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Haik seinen Plan, der verwunderlicherweise einem Fremden und keinem Einheimischen eingefallen war. Seit dem Aufbruch hatten sich zwar ein paar mutige Leute noch zwei- oder dreimal ins Tal gewagt, um die Vorräte zu ergänzen, waren aber stets unverrichteterdinge zurückgekehrt, da in den Dörfern bei Tag und Nacht starke Gendarmerieposten patrouillierten. Stephans Plan ging dahin, durch einen nächtlichen Streifzug der Kohorte in die Obstgärten dem allgemeinen Notstand abzuhelfen. Haik sah seinen ehrgeizigen Nebenbuhler gemessen an, wie ein reifer Künstler einen vordringlichen Anfänger betrachtet, der von den Schwierigkeiten seines Vorhabens wenig ahnt. Dann aber nahm er die Organisation des heimlichen Ausfalls selbst in die Hand und stellte die Raubgruppe zusammen. Stephan hatte natürlich große Angst, daß Papa von seiner Teilnahme an dem Abenteuer erfahren und ihm daraufhin die Freiheit empfindlich beschneiden könnte. Er gestand auch diese seine Besorgnis. Haik aber, der schon vergessen zu haben schien, daß der ganze Plan nicht sein Eigentum war, erwiderte in dem unleidlichen Ton, den er so meisterhaft beherrschte:

      »Wenn du dich fürchtest, kannst du ja oben bleiben. Das ist viel besser für dich.«

      Diese Worte trafen Stephan ins Herz, und er gelobte sich, keinen Gedanken mehr den Sorgen seiner Eltern zu widmen. Der Beutezug wurde noch in derselben Nacht ins Werk gesetzt. Etwa neunzig Burschen stahlen an Säcken, Butten, Tragkörben zusammen, was sich nur vorfand. Um zehn Uhr nachts, als die Feuer schon erloschen waren und alles sich schlafen gelegt hatte, schlichen sie sich in kleinen Gruppen aus dem Lager und an den Wachtposten vorbei über die schützende Grenze. In langen Sätzen stürmten sie den Berg hinab und erreichten, wie vom Winde getragen, in dreiviertel Stunden schon die ersten Gärten. Bis ein Uhr pflückten sie unterm Licht einer zarten Mondsichel die Früchte, Aprikosen, Feigen, Orangen, wie Rasende. Auch Stephan bewies dabei gelegentlich seine Körperkräfte, obgleich er das erstemal im Leben eine derartige Arbeit leistete. Haik, dem Führer, war es gelungen, von der Pflockstelle drei Esel loszubinden und mitzuzerren. Diesen wurden nun in wilder Eile die vollen Tragen aufgehuckt. Doch auch jeder von den Burschen schleppte ansehnliche Lasten auf dem Rücken. Es gelang ihnen knapp vor Sonnenaufgang wieder im Lager zu sein. Man empfing die Ausreißer, die in Unkenntnis der Gefahr um ein Nichts ihr Leben gewagt hatten, mit Vorwürfen, Beschimpfungen, ja Hieben und doch auch wieder mit Stolz. Stephan schlug, noch ehe die Stadtmulde erreicht war, einen Haken und schlich sich in das Scheichzelt, das er mit Gonzague Maris teilte. Gabriel und Juliette erfuhren nichts von dem gefährlichen Ausflug ihres Sohnes. Die ganze Ausbeute der nächtlichen Streifung kam für ein Volk von fünftausend Menschen kaum in Betracht. Dennoch aber gab sie dem Pastor Aram Tomasian die Anregung, in der drittnächsten Nacht mit zweihundert Reservisten und unter Bedeckung von zwei Zehnerschaften einen ähnlichen Versuch zu wagen. Leider hatte er nur einen geringen Erfolg. Denn gerade in der dazwischenliegenden Zeit waren die Bauern der mohammedanischen Nachbarschaft in die armenischen Obstgärten eingebrochen, um eine gute Ernte heimzuführen, von der nur unreifer oder verfaulter Abfall zur Nachfechsung zurückgeblieben war.

      Weit tollköpfiger und überflüssiger jedoch war die andre Geschichte, die Stephan kurz nachher ausheckte. Es wäre übrigens falsch, in ihr einen heroischen Mutbeweis zu sehen. Der Junge hatte keine Vorstellung von der Gefahr, in die er sich begab. Dies zeigte schon die unbegreifliche Torheit, daß er niemand anderen als den Krüppel Hagop zum Hauptgefährten seiner Tat erwählte. Haik sollte erleben, wie wenig Stephan seiner bedurfte. Das war das Wichtigste.

      Der Bagradiansohn hatte jene Altersgrenze schon erreicht, jenseits deren der werdende Mann sich nicht nur gegen seine Säfte behaupten muß, sondern auch gegen ein Riesentrugbild der Welt, das ihn in jeder Minute die Nichtigkeit seines kaum erwachten Selbst würgend fühlen läßt. Das Fieber der eigenen Entwicklung kreuzte sich unheilvoll mit dem allgemeinen Fieber auf dem Musa Dagh. Die Kameraden, diese Dorfrangen, waren harthäutige Felsgewächse oder sparsame Bergtiere. Mit vier Jahren schon völlig geprägt, wuchsen sie gleichmäßig, erlebten wenig Übergänge und keine Verwirrungen, um ihre Prägung, ein wenig abgegriffen und verwischt zuletzt, bis zum Tode zu bewahren. Stephan hingegen trug die Erbschaft entfernter Völker in sich, den Hochstand und Nervenverbrauch von drei überanstrengten Generationen, seine europäische Kindheit und als schwerste Last eine gierige Seele, die nie und nirgends Ruhe fand. Seine Mutter sah wohl, wie er abmagerte, wie in seinem Gesicht die Schatten wuchsen. Was aber sollte sie tun, woher die gewohnte Nahrung für den Jungen nehmen? Manchmal zog sie ihn in ihr Zelt und er mußte trotz wütenden Protestes mehrere große Gläser Milch hinabwürgen. Dann wieder kümmerte sie sich tagelang nicht um ihn. Wie lange werden wir alle noch leben? Diese Frage stellte sie sich oft, doch es war keine ganz aufrichtige Frage, denn Juliette konnte es sich gar nicht vorstellen, daß irgend jemand, und sei es der blutrünstigste Saptieh, ihr auch nur die Haut ritzen werde. Dennoch war es ihr sehr angenehm, so zu fragen, da alles damit gleichgültig wurde und ihrer Sehnsucht, sich fallen zu lassen, entgegenkam. Die Verstörung ihres Wesens machte immer größere Fortschritte.

      Stephans toller Streich entstand aus folgendem Anlaß:

      Iskuhi Tomasian klagte öfters darüber, daß sie in der Verwirrung des Aufbruchs dasjenige vergessen habe, was sie nun am schmerzlichsten vermisse: drei oder vier Bücher, Lieblinge, darunter ihre Konfirmationsbibel, ferner ein Elfenbeinkruzifix, beides Arams Geschenke. Sie hatte diesen Schatz aus dem Zusammenbruch von Zeitun gerettet und während jener furchtbaren Verschickungstage immer mit sich getragen. Jetzt aber – sie konnte es sich selbst nur mit ihrer körperlichen Gehemmtheit ungenügend erklären – waren Bücher, Bibel und Kruzifix in der Villa Bagradian zurückgeblieben. Sie litt sehr unter diesem Verlust, den sie als Kränkung ihres Bruders empfand.

      Nicht nur Sato zog es leidenschaftlich in Iskuhis Nähe, auch Stephan versäumte keine Gelegenheit, sich an sie heranzupirschen. War aber das Waisenhausmädchen mit ihrem glucksenden »Kütschük Hanum«, mit ihrem fröstelnden Sehnsuchtsgesumm und den lüsternen Schmutzkrallen unabwendbar zudringlich wie eine herbstliche Schmeißfliege, so setzte sich Stephan in verehrungsvollem Abstand auf den Boden und verschlang Fräulein Tomasian mit stummen Blicken. Ging er dann fort, so war er vollgetrunken von seligem Unglücklichsein. Ihr herrliches Bild bewegte sich in seinem Geist. Ein paar gelöste Haare wehten ihr in die Stirn. Die Lippen mit dem feuchten Pupillenglanz standen staunend offen. Sie bedeckte den kranken linken Arm mit der Rechten, als schäme sie sich. Ihre kleinen Brüste atmeten sichtbar, und schutzbedürftig still sahen die Fußspitzen unter dem Kleid hervor. Das Herzbetörendste aber war es, wenn sie in seiner Phantasie zu ihm ans Bett in das Scheichzelt trat und sang. Besonders jenes Lied, das sie persönlich an ihn richtete, konnte er nicht satt bekommen:

      »Sie kam aus ihrem Garten

       Und hielt an ihre Brust gepreßt

       Zwei Früchte des Granatbaums ...«

      Aber nicht die Worte waren es, sondern ihre Stimme, die ihm wie ein streichelnder Schauer über die Haut lief. Früher hatte er Mama so geliebt, doch was war Mama jetzt gegen Iskuhi, wenn man an diese Stimme dachte? Mama sang nicht, und wenn sie hie und da ein paar Töne hervorbrachte, um an ein französisches Chanson zu erinnern, so klang es falsch und pfauenhaft. In Iskuhis kühler und klarer Stimme aber konnte man sich ausstrecken wie in einem Bad.

      Am Morgen nach einer von seinen traumgehetzten Nächten pfiff er Sato heran, die den Versammlungsplatz der Haik-Bande umlauerte:

      »Sind schon welche im Haus unten?«

      Sie verstand ihn sofort. Es wäre ganz falsch, Sato wegen ihrer gaumigen Tierlaute und ihres schweifenden Schakalgehabens für eine Idiotin zu halten. Sie war ein Zwitter, ein Grenzwesen, besaß aber eine starke Intelligenz der Nerven, besonders wenn es sich um Aufspürungen von Zusammenhängen handelte. Sie verstand nicht nur, daß Stephan von ihr wissen wollte, ob sich die sauberen Erben schon im Hause seiner Väter zu Yoghonoluk einquartiert hatten, das war nicht schwer, sie erfaßte aber gleichzeitig auch Sinn und Ziel der Frage. Stephan gedachte durch einen verrückten Handstreich sich in den Besitz von Iskuhis Büchern zu setzen, wenn sie überhaupt noch vorhanden waren. Sato begann Grimassen zu schneiden und zu zwinkern wie meist in erregten Augenblicken. Für Stephan war es kein Geheimnis, daß sie als einziges Wesen auf dem Musa Dagh ein Doppelleben führte. Sie blieb manchen halben Tag und vor allem manche Nacht verschwunden, worüber sich niemand Gedanken machte. Dann hielt sie sich im Tale auf und besuchte ihre Freundschaft, das Friedhofsvolk. Die Nachrichtenvermittlung

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