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Unglück ist wegen eurer Dummheit und eures Leichtsinns geschehn«, nickte er dem Mülasim zu, »denn das Reglement befiehlt, daß man eine feindliche Stellung vor dem Angriff auskundschafte. Nun aber, da die Sache so schlimm ausgefallen ist, frage ich den Kaimakam: Was willst du haben? Sollen noch mehr unserer Leute geopfert werden? Oder sollen wir diese Verfluchten auf ihrem Berge ruhig verkommen lassen? Was schaden sie uns? Die Deportation ist euer Geschäft, nicht unsres. Werdet ihr Zivilisten damit fertig! Wenn sie wirklich zehntausend Bewaffnete haben und mehr ...«

      Der rothaarige Müdir hob, sich zum Worte meldend, die Hand:

      »Sie haben nicht fünfhundert, nein, nicht dreihundert Bewaffnete. Ich muß es wissen, da ich die Nahijeh verwalte und in den Dörfern war ...«

      Der Bimbaschi nahm seine Brille so zwecklos von der Nase, wie er sie vorhin aufgesetzt hatte:

      »Am besten ist es, wir machen einen Strich unter die Angelegenheit. Die Verfluchten haben sich selbst deportiert. Was wollt ihr noch mehr? Es leben allerlei Leute an der Küste, Griechen, Araber. Soll ich vor ihnen einen lächerlichen Krieg aufführen? Wenn ich alle detachierten Garnisonen der ganzen Kasah zusammenkratze, bekomme ich keine vier regulären Kompanien auf die Beine. Und die Tschettehs, die Kurden und andre Halunken, die ich holen könnte, würden nicht nur über die Armenier, sondern auch über euch kommen. Drum glaubet mir: Am klügsten ist es, zu schweigen.«

      Der verbissene Jüsbaschi mit den tiefliegenden Augen hatte seit einer Stunde schon eine Zigarette nach der anderen geraucht, ohne ein Wort zu sprechen. Jetzt erhob er sich und machte respektvoll gegen seinen Vorgesetzten Front:

      »Bimbaschi Effendi, erlaube, daß ich mich gehorsamst über deine Worte verwundere. Wie können wir denn dieses schwere Unglück verheimlichen, in dem ein Kompaniekommandant, drei Offiziere und an die hundert Mann ermordet worden sind? Es ist schon ein unverzeihliches Versäumnis, daß wir einige Stunden mit der Meldung gezögert haben. Ich werde auch gleich nach dieser Konferenz und auf deinen Befehl den Rapport an das Generalkommando verfassen.«

      Der Bimbaschi klappte zusammen. Seine Wangen wurden noch röter. Erstens, weil der Major recht hatte, er hatte immer recht, und zweitens, weil er ein Satan war. Der Kaimakam aber schien jetzt erst aus seiner Gedankenverlorenheit zu erwachen:

      »Ich will die Geschichte im eigenen Wirkungsbereich liquidieren.«

      Das war der vorsichtig bürokratische Ausdruck für einen verwickelten Entschluß, in dem die Angst vor dem Wali von Aleppo eine große Rolle spielte. Tägliche Erlässe forderten eine schlagartige und restlose Durchführung der Deportation. Der Widerstand der sieben Gemeinden konnte dem Kaimakam den Kragen brechen, denn er bedeutete sowohl mangelhafte Entwaffnung als auch lässige Aufsicht. Erhielt der Wali einen ungeschminkten Bericht über den Vorfall, hatte der Kaimakam von ihm und Ittihad das Schlimmste zu befürchten. Die Meldung mußte daher eine glimpfliche und verwischte Form erhalten. Der alte Oberst hakte ein:

      »Wie willst du sie liquidieren, wenn deine Saptiehs auf den Transporten sind und die Soldaten an der Front?« Er kniff die Augen ein und sandte dem Major einen knirschenden Blick: »Dir aber befehle ich, Jüsbaschi, daß du in dem Rapport an das Generalkommando vier Bataillone und eine Gebirgsbatterie forderst, denn ohne Truppen und Artillerie können wir einen großen Berg nicht belagern.«

      Der Jüsbaschi tat, als bemerke er die Wut des Alten nicht:

      »Bimbaschi Effendi, ich habe deinen Befehl verstanden. Seine Exzellenz General Dschemal Pascha läßt sich jede Angelegenheit persönlich vortragen. Du kannst sicher sein, daß er dich unterstützen wird; die Armenierverschickung ist ja ein Werk seiner Freunde. Er wird es nicht dulden, daß ein paar lumpige Christenbauern ihr Spiel mit dir treiben.«

      Bei Nennung des großen Namens wurden unter den Räten die verschiedensten Ansichten laut. Einer der jüngeren Müdirs verstieg sich sogar zu der Behauptung, Dschemal Pascha sei trotz seiner bekannten Rolle in der Regierung, was die Armenier anbetrifft, nicht ganz zuverlässig und habe sogar mit ihnen in Adana paktiert. Der Kaimakam, der wieder von seinem Halbschlaf befallen zu sein schien, hatte indessen seine Entscheidungen getroffen. Er mußte sich mit dem stärksten Mann, dem Major, verbünden und zu diesem Zwecke den alten Bimbaschi dem Verderben überliefern. Der Sündenbock war jedenfalls gefunden, wenn auch ein geduldig langsames Vorgehen geboten schien. Der Kaimakam gähnte tief auf und klopfte mit dem Elfenbeinknopf seines Stockes auf den Tisch:

      »Ich hebe die Sitzung auf und bitte den Jüsbaschi, noch eine Weile bei mir zu bleiben, damit wir uns über unsere Berichte an die Zivil- und Militärbehörde gegenseitig verständigen. Bimbaschi Effendi, ich werde dir auch den meinen zur Billigung vorlegen.«

      Am nächsten Morgen gingen zwei lange und gewundene Rapporte ab. Die scharfen Rückäußerungen trafen erst nach fünf Tagen ein. Der Musa Dagh habe, so lauteten die Befehle, mit den vorhandenen Mitteln und unter allen Umständen unverzüglich geräumt zu werden. Das einzige Zugeständnis an den Bimbaschi bestand aus zwei 10-cm-Feldhaubitzen, die sich auf dem Wege von Hama nach Aleppo befanden und nach Antakje umbeordert wurden. Die Geschütze trafen am siebenten Tag, das war der zwölfte August, am Bestimmungsorte ein. Ihre Bemannung setzte sich aus einem blutjungen Leutnant, drei Unteroffizieren, zwölf alten Reservekanonieren und ein paar schmutzigen Fuhrknechten zusammen. Haubitzen dieser Art ließen sich im Gebirge nur unter großen Schwierigkeiten verwenden.

      In gewisser Hinsicht hatte es Stephan schwerer als sein Vater, den ja noch Kindheitserinnerungen mit dem Musa Dagh verbanden. Der Knabe aber war in Europa aufgewachsen, unter den Schulkindern Frankreichs, und kannte bis zur Ankunft in Yoghonoluk von seinem Volke nur diejenigen Personen, welche als Onkel, Tanten und sonstige Verwandte und Freunde das Ehepaar Bagradian in Paris, in der Schweiz und Stambul besucht hatten. Dies waren Leute, die genau so aussahen wie alle anderen Europäer und sich mit Stephan in einem ganz unauffälligen Französisch unterhielten. Um so verwundernswerter muß deshalb die große Verwandlung berühren, die sich an dem Knaben seit dem Tage vollzogen hatte, da er das erstemal in Herrn Hapeth Schatakhians Schulklasse getreten war. Binnen so kurzer Zeit schienen von Stephan die vierzehn Jahre Europa, sein ganzes Leben also, wie weggewaschen zu sein. Er sank, wenn man es so nennen darf, in sein Volk zurück, und dies zehnfach tiefer und gründlicher als sein Vater. (Verwunderlich bleibt auch der Gedanke, daß dieses Kind, wäre es nicht durch ein geheimnisvolles Schicksal nach Syrien verschlagen worden, wahrscheinlich niemals von seiner Blutzugehörigkeit etwas Lebendiges erfahren hätte und dadurch auch nichts von seinem innersten Selbst.) Bei Gabriel Bagradian lagen die Dinge anders. Seine Neuverwurzelung war ein Akt der Not und des Willens. Es mußte sein. Ihn trieb die Macht der Tatsachen und noch eine andre Macht, die hinter ihnen stand. Und doch, viel näher seiner Blutsheimat, war er von ihr dennoch viel weiter entfernt als der entferntere Stephan. Schon durch seine Ehe stand er zwischen den Rassen. Anfangs war es ihm gewissermaßen »taktlos« vorgekommen, als Fremder den Bodenständigen sein Rettungswerk aufzudrängen. Vielleicht lag darin eine Ursache jener feierlichen und doch gebrochenen Empfindung, die ihn nach dem Siege vom vierten August eigentümlich erfüllt hatte. Nicht so Stephan. Obgleich doppelten Blutes, schien der Anteil seiner Mutter in ihm ziemlich machtlos zu sein. Juliettens weibliche Einwirkung auf ihren Gatten spielte eine weit größere Rolle in Gabriels Natur als ihre mütterliche Teilhabe in der Natur Stephans. Man hätte oft meinen können, der Vater sei der durch hochgespannte Blutmischung Zerrissene und nicht der Sohn. Bei Stephan entwickelte sich alles sehr einfach. Er war zum orientalischen Armenierjungen geworden, zu dem, was alle anderen Mitschüler um ihn herum waren. Der Grund? Er hätte sich anders unter ihnen nicht behaupten können. Dieser zugleich gravitätischen, zugleich affenhaft geschmeidigen Jugend flößten nämlich weder die Manieren noch die Kenntnisse des feinerzogenen Stephan die geringste Achtung ein. Da half das beste Französisch nicht im Mündlichen und nicht im Schriftlichen, da halfen keine noch so schön auswendig gelernten Fabeln von Lafontaine und Gedichte von Victor Hugo, da half die verläßlichste geographische Wissenschaft ebensowenig. Was letztere anbelangt, so hatten die Buben und Mädel von Yoghonoluk ihre eigene Auffassung; sie legten überhaupt den selbstbewußten Volksvers vom »gebildeten Kind« auf sonderliche Art aus. Erzählte ihnen Stephan von den abendländischen Städten, so lachten sie ihn als einen ungeschickten Märchenerzähler aus, so wie sie ihn auslachten, wenn er seine Schulbücher unterm Arm

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