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auf Kopf oder Schulter. Was für vernagelte Köpfe müssen diese Europäer haben. Bei solchen Gelegenheiten bekam Stephan weise Sprichworte aus dem Volksschatz zu hören:

      »Ihr gebt wohl den Kamelen das Wasser mit dem Löffel ein?«

      Ganz im Gegensatz zu den Intellektuellen von der Sorte Schatakhians, die vor jeder westlichen Errungenschaft und vor dem Wonnehauch europäischer Ästhetik (Juliette) in Ehrfurcht vergingen, war die rauhe Dorfjugend des Musa Dagh von der Überlegenheit, ja dem ausschließlichen Höchstwerte der heimischen Lebensweise restlos durchdrungen, über den Vorzug von Daseinsformen läßt sich immer streiten. Dem einen tut das Hocken weh, dem andern das Sitzen. Der Glaube an die Höher- oder Minderwertigkeit solcher Formen wird nicht durch ihren absoluten Rang bestimmt – den gibt es nicht –, sondern durch die Diktatur der Umwelt. Stephans Umwelt erklärte schon in der ersten Schulstunde seinen englischen Anzug, den breiten Kragen, Manschetten, Strümpfe, Schnürstiefel für eine nicht nur närrische, sondern geradezu herausfordernde Bekleidungsart. Wäre Stephan ein verzärtelter Weichling gewesen, er hätte Papa sofort gebeten, ihm den Schulbesuch zu erlassen. Er aber nahm den Kampf auf. Man weiß ja schon, daß er seiner Mutter nach einem mehrtägigen Streit die Erlaubnis abgetrotzt hatte, die bodenständige Tracht sich anschaffen zu dürfen. Bald stolzierte auch er mit Schalwar-Hosen, dem Entari-Rock und der Aghil-Schärpe bekleidet über den Kirchplatz von Yoghonoluk. Seine Füße steckten nicht mehr in Schnürstiefeln, sondern in Pantoffeln. Juliette war entsetzt. Doch in Iskuhi erstand dem Jungen eine Helferin: »Warum soll er diese Kleider nicht haben?« fragte sie. »Sind sie denn weniger schön als die europäischen?« Juliette aber sah ihren Sohn mit abweisenden Augen an: »Er kommt mir vor wie aus einer Maskenleihanstalt kostümiert.« In den neuen Kleidern glich Stephan, der ein hübscher Junge war, den schönen Prinzen auf alten persischen Miniaturen. Juliette empfand es, doch sie empfand ebensosehr, daß dieser Prinz mit ihrem Kinde nichts mehr zu tun habe. Zwischen ihr und Stephan wurde ein Abkommen getroffen: Er durfte »kostümiert« zur Schule gehen, mußte aber zu Hause »normal« gekleidet sein. Nach der Flucht auf den Damlajik aber wurde dieser Vertrag hinfällig, weil es ja kein »zu Hause« und deshalb kein »normal« mehr gab. Von Stund an trug Stephan überhaupt nur mehr Entari und Schalwar. übrigens bekam ihn Juliette nur selten auf dem Dreizeltplatz zu sehen, meist nur beim Mittagessen und vor dem Schlafengehen. Sooft er sich zeigte, war er erregt, verschwitzt und ungeduldig. Die Mutter hatte allen Einfluß auf ihn verloren. Es war, als habe er niemals ein zivilisiertes Leben kennengelernt. Juliette konnte sich oft kaum mit ihm verständigen.

      Ja, Stephan war verwandelt. Doch wieviel Mühe diese Rückverwandlung ins Primitive ihn gekostet hatte, das wußte niemand. Er besaß nun die gleichen Gewänder wie die anderen. Diese Gewänder aber waren anfangs schmachvoll rein und ohne Riß. Die Sauberkeit war eine Schwäche – dies erkannte er –, deren Sitz in ihm selbst lag. Er konnte ein beklemmendes Gefühl nicht loswerden, wenn er schmutzige Hände und Füße, schwarze Nägel und ungekämmte Haare hatte. Als er eines Tages, noch in Yoghonoluk, sich Kopfläuse zugezogen, wand Mama mit angeekelten Händen ein petroleumgetränktes Handtuch um sein Haar, und er fühlte sich tief unglücklich. Stephan war der Dorfjugend gegenüber ständig im Nachteil. Seine Füße zum Beispiel blieben zart und weiß, wieviel Mühe er sich auch gab, mit ihnen in Staub, Schmutz, Schlamm umherzuwaten und sie allen möglichen Klettergefahren auszusetzen. Das einzige, was er erreichte, war Sonnenbrand, Blasen und Schrammen, die ihm außer heftigen Schmerzen auch noch Hausarrest zuzogen. Wie beneidete er die unverwundbaren Füße seiner Kameraden, braune dürre Tiertatzen, ihm unendlich überlegen. Bitter mußte Stephan leiden, ehe er sich durchsetzen konnte. All diese Haiks und Hagops, diese Anahids und Sonas sahen in ihm die längste Zeit nur einen Parvenü der Verwilderung. Geht es nämlich um Macht- und Gleichberechtigungsfragen, dann entwickeln selbst einfache Naturkinder den gehässigen Kastengeist eines bevorzugten Standes. Die Dorfjungen ließen Stephan fühlen, daß er nicht ihresgleichen sei und daß sein strahlendes Vaterhaus samt Herrn Awakian und dem Dienertroß ihnen nicht genug Achtung einflöße, um ihm »Echtheit« zuzuerkennen. Was hatte nun Stephan, der sonderbare Streber, in diesem Ringen einzusetzen? Ehrgeiz, Energie, die sich oft gegen seinen eigenen Körper richtete, und noch eine wichtige Eigenschaft dazu, die der Bauernjugend abging. Selbst Haik, über vierzehn Jahre schon, hoch aufgeschossen und muskelstark, das unbestreitbare Haupt der Bande, besaß das gesammelte, planende und folgerichtige Denken nicht, das Stephan aus Europa mitgebracht hatte. Diese orientalischen Kinder vergaßen ihre Pläne meist schon vor der Ausführung, sie wurden von ihren kurzatmigen Einfällen, von ihrer dumpfen Triebhaftigkeit herumgewirbelt wie Laub im Wind. Sah man ihnen nach der Schulzeit zu, so glichen sie einem erregten Tierrudel, das, sinnlos und unbekannten Regungen folgend, bald hierher stürmt, bald dorthin, ohne jedes ersichtliche Ziel. Wenn sie sich wie ein Vogelschwarm zu unbewachter Stunde auf die weiten Obstgärten niederließen, so konnte das noch als ein zweckhaftes Unternehmen gelten, weit öfter jedoch strichen sie, wie vom Dämon besessen, ins Bergdickicht oder zu einem seichten Tümpel oder auf ein Feld hinaus und begannen sich zu wälzen und zu suhlen. Diese Streifzüge endeten oft mit einer religiösen oder besser mit einer heidnischen Kultzeremonie, deren sie sich selbstverständlich nicht bewußt waren. Es begann damit, daß sie eine Runde bildeten, sich umfaßten, erst leise summend die Köpfe wiegten, dann ihre Stimmen und rhythmischen Bewegungen immer höher steigerten, bis alle zuletzt in einen heulenden Taumel sondergleichen gerieten. Auf manche unter ihnen wirkte diese Zeremonie so stark, daß sie die Augen verdrehten und Schaum vor dem Mund hatten. Sie übten damit in ihrer Einfalt nichts anderes als den altbekannten Versuch gewisser Derwischorden, sich durch epileptische Ichüberwindung mit den planetarischen Urkräften in geheimen Zusammenhang zu setzen. Von Erwachsenen hatten sie Ähnliches niemals gesehen, aber das Bedürfnis nach solchen Übersteigerungen lag in der Luft dieses Landes. Stephan, der Europäer, stand natürlich während derartiger Ekstasen hilflos abseits. Doch auch der große bedächtige Haik beteiligte sich an diesen Ausbrüchen nicht, vielleicht deshalb, weil er sich all jener Kräfte bis zum Rande voll wußte, welche die anderen durch ihr Gewiege und Geheule in sich hineinsoffen. In anderen Stunden wiederum gelang es Stephan, planvolle Unternehmungen zu veranstalten, und siehe da, nach einigen Erfolgen in dieser Richtung hatte er sich allgemach ein Ansehen errungen. Die volle Obmacht über seine Altersgenossen konnte er nicht an sich reißen. Eine Kraft fehlte ihm und mußte ihm fehlen, und zwar jene Kraft, welche das Leben dieser Jugend am mächtigsten beherrschte: hellsichtige Naturverschwisterung, die sich mit Worten gar nicht ausdrücken läßt. Wie ein guter Schwimmer in den Fluten liegen, sitzen, stehen, gehen, tanzen kann und mit unbeschreiblicher Körperfreude »in seinem Element ist«, so waren die Kinder des Musa Dagh im Umkreis des Berges unbeschreiblich in ihrem Element. Sie waren durchwoben von der Natur ringsum. Diese Natur war ihnen so eingefleischt, daß es kein Außen und Innen mehr gab. Jedes Blatt, das sich im Wind bewegte, jede Frucht, die vom Baume fiel, das Rascheln einer Eidechse, das Zirpen eines weit entfernten Wässerchens, all diese Tausendfalt wurde von ihren Sinnen nicht gespiegelt, sondern begab sich unmittelbar in diesen Sinnen, als sei jedes von ihnen ein kleiner Musa Dagh in Person, der alles aus sich selbst hervorbringe. Ihre Körper waren wie Brieftauben, die durch einen übermenschlichen Orientierungssinn sich nie verirren können. Ihre Körper waren wie dünne, schmiegsame Wünschelruten, die über allen verborgenen Erdschätzen zuckenden Ausschlag geben. Mit ihnen verglichen, besaß der Knabe Stephan, der allzulange das tote Pflaster getreten hatte, einen zwar geschickten und ehrgeizigen, aber stumpfen Körper.

      Als dann das Volk auf dem Damlajik sein Lager aufschlug, als die leeren Streifzüge aufhören mußten und von der Jugend Disziplin und zielvolle Tätigkeit gefordert wurde, da wuchs das Ansehen Stephans immer höher, nicht zuletzt durch den kriegerischen Führerrang seines Vaters, der auf ihn abglänzte. Die Kohorte der Halbwüchsigen bestand aus Burschen zwischen zehn und fünfzehn Jahren. Die wenigen Mädchen darunter waren keines über elf Jahre, da in jenen Gegenden die weiblichen Zwölfjährigen schon als reif gelten. Auch für die größeren Burschen sollte auf Ter Haigasuns Geheiß in den dienstfreien Stunden Schule gehalten werden. Es kam aber nie dazu, da die Lehrer, die entweder in den Stellungen oder in der Lagerverwaltung beschäftigt waren, keine Zeit hatten oder sich vom Unterricht drückten, den sie für gänzlich überflüssig hielten. Wenn man von Hapeth Schatakhian absieht, der den Befehl über die Spähergruppe führte, und von Samuel Awakian, der den Dienst der Ordonnanzen einteilte, so hatten die dreihundert und mehr Jungen, aus denen die leichte Truppe bestand, fast keine Oberaufsicht

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