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die Zeit auf eigene Faust vertrieb. Dies waren etwa fünfundzwanzig oder dreißig Burschen, die sich durch Hochmut und Tatendurst aus der breiten Plebs heraushoben. Sie trieben sich auf der Hochfläche des Damlajik herum und machten jede Kuppe, Schrunde und Schlucht unsicher. Sie wagten es auch, ihre Spiele bis in die Stellungen vorzutragen und die unter Nurhan Elleons Fuchtel übenden Zehnerschaften durch ihr neugieriges Herumlungern zu erbittern. Man verbot ihnen das unnütze Schweifen. Da wurden sie frech und verlegten ihre Tätigkeit auf das Gelände außerhalb des Verteidigungskreises, auf die Höhen jenseits des Sattels, auf den talzugekehrten Bergabhang, in die Felsenritzen und Wasserrinnen der Küstenseite. Eine Grenzübertretung der Stellungen galt auf dem Damlajik als ein Verbrechen. Die Bande aber wußte ihre Fürwitzigkeit so zu verschleiern, daß sie unentdeckt blieb. Stephan und Haik gehörten dazu, das war klar. Doch auch Sato hatte sich eingeschlichen und man konnte sie nicht loswerden. Obgleich die Familie Bagradian dem ortsfremden Bastard in ihrem Hause Zuflucht gewährt hatte, duldete ihn das Volk nur ungern im Kreise der Kinder. Deshalb war Sato völlig von der Laune der Horde abhängig. Einmal wurde sie verprügelt, das andre Mal erlaubte man ihr, mitzuhalten. Wie überall, so auch hier, hielt sie sich nur am Rande auf. Wenn die Schar über Stock und Stein jagte, lief sie mit, doch niemals dicht unter den andern, sondern immer ein gutes Stück abseits. Hockte aber die Bande in der Steineichenschlucht beisammen oder an irgendeinem anderen unerlaubten Ort außerhalb der Befestigungen, wurde geprahlt, Neues ersonnen oder nur nach gewohnter Art in wildschaukelnden Körperbewegungen das Dasein gesteigert, dann schauten Satos durstige Augen aus ihrer Einsamkeit herüber. Die Ewig-Abseitige mischte ihre gaumige Stimme in den Chor und ahmte auf ihrem Platz das tolle Körperschaukeln der Gemeinschaft nach.

      In diesem Kreise gab es außer Sato noch einen Geschlagenen. Er hieß Hagop, und Stephan beschützte ihn. Hagops rechter Fuß war vor einigen Jahren in Antakje vom dortigen Militärarzt amputiert worden. Nun hüpfte der Junge an einer rohen Krücke umher: nur ein Stock mit einem Querholz drüber. Aber trotz dieser unzulänglichen Stütze bewegte sich Hagop mit einem leidenschaftlichen Ungestüm, mit einer wilden Gelenkigkeit, wie man sie gerade an Krüppeln oft beobachten kann. Er wollte den Zweibeinigen nicht nachstehen, und wenn er ihnen bei ihren Sturmläufen folgte, so maß der Abstand zwischen ihm und dem letzten keine Handbreit. Hagop stammte aus guter Familie und war mit den Tomasians verwandt. Er hatte nachdenkliche Augen und, was hierzulande eine große Seltenheit war, goldblondes Haar. Er las mit großem Eifer, was er zu Hause an Kalendergeschichten und ähnlichen Drucksorten vorfand. In Yoghonoluk hatte er sich von Stephan Bücher ausgeliehen. Er besaß den Ruf eines fleißigen Lerners, was trotz Apotheker Krikors erhabenem Vorbild und der bildungsfreundlichen Volkspoesie keine besondere Empfehlung in der Knabenhorde bildete. Ein Bücherwurm zu sein, war aber gar nicht Hagops Ehrgeiz. Er wollte rennen, spielen, klettern, raufen und, seitdem man im Kriege stand, die wichtigen Pflichten eines Meldeläufers, Spähers und Schleichpostens so gut erfüllen wie ein anderer. Stephan, der sich schon wegen seiner blonden Haare zu ihm hingezogen fühlte, förderte ihn, und nicht nur aus Mitleid. Haik jedoch stand Hagops Ehrgeiz hart im Wege. Ohne die geringste sentimentale Nachsicht ließ er ihn stets fühlen, daß ein Krüppel nicht in Betracht komme.

      Haik war ein Fall für sich. Er verkörperte mit seinen vierzehneinhalb Jahren schon völlig das finstere Wesen des erwachsenen Bergarmeniers. In seiner nervichten Magerkeit, in dem langsamen, vornübergeneigten Gang, in dem schweren Herabhängen seiner großen Hände zeigte sich der herrische Hochmut einer fest in sich beruhenden Urrasse, der ihn von den meisten Mitgliedern des Knabenrudels mit ihrer jähen östlichen Körperunrast deutlich unterschied. Mag der Armenier in den Städten seiner Diaspora dem verschlagenen Ulyß gleichen – nicht grundlos verschmilzt die Odyssee List und Heimatlosigkeit im Charakter ihres Helden –, der Kern- und Hocharmenier in den Bergen ist unduldsam und hochfahrend. Diese verletzenden Eigenschaften setzt er mitsamt seinem großen Betätigungsdrang der beschaulichen und trägen Würde der Türken entgegen. Aus dem Zusammenstoß solcher Grundcharaktere läßt sich vieles erklären. Die Familie Haiks stammte aus dem Norden, aus dem Dokhus-Bunar-Gebirge, das schon in der Nähe der georgischen Grenze liegt. Seine Mutter, die Witwe Schuschik, war vor vierzehn Jahren mit dem Säugling eingewandert und hatte zwischen Yoghonoluk und Azir, außerhalb beider Ortschaften, ein Haus mit Obstgarten und Raupenzucht erworben, wo sie ganz allein ohne die geringste Hilfe wirtschaftete. Witwe Schuschik, eine blauäugige Riesin, war durchaus nicht beliebt, ja beinahe furchtsam gemieden. Obgleich sie so lange Jahre schon am Musa Dagh lebte, galt sie noch immer als Ortsfremde, denn das Volk von Yoghonoluk war, was die Einschmelzung Zugewanderter anbelangt, äußerst spröde. Fremde waren immer verdächtig und in sagenhafte Gerüchte eingehüllt. Von Witwe Schuschik ging die Sage, sie habe einst irgendeinen Frechling, der Ungehöriges von ihr begehrte, ohne viel Umstände mit ihren gewaltigen Arbeiterhänden erdrosselt. Mochte dies nun wahr sein oder erfunden, der Knabe Haik war jedenfalls der Leibes- und Seelenerbe ihrer muskelharten Gestalt und ihres abweisend düsteren Wesens.

      Hochmütige Menschen verringern stets das Selbstgefühl der andern. Haik verringerte ständig Stephans Selbstgefühl. Er war schuld daran, daß der junge Bagradian sich immer neue Kraftbeweise abzwang, um »echt« zu werden. Der Wunsch, den finster skeptischen Haik von sich zu überzeugen, nahm, wie es bei feurigen Naturen dieses Alters die Regel ist, bitter quälende Formen an. Lehrer Schatakhian, der Höchstkommandierende der Jugendkohorte, rückte Stephan nicht nur in den Vordergrund, er machte ihm, dem Sohne Madame Juliettens, dem kleinen Franzosen, dem Kulturträger unter Wilden, auf alle erdenkliche Art den Hof. Er nannte ihn nicht anders als Monsieur Stephan, während er die andern mit rüden Beiworten bedachte. Er überließ ihm die Auswahl der zu leistenden Pflichten und schaltete ihn überall dort aus, wo die leiseste Gefahr zu vermuten war. Auch Samuel Awakian, sein alter Hofmeister, behielt ihn bei jeder Gelegenheit im Auge, um den Zögling vor dummen Streichen und Unheil zu bewahren. All diese Fürsorge wichtiger Persönlichkeiten beschämte Stephan, sie erniedrigte ihn vor Haiks Angesicht zu einem verweichlichten Herrensöhnchen und stellte seine schwererrungene Echtheit und Härte immer wieder in Frage. Das Ärgste aber war, diese Bevorzugung machte Haik immer noch überheblicher, denn Schuschiks Sohn ging der Wahrheit auf den Grund, und seine erkennenden Augen ließen sich durch leere Gesten nicht betrügen. Wenn Stephan jetzt, von innerer Anspannung schlaflos, sich auf seinem Bette im Scheichzelt wälzte, arbeitete sein aufgewühltes Hirn: Gott, was kann ich nur tun, um es dem Haik zu zeigen!

      Dabei aber war der Kampf um Haik nur eine Front des Krieges, den die ehrgeizige Seele des Bagradiansohnes für ihren Ruhm führte.

      Zu dieser Zeit, es war der neunte Tag des Musa Dagh, begann sich im Lager der Mangel an Brot und Früchten, der fast ungemischte Fleischgenuß vorerst noch leise, aber doch schon unangenehm fühlbar zu machen. Die herrliche Harisa war nach dem Siegesfest am fünften Tage zu Ende gegangen; die Tonirs standen leer, denn der Führerrat hatte für eine Woche die Verteilung der geretteten Mehlreste eingestellt. Man vergrößerte die Fleischration, ohne das Mißbehagen dadurch beseitigen zu können. Nach einem strengen Erlaß war die Milchausgabe derart geregelt, daß lediglich die Kranken, Schwachen und Kinder bis zu zehn Jahren die mager fließende Ziegen- und Schafmilch erhielten und nur ein unbeträchtlicher Teil für die Butter- und Käsebereitung übrigblieb. Alles schimpfte auf die Gemeinwirtschaft und tatsächlich nach einem unbegreiflichen Gesetz schien diese summarische Verwaltungsart das allgemeine Gut zu verringern und zu verschlechtern, anstatt es zu sparen. Obgleich Juliette, seitdem sie bei Doktor Altouni arbeitete, eine große Menge ihrer Vorräte, Konserven, Zucker, Tee, Reis, dem Lazarettschuppen zur Verfügung gestellt hatte, besaß sie noch hinreichend viel Zwieback und Teegebäck, um sich und ihrer Umgebung über das fehlende Brot hinwegzuhelfen. Stephan bekam noch nicht die geringste Entbehrung zu spüren. Haik hingegen hatte sich schon über das ewige zähe Schaffleisch beklagt, das, nicht abgelegen, auf dem Feuer kaum gargebraten, halb blutig noch, ohne jede Zutat hinuntergeschlungen werden mußte. »Hätte man wenigstens ein paar Aprikosen und Feigen«, seufzte er gierig. Stephan sah die weiten Obstgärten vor sich, die den Fuß des Musa Dagh bedecken. Er sagte vorläufig nichts.

      Der Tagesdienst der Jugendkohorte war weitverzweigt. Bei allen dreizehn Stellungen mußte immer ein Posten der Ordonnanzgruppe bereit sein, ebenso bei den zahlreichen Beobachtungsständen. Lehrer Schatakhian inspizierte seine Truppe täglich und veranstaltete zu überraschender Zeit Probealarm. Selbständige Unternehmungen größeren Formats konnten daher nur unter dem Schutze der Nacht

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