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Die Wand seines Schlafes verbarg ein rauschendes Leben. Die zu Fäusten geballten Hände drückte er fest gegen seinen Körper, als müsse er die Zügel anziehen, damit ihm die galoppierenden Traumerlebnisse nicht durchgingen.

      Der Schlaf des Sohnes wurde unruhiger. Der Vater rührte sich nicht. Er sog sich voll mit dem Bild seines Kindes. Hatte er Angst um Stephan? Wollte er eine Einheit herstellen, die einst in Gott lag? Er wußte nichts. Keine Gedanken waren in ihm. Endlich stand er auf, wobei er einen Seufzer nicht unterdrücken konnte, so zerschlagen fühlte er sich. Während er sich unsicher hinaustastete, stieß er gegen den Tisch. Die Nacht übertrieb den kurzen Lärm. Gabriel stand still. Er fürchtete, Stephan geweckt zu haben. Die schlaftrunkene Knabenstimme lallte auch aus dem Dunkel:

      »Wer ist hier? ... Papa ... du ...«

      Sogleich aber wurden die Atemzüge wieder ruhig. Gabriel, der die Taschenlampe sofort ausgeschaltet hatte, knipste sie nach einer Weile wieder an, wobei er das kleine Licht mit der Hand abblendete. Es fiel auf den Tisch und auf einige Zeichenblätter. Siehe, Stephan hatte sich schon an die Arbeit gemacht und auf des Vaters Wunsch ein Croquis des Musa Dagh mit ungelenker Hand entworfen. Die roten Verbesserungen Awakians durchkreuzten reichlich die Linien. Bagradian erinnerte sich zuerst der Anregung gar nicht, die er bei dem morgendlichen Zusammentreffen dem Jungen gegeben hatte. Dann aber empfand er den stürmischen Eifer, mit dem das Kind ihn suchte und überzeugen wollte. Der kritzlige Entwurf wurde zum Sinnbild.

      Vor dem großen Empfangszimmer der Villa Bagradian zu Yoghonoluk befand sich ein großer Raum, der an die Treppenhalle grenzte. Er war ziemlich kahl und wurde nur als Durchgangszimmer benützt. Awetis, der Alte, hatte seine Residenz für eine zahlreiche Nachkommenschaft berechnet, so daß sowohl der einsame Sonderling als zuletzt die kleine Familie, die übriggeblieben war, nur einen Teil der vorhandenen Wohnräume in Verwendung nehmen konnte. In dem kahlen Durchgangszimmer brannte eine herabgeschraubte Petroleumlampe. Gabriel blieb einen Augenblick stehn und lauschte den Stimmen daneben. Er hörte Juliette lachen. Die Bewunderung dieser dörflichen Armenier da drin tat ihr also wohl. Ein Fortschritt.

      Der alte Arzt Bedros Altouni öffnete eben die Tür, um sich davonzumachen. Er zündete die Kerze in seiner Laterne an und griff nach seiner Ledertasche, die auf einem Stuhl lag. Altouni bemerkte den Hausherrn erst, als dieser ihn leise anrief: »Hairik Bedros!«, Väterchen Bedros! Der Arzt schrak zusammen. Er war ein kleiner, dürrer Mann mit einem unordentlichen Graubart; er gehörte noch zu jenen Armeniern, die, anders als die jüngere Generation, auf ihren gebeugten Schultern die ganze Last des verfolgten Stammes zu tragen schienen. Als Schützling Awetis Bagradians hatte er in seiner Jugend auf dessen Kosten in Wien Medizin studiert und die Welt gesehen. Damals trug sich der Wohltäter Yoghonoluks mit großen Plänen und dachte sogar an die Errichtung eines kleinen Hospitals. Es blieb aber nur bei der Bestallung des Bezirksarztes, was angesichts der allgemeinen Verhältnisse schon überaus viel war. Von allen lebenden Menschen kannte Gabriel den alten Arzt, den alten »Hekim«, am längsten, denn dieser hatte bei seiner Geburt mitgewirkt. Er besaß einen zärtlichen Respekt für den Arzt, jedenfalls ein Erbteil von Kindheitsgefühlen. Doktor Altouni mühte sich mit einem Lodenmantel ab, der noch aus seiner Wiener Universitätszeit zu stammen schien.

      »Ich konnte nicht mehr länger auf dich warten, mein Kind ... Nun, was hast du im Hükümet herausgebracht?«

      Gabriel richtete den Blick auf das eingeschrumpfte Gesichtchen. Alles an dem alten Mann war schartig. Seine Bewegungen, seine Stimme, ja selbst die Schärfe, die seine Worte manchmal zeigten. Er war äußerlich und innerlich abgewetzt. Der Weg von Yoghonoluk nach Holzdorf auf der einen und nach Bienendorf auf der anderen Seite zog sich verdammt, wenn man ihn mehrmals wöchentlich auf dem harten Rücken eines Esels zurücklegen mußte. Gabriel erkannte die ewige Ledertasche, in der neben Heftpflaster, Fieberthermometer, chirurgischem Besteck und einem deutschen ärztlichen Handbuch aus dem Jahre 1875 nur noch eine vorsintflutliche Geburtszange lag. Angesichts dieser medizinischen Tasche schluckte er die Anwandlung hinunter, seine Erfahrungen in Antiochia preiszugeben.

      »Nichts Besonderes«, antwortete er wegwerfend.

      Altouni befestigte die Laterne an seinem Gürtel und schnallte ihn um:

      »Ich habe mir mindestens siebenmal im Leben einen neuen Teskeré erbitten müssen. Sie nehmen ihn wegen der Taxe fort, die sie bei der Neuausstellung jedesmal gewinnen. Es ist eine bekannte Sache. Von mir aber bekommen sie nichts mehr. Ich brauche auf dieser Welt keinen neuen Paß ...«

      Und schartig fügte er hinzu:

      »Und früher hätte ich ihn auch nicht gebraucht. Denn seit vierzig Jahren bin ich nicht weggekommen von hier.«

      Bagradian wandte den Kopf zur Tür: »Was sind wir für ein Volk, daß wir alles schweigend hinnehmen?«

      »Hinnehmen?« Der Arzt kostete das Wort aus: »Ihr Jungen wißt nichts mehr vom Hinnehmen. Ihr seid in anderen Zeiten groß geworden.«

      Gabriel aber blieb bei seiner Frage:

      »Was sind wir für ein Volk?«

      »Du, liebes Kind, hast dein Leben in Europa zugebracht. Und auch ich, wäre ich damals nur in Wien geblieben! Es ist mein großes Unglück, daß ich nicht in Wien geblieben bin. Aus mir hätte vielleicht etwas werden können. Aber, siehst du, dein Großvater war der gleiche Narr wie dein Bruder und hat von der Welt dort draußen nichts wissen wollen. Ich habe mich schriftlich verpflichten müssen, zurückzukommen. Das war mein Unglück. Besser wär's gewesen, er hätte mich nie fortgeschickt ...«

      »Man kann nicht immer nur als Fremder unter Fremden leben.«

      Der Pariser Gabriel wunderte sich über seine Worte. Altouni lachte heiser:

      »Und hier, hier kann man leben? Wo das Ungewisse immer hinter uns her ist? Du hast es dir wohl anders zusammengeträumt.«

      Da ging es Bagradian durch den Kopf: Irgendwelche Vorbereitungen müssen getroffen werden. Altouni aber legte seine Tasche auf den Stuhl zurück:

      »Verflucht! Was für Sachen reden wir da? Du ziehst heute die alten Geschichten aus mir heraus. Ich bin Mediziner und hab niemals besonders stark an Gott geglaubt. Und doch habe ich früher deshalb mit Gott oft und oft gehadert. Man kann Russe sein und Türke und Hottentotte und Gott weiß was, aber Armenier kann man nicht sein. Armenier sein ist eine Unmöglichkeit ...«

      Er riß sich mit einem Ruck von dem Abgrund los, an dessen Rand er geraten war:

      »Schluß! Lassen wir das! Ich bin der Hekim. Alles andere geht mich nichts an. Eben hat man mich aus dieser angenehmen Gesellschaft zu einer Frau gerufen, die in den Wehen liegt. Immer wieder, siehst du, werden armenische Kinder zur Welt gebracht. Es ist verrückt.«

      Er packte grimmig seine Tasche. Dieses Gespräch zwischen Tür und Angel, das um die Grundlagen ging, schien ihn erbittert zu haben:

      »Und du, was willst du! Du hast eine wunderschöne Frau, einen geratenen Sohn, keine Sorgen, bist ein steinreicher Mann, was willst du? Lebe dein Leben! Kümmere dich nicht um die faulen Dinge! Wenn die Türken Krieg haben, lassen sie uns in Ruhe, das ist eine alte Erfahrung. Und nach dem Krieg wirst du nach Paris zurückkehren und von uns und dem Musa Dagh nichts mehr wissen.«

      Gabriel Bagradian lächelte, als nehme er seine Frage selbst nicht ernst:

      »Und wenn sie uns nicht in Ruhe lassen, Väterchen?«

      Gabriel stand einen Augenblick unbemerkt in der Tür des großen Gesellschaftsraumes. Etwa ein Dutzend Menschen waren versammelt. An einem kleinen Tischchen saßen drei ältere Frauen schweigend beieinander, zu denen sich, wahrscheinlich in Juliettes Auftrag, der Student Awakian gesellt hatte. Doch auch er bemühte sich nicht, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Eine dieser Matronen, die Frau des Arztes, war eine der überlebenden Gestalten aus Gabriels Kindheit. Mairik Antaram, Mütterchen Antaram, nannte er sie. Sie trug ein schwarzes Seidengewand. Ihr aus der Stirn gestrichenes Haar war noch nicht ganz ergraut. Das breitknochige Gesicht hatte einen kühnen Ausdruck. Wenn sie auch nicht sprach, so saß sie gelassen da und ließ ihren frei beobachtenden Blick auf den Menschen ruhen. Das gleiche konnte man von ihren beiden Nachbarinnen, der Frau des Pastors Harutiun Nokhudian

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