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Zwergstaaten, die durch wiederholte Erbteilung und anderes Geschacher immer kleiner wurden, die Trennung von Staat und Kirche, Zivilrecht und ein Volksheer, das »sein Land« zu verteidigen bereit war. Dass dabei alle Staatsgewalt vom Volke ausgehen sollte, legte jeder Monarch auf andere Weise aus, wenn er schon zu Zugeständnissen neigte. Es gab in Frankreich inzwischen auch zivile Personenstandsdokumente, nicht bloß Kirchenbücher, sodass das Spiel mit falschen Ahnentafeln dort schon ausgespielt war. Im Vergleich zum namhaftesten Hochstapler dieser Zeit, dem angeblichen Grafen Cagliostro, der in einem Gefängnis des Kirchenstaats einsaß, war Franz Anton freilich von liebenswürdiger Harmlosigkeit.

      Für den Karfreitag hatte er im fürsterzbischöflichen Hoftheater, das der regierende Erzbischof in einem ehemaligen Ballhaus installiert hatte, noch eine Aufführung des Sterbenden Jesus, eines vielgespielten Oratoriums von Antonio Rosetti, wie sich Anton Rösler aus Leitmeritz nannte, organisieren können. Dann blieb ihm wegen der in Kriegszeiten stets riskanten Reisesituation als einzige Option die neuerliche Gründung einer eigenen Truppe, denn Theaterunternehmer Glöggl ging zurück in seine österreichische Heimatstadt Linz, wo er für ihn keine Verwendung hatte. Das neue Ensemble spielte im Sommer und dann noch einmal von September bis Fasching 1796 in Salzburg und ein paar Mal in Hallein. Im Repertoire war nicht nur ein Singspiel aus der Feder von Edmund von Weber, das man schon in Nürnberg gegeben hatte, Der Transport im Koffer, sondern auch sein Martin Fex oder Ich habe der Brüder mehr. Fridolin war auch wieder dabei und die Sängerin Louise Spitzeder, die später Edmunds zweite Frau wurde. Mit Mozarts Così fan tutte (wie damals üblich mit einem anderen deutschen Titel versehen) hatten sich die Leute in Hallein allerdings nicht anfreunden können, wie Ensemblemitglied Karl Ludwig Costenoble berichtete. Nachdem der alte Weber auch ihn auf halbe Gage gesetzt hatte, weil die Einnahmen wieder einmal nicht reichten, war das Ensemble nicht mehr beieinander zu halten. »Weber IV« löste sich auf. Franz Antons Karriere als Theaterunternehmer war beendet. »Herr von Weber war ein freundlicher Direktor, und seine Gattin konnte man kreuzbrav nennen«, erinnerte sich Costenoble: »Der Personalstand war: Die Frau des Direktors, Ambs mit Frau und zwei Töchtern, Fritz Weber, der älteste Sohn«, es folgen die Namen von fünf weiteren Künstlern und zwei Ehepaaren und des Souffleurs. Der später renommierte Burgschauspieler räumt ein: »In den Opern ›Das Sonntagskind‹ und ›Die Schwestern von Prag‹ wirkte ich nicht störend« und berichtet stolz davon, sich bei Bühnen-Ständchen selbst instrumental begleitet zu haben. »Carl Maria von Weber … war damals ein schwaches, kreuzlahmes Knäblein von acht bis neun Jahren …«13 Doch als am Aschermittwoch 1796 wieder einmal vollkommen offen war, wie es weitergehen sollte, sah Franz Anton von Weber in der Zukunft dieses Neunjährigen die größte Hoffnung. Er selbst war nun 61 Jahre alt und konnte wohl nicht mehr lange Geld verdienen.

      Irgendwann beginnt ein Kind seine Zugehörigkeit zu begreifen. Zuerst die zur Mutter, danach die zu Vater und Geschwistern und dem Rest der in der Nähe befindlichen Familie, dann zu Spielkameraden und Nachbarn und so weiter. Genovefas Beruf und ihrer fragile Gesundheit führten dazu, dass sie die Mutterrolle auf eine Art erfüllte, die weit von dem Ideal entfernt war, das das 19. Jahrhundert später aufbaute. Der alte Vater des »kleinen Carl Weber« in seiner notgedrungenen Umtriebigkeit war sicher noch weniger präsent für sein jüngstes Kind und verkörperte zusammen mit Tante Adelheid wohl eher eine Art Großelternpaar. Die realen Großeltern waren bis auf Großvater Brenner im Allgäu schon lange verstorben. Ihm hatte der sechsjährige Carl Anfang 1793, sechs Monate vor seinem Tod, wenigstens noch einen Brief schreiben können, gesehen hat er auch ihn nicht.

      Zugehörigkeit empfindet ein Kind aber auch zum Elternhaus als einem Gebäude – vielleicht mit einer Linde davor oder einem anderen charakteristischen Merkmal –, zu einem städtischen Marktplatz, einem Kirchturm oder einer Schule, zu einer Landschaft. Eine solche Heimat erlebte Carl Maria von Weber nicht. Statt eines Vaterhauses bot ihm Franz Anton für ein paar Wochen oder Monate Domizile, die für wenig betuchte Durchreisende gedacht waren, oder Zimmer in Gasthöfen, die nicht die feinsten waren. Außerdem: War er nun eigentlich fürstbischöflicher Lübecker durch Geburt oder Österreicher durch den Vater? Eine Staatsangehörigkeit kannte man noch nicht; man war Untertan eines Landesherrn. (Das josephinische Gesetzbuch, das seit 1786 in Franz Antons Schwarzwaldheimat galt, unterschied erstmals zwischen »Unterthanen« und »Fremden« und legte damit für die habsburgischen Erblande das Fundament für eine Staatsangehörigkeit im heutigen Sinne.) Die Webers waren deutsch von der Sprache und Kultur her. Der Kaiser in Wien herrschte aber auch über Tschechen, Kroaten, Italiener, über Untertanen, die Niederländisch oder Französisch sprachen. Preußen, wiewohl es deutsch war, gehörte nicht als Ganzes zum Heiligen Römischen Reich; der Kaiser belehnte den preußischen König bloß in dessen Eigenschaft als brandenburgischer Kurfürst.

      Wald, Felder und Wiesen sah der junge Weber vorwiegend von der Kutsche aus; ansonsten hielt sich die Familie in der Stadt auf, wo es eng und unkomfortabel war, wenn man nicht viel Geld hatte. Der kleine Carl besuchte mit vorübergehenden Ausnahmen keine Schule, er lernte vom Leben und von Familienmitgliedern. Wenn er aber tatsächlich ein einträgliches Wunderkind, ein neuer Mozart, werden sollte – Begabung dazu schien vorhanden –, dann war Ausbildung gefragt. Das ging nicht »unterwegs«, es sei denn, unter den Mitreisenden wäre ein respektabler Lehrer gewesen. Dass galt jedoch weder für ihn selbst noch für jemand anderen aus der Familie, dessen war sich Franz Anton bewusst. Ein Fachmann musste gefunden werden, der Carl Maria unterrichten konnte. Viel Geld durfte das natürlich nicht kosten. Institutionalisierte Ausbildungsstätten gab es nur ansatzweise im Umfeld einiger Höfe. Was in Italien schon lange Konservatorien leisteten, war in den deutschsprachigen Ländern immer noch reine Privatsache zwischen einzelnen Lehrern und Schülern. Eine Förderung als begabtes Landeskind wie sie der Kur-Kölner Ludwig van Beethoven aus Bonn oder der Salzburger Mozart bekommen hatten, war wegen des Wanderlebens der Webers ausgeschlossen.

      Hildburghausen

      In Hildburghausen hatte es schon 1765 einmal eine »Schauspielschule« gegeben, ins Leben gerufen von Theaterprinzipal Georg Friedrich Wolfram, der dann aber weitergezogen war. Edmund von Weber war vor einiger Zeit mit Quandt einmal dorthin gekommen. Durch ihn, der auch noch kein neues Engagement gefunden hatte und sie dort besuchte, mögen die Webers auf die kleine Stadt an der Werra aufmerksam geworden sein. Genovefa war wieder schwanger und weiteres Umherreisen nicht angeraten.

      In Sachsen-Hildburghausen herrschte Herzog Friedrich über einen Kleinstaat, der gut hundert Jahre zuvor entstanden war, als das ohnehin nicht gerade große Sachsen-Gotha unter sieben erbberechtigten Söhne aufgeteilt werden musste. Friedrich hatte ein schönes Theater, auf dessen Brettern er allerdings nicht aus dem Vollen schöpfen konnte. Er stand unter kaiserlicher Finanzkontrolle, weil sein Ländchen pleite war. Auch Sachsen-Hildburghausen hatte nämlich Soldaten zu stellen gehabt, die für Preußen und Österreich nach Westen gezogen waren. Der Herzog hatte Kinder, das war von dynastischem und damit indirekt auch von materiellem Vorteil; seine jetzt dreijährige Tochter würde 1825 Königin von Bayern werden. Die kleine Prinzessin bekam eines Tages auch Klavierunterricht, möglicherweise bei Johann Peter Heuschkel. Erst einmal wurde der 23-jährige Oboist und Hoforganist jedoch von März 1796 an für anderthalb Jahre Carl Maria von Webers Klavierlehrer, an den der sich später als einen »braven, strengen und eifrigen«14 dankbar erinnerte, denn er legte den Grundstein zu seiner Professionalität.

      Die Franzosen zogen in diesen Tagen, geführt von dem 26-jährigen General Napoleon Bonaparte, nach Italien, wo sie gegen österreichische und Truppen von Sardinien-Piemont kämpften. Von der Unruhe dieser Zeit hatte man auch in Hildburghausen Kenntnis nehmen müssen, als vier Jahre zuvor die Darmstädter »Prinzessin George« vor den Franzosen hierher geflohen war. Ihre Enkelin Charlotte aus dem Hause Mecklenburg-Strelitz war die kunstliebende Gattin von Herzog Friedrich. Jean Paul nannte sie ihrer Schönheit und sängerischen Begabung wegen die »himmlische Herzogin … mit einer Nachtigallen-Stimmritze«15. Charlottes Schwester Luise war mit dem künftigen König von Preußen verheiratet.

      Maria Antonia Adelheid Felicitas Luise Philippine Johanna Walburge Josephe Joachime. Auf diesen Namen wurde das Kind getauft, das Genovefa von Weber am 14. Juni

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<p>13</p>

Carl Ludwig Costenoble: Tagebücher von seiner Jugend bis zur Übersiedlung nach Wien, Berlin 1912, Band 1, S. 85f.

<p>14</p>

Carl Maria von Weber: Autobiographische Skizze (WEGA A030497).

<p>15</p>

Jean Pauls Briefwechsel mit seinem Freunde Christian Otto, Berlin 1829, Band 3, S. 81.