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sei­nem Kom­men das Herz der Mensch­heit. Luther soll – ich weiß nicht mehr wo – ge­sagt ha­ben, es gebe See­len, die gar nicht aus dem Fe­ge­feu­er her­aus­wol­len – ein qual­vol­les Wort, in dem alle Schau­er des Ge­wis­sens zit­tern! Aber die­se Schau­er sind nur für die Gu­ten, die großen Ver­bre­cher ha­ben ein bes­se­res Ru­he­kis­sen.

      Kei­ne Re­li­gi­on hat es ih­ren Be­ken­nern so schwer ge­macht wie das Chris­ten­tum, kei­ne hat ihre Her­zen so mit Schwer­tern zer­fleischt. Wie soll­te das wehr­lo­se Kin­der­herz die Nacht in Geth­se­ma­ne er­tra­gen, die furcht­bars­te, die je über die Erde ge­gan­gen ist, wo dem Gott­men­schen der Angst­schweiß aus al­len Po­ren bricht, wäh­rend die Jün­ger, bra­ve Leu­te, de­ren gro­bir­di­sche Na­tur dem Schlaf nicht weh­ren kann, ihn sei­ner Not al­lein über­las­sen. Ich muss­te von Ju­gend auf je­den Ver­bre­cher mit mei­nen Ge­dan­ken zum Richt­platz be­glei­ten – ich tat es be­wusst, weil es mir schmäh­lich schi­en, der ei­ge­nen Ruhe zu­lie­be von dem Men­schen­bru­der, auch dem ver­wor­fens­ten, in der letz­ten Angst die Au­gen weg­zu­wen­den. Wie nun die­sen so zu wis­sen! Und der un­aus­denk­ba­re Au­gen­blick, wo der ir­di­sche Zwil­ling, der dem Gött­li­chen zur Wohn­statt ge­dient hat, jetzt in der Mar­ter sein Ent­wei­chen fühlt und ihm nach­schreit: Wa­rum hast du mich ver­las­sen?

      O wie konn­te er ihn ver­las­sen? Wa­rum hat er ihm das ge­tan, dass er ihn nicht bis zum Letz­ten stütz­te? Oft ge­nug mag sich das in Ge­schich­te und Ein­zel­ge­schick wie­der­ho­len, dass der stür­men­de Geist einen Sterb­li­chen er­greift und ihn sich zum Zeug­nis an den Ab­grund reißt, wo er den Stür­zen­den grau­sam al­lein lässt. – Und Ju­das, wer denkt an ihn? Seit zwei­tau­send Jah­ren ver­flucht die Mensch­heit den, der am Tage von Gol­ga­tha noch gräss­li­che­re Qua­len litt als der am Kreuz und dem doch auf­er­legt war, zu tun was er tat. Im­mer wie­der wirft er den An­stif­tern sei­nes Ver­rats die Sil­ber­lin­ge vor die Füße und hört im­mer wie­der ihr kalt­schnäu­zi­ges: Da sie­he du zu! Ob der Be­richt wahr sei oder Sinn­bild, das än­dert nichts an der Tat­sa­che, dass Ju­das war und ist und im­mer sein wird mit sei­ner Verzweif­lung, die tiefer als alle Höl­le ist, und dass ihm nicht ein­mal ein Schwamm mit Es­sig in sei­ne Höl­le hin­un­ter­ge­reicht wur­de. Und dass auch der Al­lie­ben­de dem Un­se­ligs­ten von al­len kei­nen Trop­fen Lab­sal aus dem Rie­sen­kelch sei­ner Ver­zei­hung ge­spen­det hat, nach­dem er doch sel­ber be­foh­len hat: Lie­bet eure Fein­de, tuet Gu­tes de­nen die euch Bö­ses tun. Wa­rum Er selbst nur dem einen nicht, den die ver­zwei­fel­te Reue sich zu ih­rem ei­ge­nen Ur­bild ge­prägt hat. O wie rät­sel­haft be­gann schon das Er­lö­sungs­werk!

      Nein, ich dan­ke es doch mei­ner Mut­ter, dass sie mich nicht in zar­ten Jah­ren die­sen Wi­der­sprü­chen aus­ge­setzt hat. So lern­te ich die herz­zer­flei­schen­de Leh­re von der Pas­si­on Chris­ti erst ken­nen, als ich schon mit den an­de­ren re­li­gi­ösen Vor­stel­lungs­wel­ten be­kannt war und mir der Ur­ver­wandt­schaft Al­ler als Spie­ge­lun­gen ei­ner und der­sel­ben ewi­gen un­er­reich­ba­ren Grund­wahr­heit be­wusst ge­wor­den. Das Chris­ten­tum wäre aber schon da­durch vor al­len an­de­ren Glau­bens­krei­sen ge­hei­ligt, dass seit sei­nem Be­ste­hen alle Trä­nen der Mensch­heit da zu­sam­men­flie­ßen. Ob wir uns zu sei­nen Dog­men be­ken­nen oder nicht, es ist die Kul­tur­luft die wir at­men und die uns al­len die nicht zu bre­chen­de in­ne­re For­mung ge­ge­ben hat. Chris­tus konn­te das blu­ti­ge Le­bens­ge­setz des Pla­ne­ten nicht wen­den. Er steht nur wie je­ner er­schüt­tern­de Kru­zi­fi­xus über dem Schlacht­feld, dem sie das stüt­zen­de Kreuz im Rücken weg­ge­schos­sen ha­ben und der doch noch im­mer die ge­mar­ter­ten Arme aus­ge­spannt hält, da­mit sich alle Not und Verzweif­lung da hin­ein­stür­zen kann. Aus ur­al­ter öst­li­cher Weis­heit raunt eine Ver­kün­di­gung her­über, dass der Licht­geist mit je­dem neu­en Wel­tal­ter wie­der­kom­men müs­se um das Er­lö­sungs­werk ein Stück vor­wärts zu tra­gen. Möge er bei sei­ner nächs­ten Kunft sich vor al­lem de­rer er­in­nern, die schwe­rer als der Mensch und un­schul­di­ger als er an dem ers­ten Schöp­fungs­feh­ler lei­den. Wer ohne den Stab der Über­lie­fe­rung, die für mich ab­ge­ris­sen war, al­lein die Su­che an­tritt aus Wust und Zorn und Gram der Welt nach dem lie­be­glü­hen­den Got­tes­her­zen, der fühlt wohl an dem zu­neh­men­den Er­war­men des ei­ge­nen, dass er ihm schritt­wei­se nä­her­kommt. Aber zu­gleich mit der wach­sen­den Lie­be zu al­lem Ge­schaf­fe­nen wächst die Verzweif­lung dar­über, dass al­les, was Tier­leib trägt, zu der grau­si­gen Mar­ter der ge­gen­sei­ti­gen Zer­flei­schung ge­schaf­fen ist, und dass wir selbst, wie wir auch zu scho­nen su­chen, doch im­mer ir­gend­wie aus der Ver­til­gung von Le­ben un­ser Le­ben zie­hen. So­lan­ge aber der Mensch den Bru­der Ochs mor­det um sich an ihm zu sät­ti­gen, so­lan­ge mor­det er auch den Men­schen­bru­der um an­de­rer Ge­lüs­te wil­len, und so­lan­ge bleibt die Er­lö­sung ein schö­ner Traum. Vor die­sem fürch­ter­li­chen, un­lös­li­chen Zwie­spalt legt der Wan­de­rer zu Gott rat­los sei­nen Stab nie­der.

      *

      Wenn es auch mei­nen kin­di­schen Be­mü­hun­gen nicht ge­lin­gen konn­te, den Gott­men­schen, nach dem ich such­te, zu fin­den, so fand ich da­für die An­leh­nung an das Hö­he­re in der Dich­tung. Wir Kin­der hat­ten an un­sern El­tern das höchs­te Bei­spiel vor Au­gen, aber eine ei­gent­li­che ethi­sche Un­ter­wei­sung als ab­strak­te Leh­re gab es für uns nicht, sie lag nur gleich­sam in der Luft. Auch die zehn Ge­bo­te lern­te ich erst ken­nen, als Al­fred sie selt­sam miss­ver­stan­den aus der Schu­le mit­brach­te. Und doch be­darf die jun­ge, su­chen­de See­le ei­ner Form­ge­bung im Wort, wo­durch das Er­fühl­te Kör­per wird. Die­ses Be­dürf­nis be­frie­dig­ten mir in der Kind­heit die Ge­dich­te Schil­lers. Nicht die »Glo­cke«, ge­gen die ich trotz mei­ner Ab­kunft aus der Glo­cken­gie­ßer­zunft eine un­be­sieg­li­che Ab­nei­gung hat­te als all­zu bür­ger­lich und ver­stan­des­mä­ßig, son­dern sei­ne phi­lo­so­phi­schen Ge­dich­te, vor al­lem »Das Ide­al und das Le­ben«, die­ses von al­len Schil­ler­schen Ge­dich­ten mit der größ­ten Flug­kraft aus­ge­rüs­te­te, des­sen Dun­kel­heit mich eben­so an­däch­tig stimm­te wie mich sein Schwung mit em­por­riss. Ich ent­deck­te es für mich al­lein und be­wahr­te es als mein Ge­heim­nis, wie al­les was ich lieb­te. Ich trat da in eine von Sil­ber­tö­nen schim­mern­de See­len­land­schaft, worin sich die viel­ge­lieb­ten Ge­bil­de des grie­chi­schen My­thos ver­traut aber fei­er­li­cher als sonst be­we­gen. Dass »oben in des Lich­tes Flu­ren gött­lich un­ter Göt­tern die Ge­stalt« wan­delt, mach­te mich reich und se­lig. Ich wuss­te zwar nicht, wer die Ge­stalt war, aber das brauch­te es nicht, sie war da, sie gab Ge­wiss­heit, und man muss­te vor ih­ren stil­len Au­gen be­ste­hen kön­nen. Dass man »die Angst des Ir­di­schen« (wie schwer wog die­ses Wort für mich!) von sich tun und »hoch auf ih­ren Flü­geln« schwe­ben konn­te, be­wirk­te in mir eine Art in­ne­rer Le­vi­ta­ti­on. Ich be­grei­fe es, wenn Re­li­gi­on ihre hei­li­gen Hand­lun­gen in eine Spra­che klei­det, die der Ge­mein­de dem Wort­laut nach dun­kel und nur dem Ge­fühl er­reich­bar ist. So wur­de Schil­ler – Hera­kles, als der er sich selbst am Schluss in der Ver­klä­rung ent­hüllt, ge­wis­ser­ma­ßen der geist­li­che Füh­rer mei­ner ers­ten Ju­gend. Sei­ne Ver­se ho­ben und tru­gen mich durch ih­ren Rhyth­mus und durch die blo­ße Fol­ge hel­ler und dunk­ler Vo­ka­le. Dass ich mich da­nach mit mei­nen poe­ti­schen Kin­der­ver­su­chen an ihn, an sei­ne grie­chi­schen Bal­la­den zu leh­nen such­te, ver­steht sich von selbst. Ein von mei­nem be­geis­ter­ten Müt­ter­lein höchst ge­schätz­tes

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