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die breite Menge. Mit seiner kleinen Hand holte der Alte langsam, feierlich zum Gruße aus, berührte Herz, Mund und Stirn. Ebenso feierlich erwiderte Gabriel den Gruß, als bedränge keine Ungeduld seine Nerven. Daraufhin trat der Agha näher und streckte seine Rechte gegen das Herz des Gastes aus, so daß er mit den Fingerspitzen Gabriels Brust leicht berührte. Damit war der »Herz-Kontakt« angedeutet, die innigste Form persönlicher Fühlungnahme, ein mystisches Brauchtum, das fromme Leute von einem bestimmten Derwischorden übernommen haben. Dabei leuchtete die winzige Hand in der angenehmen Finsternis des Selamliks immer weißer. Gabriel kam es so vor, als sei diese Hand auch ein Gesicht, vielleicht sogar noch feiner und empfindsamer als das eigentliche.

      »Freund und Sohn meines Freundes« – diese weit ausholende Ansprache war immer noch ein Teil der Empfangszeremonie –, »mit deiner Visitkarte hast du mir vorhin das Geschenk einer freudigen Überraschung gemacht. Und nun verschönert mir deine Gegenwart den Tag.«

      Gabriel wußte, was sich geziemte, und fand für seine Antwort die richtige Responsorienform:

      »Meine seligen Eltern haben mich sehr früh allein gelassen. In dir aber lebt mir ein lebendiger Zeuge ihres Andenkens und ihrer Zuneigung. Wie glücklich bin ich, in dir einen zweiten Vater zu besitzen.«

      »Ich bin in deiner Schuld.« Der Alte führte den Gast zu einem Diwan. »Du erweisest mir heute zum dritten Male die Ehre. Schon längst wäre ich verpflichtet gewesen, dir in deinem Hause meine Aufwartung zu machen. Aber du siehst, ich bin ein alter, gebrechlicher Mann. Der Weg nach Yoghonoluk ist lang und schlecht. Auch steht mir eine große und dringende Reise bevor, für die ich meine Glieder schonen muß. Vergib mir also!«

      Damit war der Ritus des Empfanges zu Ende. Man ließ sich nieder. Ein kleiner Junge brachte Kaffee und Zigaretten. Der Hausherr trank und rauchte schweigend. Die Sitte befahl, daß der jüngere Besucher mit seinem Anliegen warten müsse, bis der alte Mann die Möglichkeit gebe, das Gespräch in die gewünschte Richtung zu lenken. Der Agha aber schien noch nicht gesonnen zu sein, aus seiner halbdunklen Welt in irgendeine Wirklichkeit dieses Tages zu tauchen. Er gab dem Diener ein Zeichen, worauf dieser seinem Herrn eine kleine Lederkassette überreichte, die er schon bereitgehalten hatte. Rifaat Bereket ließ sie aufspringen und streichelte mit seinen beseelten Greisenfingern über den Sammet, auf dem zwei uralte Münzen lagen, eine silberne und eine goldene:

      »Du bist ein sehr gelehrter Mann, der an der Universität von Paris studiert hat, ein Schriftenkenner und Schriftendeuter. Ich bin nur ein ungebildeter Liebhaber des Altertums, der sich mit dir nicht messen kann. Hier aber habe ich schon seit ein paar Tagen diese beiden Kleinigkeiten für dich vorbereitet. Die eine Münze, die silberne, hat vor tausend Jahren jener armenische König schlagen lassen, der einen ähnlichen Namen trug wie deine Familie: Aschot Bagratuni. Sie stammt aus der Gegend des Wan-Sees und man findet sie selten. Die andere, die goldene, ist hellenischen Ursprungs. Du kannst die schöne und tiefsinnige Inschrift auch ohne Vergrößerungsglas entziffern:

      Dem Unerklärlichen in uns und über uns.«

      Gabriel Bagradian erhob sich und nahm das Geschenk entgegen:

      »Du beschämst mich, mein Vater! Ich weiß gar nicht, wie ich mich dankbar erweisen soll. Wir waren immer stolz auf den Gleichklang in unserem Namen. Wie plastisch der Kopf ist! Und ein echtes Armeniergesicht. Die griechische Münze müßte man als Mahnung um den Hals tragen. Dem Unerklärlichen in uns und über uns! Was für philosophische Menschen müssen das gewesen sein, die mit solchen Geldstücken gezahlt haben. Wie tief sind wir gesunken!«

      Der Agha nickte, von solchem Konservativismus voll befriedigt: »Du hast recht. Wie tief sind wir gesunken!«

      Gabriel legte die Münzen auf den Sammet zurück. Doch es wäre unhöflich gewesen, allzuschnell das Thema des Geschenkes zu verlassen:

      »Ich würde dich innigst bitten, dir eine Gegengabe unter meinen Antiken auszuwählen. Aber ich weiß, daß es dir dein Glaube verbietet, ein Bildwerk aufzustellen, das einen Schatten wirft.«

      Bei diesem Punkt verweilte der Alte mit einem unleugbaren Behagen:

      »Ja, und gerade wegen dieses weisen Gesetzes mißachtet ihr Europäer unsern heiligen Koran. Liegt nicht in dem Verbot aller Bildnerei, die Schatten wirft, eine hohe Einsicht? Mit der Nachahmung des Schöpfers und der Schöpfung fängt jener rasende Hochmut des Menschen an, der zum Abgrund führt.«

      »Die Zeit und dieser Krieg scheinen dem Propheten und dir recht zu geben, Agha.«

      Die Brücke des Gespräches wölbte sich zu dem Alten hinüber. Er betrat sie:

      »Ja, so ist es! Der Mensch als frecher Nachäffer Gottes, als Techniker, verfällt dem Atheismus. Das ist der wahre Grund dieses Krieges, in welchen uns die Abendländer hineingerissen haben. Zu unserem Unheil. Denn was haben wir dabei zu gewinnen?«

      Bagradian prüfte den nächsten Schritt:

      »Und sie haben die Türkei mit ihrer gefährlichsten Seuche angesteckt, dem Völkerhaß.«

      Rifaat Bereket lehnte den Kopf ein wenig zurück. Seine zarten Finger spielten müde mit den Kugeln seines Bernsteinkranzes. Es war so, als ginge von diesen Händen ein matter Heiligenschein aus:

      »Es ist die böseste Lehre, die eigene Schuld im Nachbarn zu suchen.«

      »Gott segne dich! Die eigene Schuld im Nachbarn suchen. Diese Lehre beherrscht Europa. Heute aber habe ich leider erfahren müssen, daß sie auch unter Moslems und Türken ihre Anhänger hat.«

      »Welche Türken meinst du?« Die Finger des Agha hielten jäh im Zählen des Rosenkranzes inne: »Meinst du das lächerliche Nachahmerpack in Stambul? Und die Nachahmer dieser Nachahmer? Die Affen in Frack und Smoking? Diese Verräter, diese Atheisten, die das Weltall Gottes vernichten, nur um selbst zu Macht und Geld zu kommen? Das sind keine Türken und keine Moslems, sondern nur leere Lästerer und Geldschnapper.«

      Gabriel nahm die winzige Kaffeetasse zur Hand, in der nur mehr der dicke Satz schwamm. Eine Geste der Verlegenheit:

      »Ich bekenne, daß ich mit diesen Leuten vor Jahren zusammengesessen bin, weil ich von ihnen das Gute erwartet habe. Ich hielt sie für Idealisten, und vielleicht waren sie es damals auch. Die Jugend glaubt immer an alles Neue. Heute aber muß ich die Wahrheit leider so sehn, wie du sie siehst. Vorhin war ich im Hamam Zeuge einer Unterhaltung, die mich tief bekümmert. Sie ist der Grund, warum ich dich schon zu dieser unpassenden Stunde aufgesucht habe.«

      Der Klarsinn des Agha brauchte keinen deutlicheren Hinweis:

      »War von dem geheimen Heeresbefehl die Rede, der die Armenier zum Last- und Straßendienst erniedrigt?«

      Gabriel Bagradian entzifferte die Blumenrätsel des Teppichs zu seinen Füßen:

      »Ich habe noch an diesem Morgen die Ordre erwartet, die mich zu meinem Regiment einberuft ... Dann wurde auch noch von der Stadt Zeitun gesprochen. Hilf mir! Was geht eigentlich vor? Was hat sich ereignet?«

      Mit Gleichmut liefen die Bernsteinkugeln wieder durch die Finger des Agha:

      »Was Zeitun betrifft, bin ich gut unterrichtet. Es hat sich ereignet, was sich in den Bergen dort alltäglich ereignet. Irgendeine Geschichte mit Räubergesindel, Deserteuren und Saptiehs. Unter den Deserteuren waren ein paar Armenier. Niemand hat früher auf derartiges geachtet ...« Langsamer werdend fügte er hinzu:

      »Aber was sind Ereignisse? Sie sind nur das, was die Auslegung aus ihnen macht.«

      Gabriel drohte aufzufahren:

      »Das ist es ja! In der Einsamkeit, in der ich lebe, habe ich nichts davon erfahren. Niederträchtige Auslegungen werden versucht. Welche Absichten hat die Regierung?«

      Der Weise schob diese erregten Worte mit einer erschöpften Handbewegung zur Seite:

      »Ich werde dir etwas sagen, Freund und Sohn meines Freundes. Uber euch schwebt ein großes karmatisches Verhängnis, denn mit einem Teil eurer Wohnsitze gehört ihr zum russischen Reich, mit dem andern Teil zu uns. Der Krieg zerschneidet euch. Ihr seid zerstreut über die Länder ... Doch weil in der Welt alles

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