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Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch). Franz Werfel
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch)
Год выпуска 0
isbn 9788075835543
Автор произведения Franz Werfel
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
»Wenn es nötig wird, mußt du mir alles genau nachmachen. Am besten aber, du tust den Mund nicht auf.«
Es war spät am Nachmittag. Zwischen den Buchen- und Eichenwipfeln offenbarte sich ein goldtrunkener Himmel, der von schwebenden Raubvögeln erfüllt war. Die Knaben hatten einen Weg von mehr als sechs Stunden zurückgelegt. Das Wort Weg bedeutete übrigens eine freundliche Übertreibung. Da sich weit und breit kein Hirtensteig mehr zeigte, waren sie einfach in den Wasserrinnen vorwärtsgedrungen, die ja ins Tal führen mußten. Vorwärtsgedrungen ist die richtige Bezeichnung, denn das dichte widerständige Unterholz, Schlingpflanzen und Sträuchermauern, hart und elastisch wie Gummi, doch mit drahtstarren Stacheln bewehrt, hemmten jeden Schritt. Es war kaum zu glauben, wie viele Terrassen und felsige Abhänge überwunden werden mußten. Das Gebirge schien immer eine neue Ausrede zu haben, um sich nicht seinem Ende zu ergeben. Stephan spürte sich selbst nicht mehr. Seine Hände, seine Knie, seine Beine waren mit Wunden und Abschürfungen übersät. Er hatte seit Stunden kein Wort mehr gesprochen, doch auch nicht geklagt. Jetzt saßen die beiden auf einer kahlen Anhöhe, und unter ihnen zog die kalkweiße Paßstraße von Beilan dahin. Sie machte einen funkelnagelneuen Eindruck. Überall wiesen frische Schotterhaufen auf menschliche Arbeit hin. Und wirklich, an dieser Paßstraße, die den Hafen Alexandrette mit der Ebene von Aleppo und dadurch das Mittelmeer mit ganz Asien verbindet, zeigte sich die unbeschränkte Macht und Energie Dschemal Paschas, des Diktators von Syrien. Der unerbittliche General hatte befohlen, daß aus diesem grundlosen, brüchigen Wege binnen einem Monat eine makellos glatte untermauerte Prachtstraße zu entstehen habe; und sie war entstanden, so daß die Türken über die ungehobene Tatkraft, die in ihnen steckte, selbst in Staunen gerieten. An dieser Stelle machte die Straße vor Haiks und Stephans Augen ihren Bogen nach Osten. Sie überblickten nur ein kleines Stück, doch kein Mensch, kein Gefährt, kein Esel, kein Pferd kam in Sicht, hie und da nur flitzte ein Hase oder ein Eichhörnchen über das weiße Band. Sehnsüchtig starrte Stephan auf die gebahnte Möglichkeit hinab. Aber auch Haik schien schwach zu werden und dieser Lockung nicht widerstehen zu können. Ohne sich erst mit Stephan über die verwegene Unvorsichtigkeit zu verständigen, sprang er auf und lief den Abhang hinunter. Als sie die glatte Bahn unter den Füßen spürten, da erfüllte sie eine ähnliche Körperwollust, wie es der gestillte Durst ist. Neuer Ehrgeiz, neue Kraft stieg in Stephan auf. Er hielt mit Haik Schritt. Rechts und links begannen steilere Höhen aufzusteigen. Die Straße wurde zum Hohlweg, zum Engpaß. Dies erhöhte merkwürdigerweise das Sicherheitsgefühl und damit den Leichtsinn. Dann traten die Berge ein wenig auseinander, das Straßengefälle neigte sich stark abwärts. Noch eine Biegung, und die Ebene mußte offen liegen. Von der Strömung des Weges unwiderstehlich mitgerissen, liefen sie jetzt ins Verderben. Denn als sie das Straßenknie überschritten hatten, lag zwar nicht die Ebene vor ihnen, aber ein türkisches Postenhaus, von dem die Halbmondfahne wehte. Vor dem Hause lungerten vier abscheuliche Saptiehs. An den Straßenrändern aber arbeitete mit Spaten, Krampen und Steinhammer eine Abteilung von Inschaat Taburi. Die erschöpften Sinne der Wanderer hatten den Arbeitslärm und die traurig gaumigen Gesänge der Armierungssoldaten nicht gehört. Der Schreck und die Erstarrung waren so groß, daß sich selbst Haik beinahe eine halbe Minute nicht von der Stelle rührte. Dann aber packte er Stephan an der Hand und riß ihn mit sich. Sie stürmten hinter der Biegung in das Gehölz hinein. Unglücklicherweise gab es gerade hier keine Felsblöcke und keine Sträucher, sondern nur schmale junge Buchenstämme, die keine Deckung boten. Sanft stieg der Berg an. Wohin? Vor Haiks innerem Auge beugte sich der eine der Saptiehs vor, legte die Hand über die Augen, spähte scharf, stieß einen Gurgelruf aus und nahm mit der ganzen Mannschaft die Verfolgung auf. Und es war kein Schrecktraum nur. Stimmen! Das Laub raschelte unter den Schritten der Türken. Stephan schloß die Augen und preßte sich eng an Haik. Dieser umfaßte ihn mit dem linken Arm. In der Rechten hielt er das aufgeklappte Dolchmesser. Todesbereitschaft. Doch was so scharf heranflüsterte, das waren keine türkischen Worte:
»Jungens, Jungens! Wo seid ihr? Fürchtet euch nicht!«
Geisterhaft kamen die armenischen Laute. Als Stephan die Augen aufriß, sah er zwischen den Stämmen einen zerlumpten Armierungssoldaten atemlos auftauchen. Ein struppiger Totenkopf mit riesigen Augen. Bis auf diese jammernden Augen glich er beinahe Sarkis Kilikian. Haik faßte sich und steckte das Messer ein. Die Stimme des Straßenarbeiters zitterte vor Aufregung:
»Bist du nicht der Sohn der großen Schuschik, die auf dem Wege nach Yoghonoluk ihr Haus hat? Erkennst du mich nicht?«
Haik ging ungläubig auf das elende Gerippe zu, dem die Fetzen um die Glieder schlotterten, und das zu alldem noch barfuß war. Sein Blick glitt aufmerksam an dem Menschen herab: »Vahan Melikentz aus Azir«, sagte er zögernd, als greife er aufs Geratewohl einen Namen heraus. Der Arbeitssoldat nickte lebhaft, und Tränen rannen ihm in den Stoppelbart, so sehr erschütterte ihn die Begegnung mit den jugendlichen Landsleuten. Haik hatte den Namen nur erraten. Was hatte dieser zerlumpte mit dem eigentlichen Melikentz zu schaffen, dem stattlich prahlerischen Raupenzüchter, dem er täglich begegnet war? Melikentz aber hob verzweifelt die Hände:
»Seid ihr wahnsinnig? Was habt ihr hier zu suchen? Dankt es Christus, dem Erlöser, daß euch der Onbaschi nicht gesehen hat. Gestern haben sie dort unten an der Biegung fünf Armenier erschossen, eine Familie, die nach Alexandrette wollte.«
Haik, wieder völlig Herr seiner selbst, setzte dem ehemaligen Raupenzüchter mit gemessener Würde die Mission auseinander, die er vom Führerrat auf dem Musa Dagh empfangen hatte. Melikentz entsetzte sich:
»Die Straße ist bis Hammam voll Inschaat Taburi. Und in Hammam sind gestern zwei Kompanien angekommen, die gegen den Damlajik geschickt werden sollen. Ihr könnt nur in der Nacht an den Sümpfen von Ak Denis vorbeigehen. Aber da werdet ihr hineinfallen.«
»Wir werden nicht hineinfallen, Melikentz«, erklärte Haik mit lakonischer Zuversicht, und dann forderte er den Landsmann auf, ihm den kürzesten Weg in die Ebene zu zeigen. Vahan Melikentz jammerte:
»Wenn sie mich vermissen, wenn ich zu spät einrücke, bekomme ich die Bastonade dritten Grades. Vielleicht erschießen sie mich auch ... Mögen sie mich erschießen! Ihr wißt nicht, Jungens, wie sehr ich darauf spucke. Oh, wäre ich doch mit den Eurigen auf den Musa Dagh gegangen und nicht mit Nokhudian, dem Pastor! Die Eurigen waren gescheit. Christus helfe ihnen! Uns hat er nicht geholfen.«
Vahan Melikentz riskierte wahrhaftig den Tod, um die Jungen auf den Weg zu bringen. Es war übrigens nur eine kurze und ziemlich bequeme Waldstrecke, die sie zu überwinden hatten. Der arme Raupenzüchter redete unausgesetzt, als wollte er eine ganze Ernte verlorener Worte nachholen oder kurz vor seinem Ende noch verschwenden. Er schien weniger Interesse für die Vorgänge auf dem Musa Dagh zu hegen, als den Drang zu empfinden, sein eigenes Schicksal darzustellen. Haik und Stephan erfuhren auf diese Weise einiges davon, was sich mit der Nokhudiangruppe zugetragen hatte. In Antakje waren alle kräftigen Männer ausgesondert und nach Hammam zum Straßenbau geschickt worden. Die Frauen, Kinder, Alten und Kranken mußten euphratwärts wandern. Pastor Nokhudian konnte beim Kaimakam nicht das geringste erreichen. Mit den armenischen Inschaat Taburi aber hatte es eine ganz besondere Bewandtnis. Jede Abteilung bekam ein bestimmtes Straßenstück zugewiesen, das dann und dann fertig sein mußte. Meldete der Onbaschi die Vollendung dieses Pensums, so wurde die Abteilung zusammengetrommelt, in die nächste Waldung geführt und dort von einer eigenen, in dieser Kunst schon höchst routinierten Truppe mit Schnellfeuer umgelegt.
»Unser Straßenstück«, berechnete Melikentz nüchtern, »reicht bis nach Top Boghazi, das sind noch vierzigtausend Schritt. Alles in allem macht das sechs oder sieben Tage, wenn wir geschickt sind. Dann kommen wir an die Reihe. Wenn sie mich also gleich heute erschießen, verlier ich nur sechs, höchstens sieben Tage.«
Trotz dieser einfachen Bilanz jedoch entfernte sich Vahan Melikentz, als er die Knaben in die Richtung gebracht hatte, mit atemlos großen Sprüngen. Sechs Tage grauenhaften Lebens waren trotz allem sechs Lebenstage. Beim Abschied ließ er einen Klumpen türkischen Honigs in Haiks Hand zurück, den ihm eine