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ein feines Sieb. Er hatte noch keinen Schlaf gefunden, als lange nach Mitternacht Samuel Awakian die ganze Familie weckte. Der arme Junge sagte sogleich alles und führte Gabriel Bagradian, Kristaphor, Awakian und die andern Männer, die Gabriel zu Hilfe gekommen waren, an die Stelle, wo er Haik und Stephan verlassen hatte. Es wurde sogleich eine Streifung nach dem Flüchtling veranstaltet. Bagradian kehrte mit Kework, dem Tänzer, erst gegen Sonnenaufgang unverrichteterdinge zurück, und wie er, so auch die anderen. Der Vorsprung der Knaben war viel zu groß. Auch hatte Haik den ihm vom Führerrat vorgeschriebenen Weg nicht gewählt, sondern sich auf seine eigene untrügliche Witterung verlassen.

      Während die Schwimmer, das Kap Ras el Chansir abschneidend, in ruhiger Sicherheit auf den Küstenort Arsus zuwanderten, marschierten die Knaben die ganze Nacht das mühsam unendliche Auf und Nieder des Höhenzuges entlang. Die Aufgabe Haiks lautete, auf dem gefahrlosen Gebirgsrücken so lange zu verbleiben, bis das südliche Ende des Tales von Beilan erreicht sei. Habe er dann bei Kyrk-Chan die Ebene gewonnen, so möge er sich immer in der Nähe der großen Fahrstraße halten, die über Hammam nach Aleppo führt. In den abgeernteten Maisfeldern und auf der verbrannten Steppe werde er während der mondhellen Augustnächte gut vorwärtskommen und im Gefahrfalle Deckung genug finden. Angesichts der großen Stadt aber müsse er sich auf die Heerstraße wagen und auf einen der Bauernwagen springen, die mit Maiskolben oder Süßholz beladen sind. Mit Gottes Hilfe werde er so an den Militärposten der Stadtgrenze vorbeischlüpfen. Was aber auch immer geschehe, der Brief an Mr. Jackson dürfe bei ihm nicht gefunden werden. Haik setzte seinen Weggenossen von dieser Aufgabe genau in Kenntnis und malte grausam die Gefahren und Schwierigkeiten aus, die in der Ebene ihrer warteten. In den menschenlosen Bergen sei alles noch ein Kinderspiel. Nach einstündiger Wanderung etwa senkte sich der Hirtenpfad, den Haik immer unter den Füßen behielt, ohne ihn zu sehen, ins Tal hinab.

      Der Beauftragte machte halt und mahnte Stephan:

      »So, jetzt hast du noch Zeit, umzukehren. Du kannst dich nicht verirren, überleg es dir! Später wird es nicht mehr möglich sein.«

      Stephan machte eine ärgerliche Bewegung. Sein Herz aber war voll von Zweifeln. Die Gründe seines Aufbruchs leuchteten ihm auf einmal nicht mehr ganz ein. Haik wies in die Richtung des Damlajik, wo ein ferner rötlicher Dunst noch immer den Waldbrand bezeichnete:

      »Du wirst nicht mehr hinkommen und niemanden wiedersehen ...«

      Der Bagradiansohn kam gar nicht dazu, seines wahren Verlangens bewußt zu werden. Er wäre lieber gestorben, ehe er Haik gegenüber sich als schwach gezeigt hätte. In verlegener Scham zog er jene Landkarte aus der Tasche, die früher im Studio seines Onkels Awetis gehangen war. Er tat so, als prüfe er im scharfen Mondlicht ernsthaft den Standort nach. Haik aber, durch diesen »eingebildeten Humbug« erbost, schlug ihm die Karte aus der Hand und verschwendete keinen guten Rat mehr an ihn. Daraufhin beschloß Stephan, dem Hochmütigen zu beweisen, daß er ihm an Marschtüchtigkeit überlegen sei. Er verfiel in eine wild ausgreifende Gangart und spannte alle Muskeln an, um den Gefährten in körperliche Bedrängnis zu bringen. Dieser aber dachte nicht daran, sich von Stephan ein blödsinniges Tempo aufzwingen zu lassen. Gleichmäßig und beinahe gravitätisch schritt er seines Weges. Stephan sah sich zu seinem Schrecken plötzlich allein. Anstatt dem anderen seine Überlegenheit zu beweisen, hatte er den Weg verloren und wäre aus eigener Kraft, so spürte er, dieser Wildnis nicht entkommen. Sein Herz klopfte, doch er wagte es nicht, zu rufen. Als dann nach endlosen Minuten Haiks Gestalt aus einem Buschwall in den Mond tauchte, ohne sich um den Selbständigen zu scheren, da ließ er sich seine beschämende Erfahrung nicht anmerken und schloß sich schweigend dem Stärkeren an. Damit war der Kampf um den Vorrang zwischen diesen beiden für alle Zeiten entschieden. Sie gelangten rasch in das schmale Tal. Rechter Hand von ihnen dehnte sich die große Ortschaft Sanderan. Gott sei Dank, kein Licht brannte dort. Nur eine einsame Menschenstimme näselte eine gepreßte Weise. Es war ein schauriges Gefühl, sich an einer bewohnten Stätte, die den Tod barg, vorbeizudrücken. Die wilden Hunde von Sanderan aber ließen sich nicht täuschen und verfolgten die beiden Armenierjungen weit hinaus über die Bannmeile. Mit unheimlicher Sicherheit fand Haik neuerdings einen Hirtensteig, der nordöstlich ins Gebirge führte. Als sie wieder durch einen dünnen Laubwald gingen, der sich mit dem Mondlicht vollgesogen hatte, überkam Stephan die trunkene Abenteuerfrische der Nacht. Er vergaß alles. Am liebsten hätte er gesungen und gejauchzt. Müdigkeit? Gab es das? Nach Sonnenaufgang hatten sie trotz mehreren Rasten einen Weg von beinahe zehn Meilen zurückgelegt und den Punkt erreicht, wo sich die Gebirge gegen Norden zu in breiten waldigen Terrassen herabsenken. Stephan wäre samt seiner Karte im Leeren gestanden. Haik aber wies scharf in eine bestimmte Richtung:

      »Dort müssen wir hin. Beilan!«

      Er hatte alles im Gefühl, obgleich er nur ein einziges Mal mit seiner Mutter nach Beilan und Alexandrette gereist, das heißt auf einem Esel geritten war, und zwar auf einem ganz anderen Wege, der Küste entlang. Nun aber meinte er zufrieden, man werde jetzt einen Schlafplatz suchen, eine Mahlzeit halten und sich bis Mittag ausruhen. Der kurze Schlaf müsse ihnen genügen, anders sei es nicht zu machen. Haik brauchte nicht lange herumzuschnuppern, um nicht nur einen schattigen Platz mit gutem Grasboden, sondern auch eine Quelle zu finden. Letzteres war freilich im wasserreichen Umkreis des Musa Dagh keine Zauberei. Für Haik, der mit seiner Haut auf die verborgenen Eigenheiten jedes Bodenflecks, auf die geringsten Wärmeunterschiede, auf Vegetationsunterschiede und Tiernähen unfehlbar reagierte, bedeutete es eine lächerliche Kleinigkeit, Wasser zu entdecken. Die Jungen lagerten sich an dem Quellauf, der hier sogar einen kleinen erwünschten Tümpel bildete. Zuerst stillten sie ihren Durst. Sodann aber zog das Kulturkind zu Haiks Erstaunen ein Stück Seife aus dem Rucksack und begann sich zu reinigen. Haik betrachtete diese überflüssige Tätigkeit mit sarkastischem Ernst. Als Stephan fertig war, steckte er seine Füße wohlig in den kalten Tümpel, denn die Füße waren ja das Wichtigste. Nachher teilten sie mit knabenhafter Lust am Tauschhandel ihre Lebensmittel. Witwe Schuschik hatte ihrem Sohn aus kleingehacktem Hammelfleisch, Fett und Zwiebelstücken drei große Würste zubereitet und ihm überdies ein steinhartes Brot mitgegeben, das sie sich weiß Gott woher verschafft hatte. Das Verbergen von Brot, Teigware und Feldfrucht galt auf dem Damlajik als großes Verbrechen, das mit mehrtägigem Portionsentzug bestraft wurde. Dennoch aber tauchten in den Hütten insgeheim derartige Schätze immer wieder auf, deren Herkunft ein unlösbares Rätsel blieb. Es ist stets die alte Geschichte. Keine gesetzmäßige Rationierung, auch die gewaltsamste nicht, kann den schöpferischen Lebensstrom völlig hemmen, der sich das Unglaubliche aus dem Nichts holt.

      Es könnte beinahe für sinnbildlich gelten, daß Stephan als Gegengabe für Hammelwurst und Fladenbrot französische Ölsardinen und Schweizer Schokolade anzubieten hatte, fremdartige Delikatessen also, die Haik kaum dem Namen nach kannte. Die Knaben beherrschten sich nicht, sondern aßen reichlich von den Vorräten, ohne an die nächsten Tage zu denken. Haik aber besann sich plötzlich, packte das Seinige weg und gab Stephan den Rat:

      »Trink lieber Wasser und spar das Essen!«

      So geschah es auch. Sie tranken aus dem Aluminiumbecher der Thermosflasche das Quellwasser in großen Mengen, dem Stephan seinen Wein beimischte. Er fühlte sich so wohl, als befände er sich auf einer lustigen Ferienwanderung und nicht mit einem anderen Armeniersohn auf diesem todumdrohten Botengang mitten in die erbarmungslose Hauptstadt, zu dem er nicht einmal Recht und Beruf hatte. Alles Schmerzliche schien endgültig auf dem Damlajik zurückgeblieben zu sein. Welch ein innig-zappliges Vergnügen war es doch, nach einer durchwanderten Nacht als Mensch in dieser harmlos guten Morgenwelt zu leben. Stephan schob die zusammengefaltete Decke unter seinen Kopf. Immer wärmer flutete die Frühe. Noch einmal hob er sich auf und lallte kindisch:

      »Werden keine wilden Tiere kommen?«

      Haik legte gewichtig sein breites Dolchmesser neben sich:

      »Du brauchst keine Angst zu haben. Wenn ich auch schlafe, so sehe ich doch alles.«

      Stephan hatte keine Angst. Welch ein guter Wächter war Haik, selbst wenn er schlief! Niemals noch hatte er zu einem menschlichen Wesen anschmiegsameres Vertrauen gefühlt als zu diesem groben Burschen, um dessen Bewunderung er immer gebuhlt hatte. Jetzt ergab er sich ihm rückhaltlos als seinem Führer. Aus dem Schlafe schon tastete seine Hand suchend nach dem Freunde.

      »Wir

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