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Augen hatte die Farbe tief vergilbten Papiers und hätte weit eher einem weisen Mandarin angehören können als einem Armenier. Er sprach mit einer hohen, dabei sonderbar hohlen Stimme, die durch allzu großes Wissen erschöpft schien. Und wirklich, der Apotheker von Yoghonoluk besaß nicht nur eine Bibliothek, dergleichen es in Syrien gewiß keine zweite gab – Krikor war selbst eine Bibliothek in Person, ein Mann der Allwissenheit in einem der unbekanntesten Täler der Erde. Ob es sich um die Flora des Musa Dagh handelte, um die geologische Beschaffenheit der Wüsten, um eine ausgefallene Vogelart im Kaukasus, um Kupfergewinnung, um Meteorologie, um Kirchenväter, um den Koran, um Fixsterne, um die Ausfuhrziffern von Kamelmist, um die Geheimnisse des persischen Rosenöls und um Kochrezepte – die hohle Stimme Krikors vermochte immerdar Auskunft zu geben, und zwar in leise-nachlässiger Form, als sei es jeweils eine respektlose Zumutung, die Lösung so geringfügiger Aufgaben von ihm zu fordern. Vielwisserei ist weitverbreitet. In ihr allein hätte sich die schöpferische Eigenart des Apothekers nicht bewähren können. Nein, es stand um Krikor ähnlich wie um seine Bibliothek. Diese setzte sich zwar aus einigen tausend Bänden zusammen, jedoch der weitaus größte Teil war in Sprachen abgefaßt, die er nicht zu lesen verstand. So zum Beispiel gleich das deutsche Konversationslexikon von Brockhaus eines verschollenen Jahrganges. Er mußte sich mit einem spärlichen armenischen Kenntnisbrunnen abfinden. Die Vorsehung hatte seiner Leidenschaft schwere Hindernisse in den Weg gelegt. Die armenischen und französischen Werke, die ihm zugänglich waren, bildeten die schwächste Partie seines Bücherschatzes. Krikor aber war nicht nur ein Gelehrter, er war ebensosehr ein Bibliophile. Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muß es erst gar nicht lesen. (Verhält es sich nicht mit jeder großen Liebe ähnlich?) Der Apotheker war kein reicher Mann. Er konnte es sich nicht leisten, den Buchhandlungen und Antiquariaten in Stambul oder gar im Ausland kostspielige Aufträge zu geben. Er hätte kaum die Kosten der Fracht aufgebracht. So mußte er denn nehmen, was ihm in den Wurf kam. Den Grundstock, behauptete er, habe er schon in seiner Kindheit und seinen Wanderjahren gelegt. Nun hatte er Agenten und Gönner in Antiochia, Alexandrette, Aleppo, Damaskus, die ihm von Zeit zu Zeit ein großes Paket zuschickten. Welch ein Feiertag, wenn solche Gaben einlangten! Mochten es arabische oder hebräische Folianten sein, französische Romane, allgemeine Makulatur, gleichviel, es waren Bücher, bedrucktes Papier. Selbst Tageszeitungen hob er auf und katalogisierte peinlich Preislisten und Prospekte. In diesem Mann war die ganze Zärtlichkeit der armenischen Rasse für den Geist zusammengedrängt, das Geheimnis aller uralten Völker, welche die Zeiten überdauern. Wie der Same einer Steinnelke auf dem nackten Felsen Wurzel schlägt, so hatte Krikors Bibliothek in Yoghonoluk Wurzel gefaßt. Diese sonderbare, in der Hauptsache ungelesene Bibliothek hätte nun kaum hingereicht, die Grundlage für des Apothekers Riesenwissen zu bilden. Hier aber half ihm der schöpferische Mut über alle Lücken hinweg. Krikor ergänzte seine Welt. Alle Fragen von der Theologie bis zur Statistik beantwortete er aus eigener Machtvollkommenheit. Dabei fühlte er sich keineswegs als Fälscher. Das unschuldige Glück des Dichtertums durchströmte ihn, wenn er die großen Worte der Wissenschaft durcheinanderwarf. Daß ein solcher Mann Jünger hatte, ist selbstverständlich. Daß diese Jüngerschar sich aus der Lehrerschaft der sieben Dörfer zusammensetzte, ebenfalls. Die Lehrer verehrten in Krikor das Wunderorakel, und nicht einmal der boshafte Oskanian dachte daran, die Stichhaltigkeit dieses Orakels anzuzweifeln. Apotheker Krikor war der Sokrates vom Musa Dagh, wenn er mit diesen seinen Jüngern zumeist bei Nacht philosophische Spaziergänge unternahm. Dabei bot sich Gelegenheit, die Verehrung der Jünger immer wieder zu vertiefen. Ein Fingerzeig auf den gestirnten Himmel: »Hapeth Schatakhian, kennst du jenen rötlichen Stern dort?« – »Welchen? Diesen dort! Das muß ein Planet sein. Wie?« – »Falsch, Lehrer! Es ist der Stern Aldebaran! Und weißt du, warum er rötlich scheint?« – »Warum? Vielleicht ... unsere Lufthülle ...« – »Falsch, Lehrer! Der Stern Aldebaran besteht aus geschmolzenem Magneteisen, und davon ist er rötlich. Dies ist ebenfalls die Meinung des berühmten Camille Flammarion, die er mir in seinem letzten Brief schreibt.«

      Auch der Brief des großen Astronomen war kein leerer Schwindel. Er bestand wirklich. Nur hatte ihn Krikor in der Person Camille Flammarions selbst an sich gerichtet. Solche Post freilich erledigte er nur höchst selten und in feierlichsten Stunden. Die Jünger erfuhren meist nichts von diesen Briefschaften. Es waren jedoch nicht nur zeitgenössische oder jüngstverstorbene Geistesriesen, die er zu Partnern seines Briefwechsels machte, sondern auch Voltaire und der große armenische Dichter Raffi hatten ihm mehrmals schon umgehend ein Schreiben erwidern müssen. So lebte in Krikor ein korrespondierendes Mitglied des Olymps.

      Erstaunlich war's, daß bei seiner geistigen Weitläufigkeit der Apotheker seit Menschengedenken Yoghonoluk nicht verlassen hatte. Alle gebildeten Leute vom Musa Dagh unternahmen mindestens einmal jährlich eine Reise, und sei es nur nach Aleppo oder Marasch, um dort die amerikanischen, deutschen, französischen Missionsschulen zu besuchen, wo sie den höheren Unterricht empfangen hatten. Nicht wenige unter den Alten des Volkes waren erst in späten Jahren aus Amerika zurückgekehrt, um das Erworbene in Ruhe zu verzehren. Und knapp vor Kriegsausbruch war wiederum ein Schub von Wandersüchtigen über den Ozean gegangen. Nur Apotheker Krikor vermied den geringsten Ortswechsel. Selbst ein Besuch in den Nachbardörfern gehörte zu den größten Seltenheiten. In seiner Jugend, so behauptete er, habe er von den Merkwürdigkeiten des Erdballs mit eigenen Augen genug gesehen. Manchmal machte er denn auch Andeutungen über diese Fahrten, die sich weit im Westen und im Osten verloren, bei denen er aber aus Prinzip niemals eine Eisenbahn benützt habe. Ob es sich damit so verhielt wie mit Flammarions Brief, bleibe dahingestellt. Nichts an Krikors Reden und Erzählungen roch auch nur im entferntesten nach Aufschneiderei und Phantasie. Seine Berichte waren von anschaulicher Gründlichkeit durchtränkt, so daß selbst ein Mann wie Gabriel Bagradian keinen Argwohn gefaßt hätte. Bei jeder Gelegenheit aber beteuerte der Apotheker sein Unverständnis für alle Reiselust. Mochte Altouni, der allbekannte Nörgler, herbe Klagen führen, weil er sein Leben in einem syrischen Dorf verloren habe. Krikor war zufrieden in und mit Yoghonoluk. Alle Orte gelten gleich, denn die äußere Welt war in der inneren enthalten. Der Wissende sitzt, ohne sich zu bewegen, wie eine Spinne inmitten des Strahlennetzes, das er über das Universum spannt. Aber wenn das Gespräch auf Politik, auf den Krieg, auf brennende Gegenwartsfragen kam, wurde der Apotheker unruhig. Dergleichen Dinge liebte er nicht zur Kenntnis zu nehmen. Die Welt als Spielball äußerer Abhängigkeit und innerer Teilnahme bildete eine erniedrigende Störung. Erst in die selbstlose Ferne der Betrachtung gerückt, bekam sie Wert. Letzter Hochmut des Geistes! Was gingen ihn die Ereignisse des »Hinterlandes« dort an, die sich zwischen Stambul, Aleppo und Mesopotamien abspielten? Kriege, die nicht schon zu Büchern geworden waren, mißachtete er. Aus diesem Grunde hatte der Apotheker auch die politischen Ausführungen Lehrer Schatakhians gerügt. Jetzt vollendete er:

      »Ich verstehe nicht, warum man immer und immer wieder zu den andern hinüberschielt. Krieg, Verordnungen, Wali, Kaimakam. Laßt dort die Türken machen, was sie wollen! Wenn ihr euch nicht um sie kümmert, so kümmern sie sich nicht um euch. Wir haben unsere eigene Erde hier. Und sie findet sogar verwöhnte Liebhaber ... Bitte ...«

      Damit stellte Krikor dem Hausherrn einen fremden Gast vor, der sich bisher hinter den anderen Männern verborgen hatte oder ihm nicht aufgefallen war. Der Apotheker ließ den tönenden Namen des Fremden auf der Zunge zerfließen: »Gonzague Maris!«

      Der junge Mann war, nach der Art wie er aussah und wie er sich trug zu schließen, ein Europäer oder zumindest ein stark europäisierter Levantiner. Das schwarze Schnurrbärtchen in dem blassen und höchst aufmerksamen Gesicht war so französisch wie der Vorname. Das auffälligste Merkmal bildeten seine Augenbrauen, die in einem stumpfen Winkel gegeneinander standen. Krikor spielte weiter den Herold des Fremden:

      »Monsieur Gonzague Maris ist Grieche.«

      Sogleich aber verbesserte er sich, als wolle er den Gast nicht herabsetzen:

      »Nicht türkischer Grieche, sondern Reichsgrieche, Europäer.«

      Der Fremde hatte sehr lange Augenwimpern. Er lächelte jetzt, wobei er die frauenhaften Wimpern tief über die Augen senkte:

      »Mein Vater war Grieche, meine Mutter Französin, ich bin Amerikaner.« Die bescheidene, ja fast scheue Art des jungen Menschen wirkte auf Gabriel angenehm. Er schüttelte den Kopf:

      »Was

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