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hielt und die sie auch wei­ter­hin auf al­les At­men­de aus­dehn­te, dass es bei ihr un­ter­schlüp­fen und sich vor­wär­men konn­te ge­gen die kal­ten Lüf­te des Le­bens. Am engs­ten – oft schmerz­haft enge – hielt sie die Toch­ter an sich ge­bun­den, ob­gleich ge­ra­de die­se, in de­ren In­ne­rem sich, gleich­falls an­ge­bo­re­n­er­wei­se, die vä­ter­li­chen Strö­me mit den müt­ter­li­chen kreuz­ten, ihr am häu­figs­ten in grund­sätz­li­chen Fra­gen wi­der­streb­te. Ver­stan­des­mä­ßig fuß­te sie auf den Lehr­sät­zen der fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­on, de­ren For­mel­haf­tig­keit ihr nicht auf­ge­hen konn­te, weil sie sie mit den Glut­strö­men ih­res Her­zens er­füll­te und bei der Aus­übung in lau­ter schüt­zen­de und näh­ren­de Lie­be ver­wan­del­te. Wer kann Lie­be, die zur Tat wird, wi­der­le­gen? Wenn sie in Ein­zel­hei­ten irr­te, das Gan­ze ih­res We­sens war Lie­be, die nie­mals Irr­tum ist. Und vor die­ser Ur­ge­walt gab es kein Ent­rin­nen. Aber alle Lie­be ist grau­sam, selbst die hei­ligs­te, die Mut­ter­lie­be. Um mehr und im­mer mehr ge­liebt zu sein, lässt sie sich auch die Pein des an­dern Teils nicht reu­en. Bei mir ging die­se Pein auf die frü­he­s­te Kind­heit zu­rück. Bei ei­nem Be­such in Stutt­gart sah ich ein­mal vom Fens­ter aus eine Schar klei­ner grau­ge­klei­de­ter Mäd­chen, die paar­wei­se von ei­ner in das­sel­be Grau ge­klei­de­ten Schwes­ter durch die Stra­ßen ge­führt wur­den. Es sei­en die Wai­sen­kin­der, sag­te Mama und er­zähl­te mir von dem trost­lo­sen Schick­sal sol­cher ar­men Ge­schöp­fe, die kei­ne El­tern mehr hät­ten und ohne Lie­be und Freu­de un­ter der Ob­hut frem­der Per­so­nen her­an­wüch­sen. Sie wuss­te nicht, was sie tat, sie ahn­te nicht, die lie­bends­te al­ler Müt­ter, dass sich mit ei­nem Schlag die Welt für mich ver­wan­del­te und ich eben schon sel­ber grau­ge­klei­det und im Her­zen frie­rend als Wai­se in der grau­en Elends­wol­ke mit da­hin­zog.

      Von je­nem Tage ab stand mein Le­ben un­ter dem Schat­ten des To­des. Die hol­des­te Ge­bor­gen­heit des Kin­des, die Mut­ter­lie­be, wan­del­te sich mir in die im­mer­dro­hen­de Ge­fahr des Ver­lus­tes. Mit un­still­ba­rem Lie­bes­hun­ger rüt­tel­te das lei­den­schaft­li­che Mut­ter­herz an dem kind­li­chen Her­zen, das noch den Ge­sund­heits­schlaf im Un­be­wuss­ten hät­te schla­fen sol­len. Im­mer sprach sie mir von ih­rem Tode, sie schrieb Ab­schieds­brie­fe, von de­nen nie­mand wuss­te als ich. Sie mein­te es so, denn als sie nur kaum die Mit­tags­hö­he er­reich­te, glaub­te sie sich trotz ih­rer Le­bens­fül­le stein­alt und be­gann mich auf den Ab­schied vor­zu­be­rei­ten, der in Wahr­heit noch un­end­lich fer­ne lag, von mir aber Tag für Tag vor­aus­ge­nom­men wur­de. Nie­mals er­fuhr sie, was ich da­bei litt; ich wehr­te mich da­ge­gen, sie und das Nicht­mehr­sein in Ei­nen Ge­dan­ken zu­sam­men­zu­fas­sen und ging dar­um nie auf ihre dunklen Ah­nun­gen ein. Sie sel­ber pfleg­te auf jede au­gen­blick­li­che Be­dräng­nis mit ei­nem vul­ka­ni­schen Ge­fühls­er­guss zu ant­wor­ten, wo­nach sie wie­der völ­lig im Gleich­ge­wicht war. So stell­te sie sich gar nicht vor, in wel­che Tie­fen bei dem Kind ihre Wor­te hin­un­ter­san­ken. In ih­ren mitt­le­ren Jah­ren wur­de sie oft von schwe­ren krampf­ar­ti­gen Zu­fäl­len be­trof­fen, die im­mer dann ein­tra­ten, wenn ihre zwei äl­tes­ten Söh­ne in wil­der Kna­ben­wut sich bei den Haa­ren hat­ten und ich, um Un­glück zu ver­hü­ten, da­zwi­schen­sprang. Sie wur­de von Zu­ckun­gen ge­schüt­telt, ver­lor die Be­sin­nung, der Atem pfiff und ging vor Er­re­gung aus: es war je­des Mal wie ein Vor­sta­di­um des Ster­bens. Wäh­rend ihre zwei Streithäh­ne das Wei­te such­ten und der jün­ge­re Er­win gleich­falls schon die Klin­ke in der Hand hat­te, ris­sen Jo­se­phi­ne und ich ihr die Klei­der auf, rie­ben sie, be­spreng­ten sie mit Was­ser, schlepp­ten sie auf ihr Bett und brach­ten sie all­mäh­lich wie­der zu sich mit der Aus­sicht, am an­dern Tag den schreck­li­chen Auf­tritt sich er­neu­ern zu se­hen. Zum Glück hat­te sie meist nach ei­ner Stun­de schon al­les ab­ge­schüt­telt, und es war dann gar nicht, als hät­te sich ein Ge­wit­ter ent­la­den, son­dern als wäre ein Schaum ver­weht. Der Arzt trös­te­te mich, dass die An­fäl­le un­ge­fähr­lich sei­en und sich nach we­ni­gen Jah­ren ver­lie­ren wür­den. Dem war auch so, be­son­ders weil der täg­li­che An­lass, die Kampf­wut der bei­den Kna­ben, mit der Zeit sich leg­te und in treue Ka­me­rad­schaft über­ging. Mir aber blieb im tiefs­ten Grund eine Schicht un­er­lös­ter Ban­gig­keit zu­rück, auf die sich im­mer­zu neue sol­che Schich­ten leg­ten und die mich lan­ge Zeit je­den Mor­gen wün­schen ließ, dass die Son­ne nicht mehr auf­ge­hen möch­te.

      Da­ne­ben war die un­be­greif­li­che Frau, die mit ih­rem Be­ken­ner­mut im­mer be­reit war, ihr Jahr­hun­dert in die Schran­ken zu for­dern, in al­len äu­ße­ren Din­gen hilf­los, so hilf­los wie nur je eine Frau des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts, der Zeit, wo die deut­sche Frau kei­nen an­de­ren Le­bens­raum hat­te als das Haus. Kei­nem der sie kann­te wäre es ein­ge­fal­len, dass sie je­mals mehr eine Rei­se un­be­glei­tet ma­chen (als jun­ges Mäd­chen tat sie es), al­lein im Gast­hof nur eine Nacht schla­fen oder ein Geld­ge­schäft sel­ber be­sor­gen könn­te. Sie hat auch kaum je einen Tag ver­bracht, ohne we­nigs­tens ei­nes ih­rer Kin­der um sich zu ha­ben. »Ich weiß mir nicht zu hel­fen ohne mein jun­ges Müt­ter­lein«, schrieb sie mir nach Mün­chen, als ich mich nach des Va­ters Tod vor­über­ge­hend von ihr ge­löst hat­te, um mir aus­wärts ein Fort­kom­men zu su­chen. So herrsch­te sie gleich­zei­tig durch un­beug­sa­me Wil­lens­kraft wie durch äu­ßers­te Hilf­lo­sig­keit. Bei ih­rer Un­be­dingt­heit, die im­mer das ethisch Rich­ti­ge, aber nicht das sach­lich und psy­cho­lo­gisch Mög­li­che woll­te, be­durf­te sie auch ei­ner lei­sen Hand, sie an den ih­rer war­ten­den Klip­pen vor­bei­zu­steu­ern, so­weit sie sich das ge­fal­len ließ. Die Söh­ne konn­ten ihr die­sen Dienst nicht leis­ten, denn mit ih­nen, den eben­so Un­be­ding­ten, muss­ten Rei­bun­gen am sorg­fäl­tigs­ten ver­mie­den wer­den. Es war eine ängst­li­che Auf­ga­be, sie da schwei­gen zu ma­chen, wo man ihr grund­sätz­lich recht gab, wo aber durch Re­den das Übel nur ver­dop­pelt wer­den konn­te. Ge­wohnt, mit den Fa­mi­li­en­glie­dern vor­sich­tig wie mit Spreng­kör­pern um­zu­ge­hen, glück­te es mir doch im­mer, dass sich die Sturm­wel­len un­schäd­lich ver­lie­fen und dass die auf­ge­reg­ten Vor­gän­ge dem Va­ter, des­sen er­schöpf­te Ner­ven­kraft der Ar­beits­ru­he be­durf­te, bei­na­he völ­lig un­be­kannt blie­ben. Ich sel­ber aber wur­de wie die Ma­gnet­na­del, die zwar ste­tig ih­ren Pol hält, aber im­mer­zu lei­se zit­tert. Die­ses Zit­tern, das nie­mand sah, wur­de mit der Zeit zur heim­li­chen Mar­ter mei­nes Le­bens. Es kam da­hin, dass ich sie nicht schla­fen se­hen konn­te, ein Schau­der trieb mich weg, als müss­te die­ser Schlaf nun gleich in den letz­ten über­ge­hen, von dem sie mir so oft ge­spro­chen hat­te. Je­den Mor­gen horch­te ich mit Ban­gen, ob sie wirk­lich noch un­ter uns atme. Leg­te ich den Kopf an ihre Brust und hör­te das Schla­gen ih­res Her­zens, so mein­te ich, die­ses tap­fe­re Herz, das schon so viel durch­ge­kämpft hat­te, müss­te nun gleich müde wer­den und die Ar­beit ein­stel­len. Ich wur­de aber­gläu­bisch und ach­te­te auf Träu­me, und al­lent­hal­ben sah ich böse Zei­chen: wenn eine Grup­pe Men­schen vor un­se­rer Hau­stü­re stand, so dach­te ich gleich, ob nicht ein Un­glück ge­sche­hen sei, und noch füh­le ich die Herz­be­klem­mung nach, mit der ich spä­ter ein­mal in Flo­renz von ei­ner län­ge­ren Rei­se zu­rück­keh­rend in der Drosch­ke ei­ner an­de­ren Drosch­ke nach­fuhr, worin eine schwarz­ge­klei­de­te Dame mit ei­nem großen Blu­men­strauß im Arme saß. Rich­tig hielt sie vor un­se­rer Tür; es war eine dank­ba­re Pa­ti­en­tin Ed­gars, die ih­rem Arzt Blu­men brach­te, wäh­rend ich dar­auf ge­fasst

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