gehöft lag dicht an der Straße. Eine Stunde nach Sonnenaufgang trat der Besitzer aus der Haustür, prüfte Wind, Wetter, Weltrichtungen und breitete seinen kleinen Teppich aus, um, gen Mekka gewandt, das früheste der fünf täglichen Gebete zu verrichten. Der Fromme bemerkte die beiden Jungen erst, als auch sie, dicht vor dem Haus auf ihren Decken hockend, die vorgeschriebenen Beugungen und Wendungen des Gebetes in der gleichen Vollständigkeit ausführten wie er. Dem Turkmenen gefiel diese frühmorgendliche Inbrunst der Jugend, doch als ruhevoller Moslem dachte er nicht daran, seine langwierige Gottespflicht durch irgendeine profane Frage zu unterbrechen.

      Haik war es mittels vieler Rasten gelungen, Stephan über den Damm Dschisir Murad Pascha bis zur Grenze dieses Hügellandes zu schleppen. Angesichts des Bauernhauses hatte er ihm noch einmal eingeschärft, alles, was er tue, genau nachzuahmen und den Mund so wenig wie möglich zu öffnen, da er nur ein paar türkische Worte spreche und dies auf die verräterischste Art. Was aber das moslemische Gebet anbelange, so bedeute es keine Sünde, wenn man dabei mit Aufmerksamkeit ein Vaterunser nach dem anderen flüstere. Letzteres aber vermochte Stephan nicht. Leblos steif wie eine Holzpuppe brachte er nur mit äußerster Kraftanstrengung eine matte Kopie von Haiks religiösen Verrenkungen zustande. Nachher sank er sogleich auf seiner Decke zusammen, den frischen Morgenhimmel mit glasigen Augen bestarrend. Der turkmenische Bauer, ein älterer Mann schon, trat wiegenden Ganges auf das verdächtige Paar zu:

      »Ihr Schlingel da! So früh auf der Straße, he? Was gibt es? Was sucht ihr?«

      Glücklicherweise redete er selbst irgendein Dialekt-Türkisch, so daß Haiks armenische Aussprache nicht besonders auffiel. In Syrien, diesem großen Mischkrug der Völker, waren übrigens auch alle Sprachen durcheinandergeschüttelt. Der Wort- Klang konnte daher dem Turkmenen kein Mißtrauen einflößen:

      »Sabahlar hajr olsun! Guten Morgen, Vater! Wir kommen von Antakje. Haben die Eltern auf dem Wege verloren. Die sind mit ihrem Wagen nach Hammam gefahren. Wir wollten ein bißchen laufen und haben uns verirrt. Dieser da, Hussein, wäre fast ertrunken. In den Sümpfen. Sieh dir ihn nur an! Jetzt ist er krank. Kannst du uns nicht ein Plätzchen geben, damit wir uns ausschlafen?«

      Mit der Gebärde der Weisheit griff sich der Turkmene in den grauen Bart. Dann stellte er, die Partei der Knaben nehmend, folgende gerechte Erwägung an:

      »Was sind das für Eltern, die ihre Kinder mitten im Sumpf verlieren und weiterfahren? ... Ist der hier dein Bruder?«

      »Nein, er ist nur ein Verwandter und auch aus Antakje. Ich heiße Essad ...«

      »Nun, dieser dein Hüssein scheint wirklich krank zu sein. Hat er vielleicht Sumpfwasser getrunken?«

      Haik wartete zur Entgegnung mit einem frommen Spruch auf, dann senkte er den Kopf:

      »... Gib uns zu essen und zu schlafen, Vater!«

      All diese Verstellung wäre nicht nötig gewesen, denn das Herz des Türken war voll Güte. Seit Monaten schon zogen die Transporte der Ausgestoßenen an seinem Hause vorüber. Er hatte so manchen armenischen Kranken, so mancher armenischen Schwangeren, die auf der Straße zusammengebrochen war, mit Speis und Trank, mit Kleid und Schuh stille Wohltaten erwiesen, nach seinem Vermögen und ohne allzuoft des jenseitigen Lohnes zu gedenken. Bei diesen guten Werken mußte man aber der Saptiehs wegen äußerst vorsichtig sein. Auf das Verbrechen des Mitleids mit Armeniern stand laut den neuen Gesetzen Bastonade, Gefängnis, und in schweren Fällen der Tod. Hunderte von gutherzigen Türken rings im Land, denen das unmenschliche Elend der Deportierten das Herz zerbrochen hatte, wußten ein Lied davon zu singen. Der Bauer unterzog die beiden Landstreicher einer eingehenden Betrachtung. Die Tausende von Armenieraugen, die dort auf der Straße zu ihm emporgebettelt hatten, erwachten in seiner Erinnerung. Das vergleichende Ergebnis war ziemlich eindeutig, insbesondere was den Kranken anbetraf. Doch gerade dieser sogenannte Hussein weckte das Erbarmen des Turkmenen lebhafter als der sogenannte Essad, der erstens gesund war und zweitens hoffnungsvoll durchtrieben zu sein schien.

      Der Hausvater ließ nun einen kurzen Ruf erschallen, und alsbald traten zwei Weiber, eine Alte und eine Junge, aus der Tür, die angesichts der Fremden eilfertig ihren Schleier herabließen. Sie bekamen einige barsche Befehle und verschwanden wieder mit geschäftigen Schritten. Der Turkmene führte Haik und Stephan ins Haus. Neben der raucherfüllten Hauptstube, in der man kaum atmen konnte, lag eine kleine leere Kammer, eine Art Verlies, das nur durch eine Scharte Licht empfing. Die Jungen stolperten über eine Stufe in dieses finstre Loch. Indessen hatten die Weiber die Matten und Decken gebracht. Sie bereiteten auf dem Lehmboden der Kammer zwei Lagerstätten. Als sie aber Stephans Glieder sahen, die noch immer in den erstarrten Schlammkrusten wie in Hülsen staken, holten sie ein Schaff mit heißem Wasser sowie eine unheimliche Bürste und begannen mit mütterlich resoluter Kraft die Arme und Beine des Armenierknaben abzureiben. Bei diesem anstrengenden Werk lüftete die Ältere sogar den Schleier, da es sich hier ja nur um halbwüchsige Kinder handelte. Unter der kräftigen Handhabung der Bäuerinnen geschah es, daß sich nicht nur von Stephans Körper alles Erstarrte löste, sondern auch von seinem Gemüt. Wie kochende Flut wallte in ihm das unterdrückte

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