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hatte mir, als ich schon als Junge Körper und Geist ganz systematisch zu trainieren begann, damals bereits zum Grundsatz gemacht, nie vorschnell zu urteilen und jeden Entschluß nochmals zu überprüfen.

      Dieses Bild mit dem Bernsteinrahmen hatte ich soeben, in den Fehler der meisten Menschen zurückfallend, für mich als bedeutungslos abgetan. Was sollte diese Photographie eines mir unbekannten Knaben?! – An diesem Rückfall war wohl zweierlei schuld. Erstens die starke Erregung, in die mich der Besuch der Schwimmerin versetzt hatte, und zweitens die noch immer nicht völlig überwundenen Folgen der acht Monate Zuchthaus. Ich war noch nicht wieder der Olaf Karl Abelsen von einst.

      Ich betrachtete den Rahmen, das Bild von neuem. Ich saß auf meinem Bett und ließ die feingeschliffenen Bernsteinperlen im Lichte der Karbidlampe, die nach Boche Boches Bett hin durch ein Stück gebogene Pappe abgeblendet war, ihre zarten Strahlenbündel meine Sehnerven sanft reizen. Jetzt sagte ich mir, daß dieses Geschenk meiner Retterin doch unfehlbar zu meiner Person irgendwie in Beziehung stehen müsse. Allmählich überkam mich eine müde, träumerische Stimmung, wie auch behagliche Dämmerstunden sie erzeugen. Meine Gedanken entglitten mir gleichsam und wandelten ihre eigenen Wege, schlichen sich in meiner Jugend freudlose, ernste Tage zurück … Ich sah mich als kleines Bürschlein in einem Garten unter blühenden Obstbäumen stehen … Vor mir ein Mädelchen in weißem Kleidchen mit blonden üppigen Locken … Sie weinte, und wir hielten uns bei den Händen: Abschied zweier Jugendgespielen, schwerer, tränenreicher Abschied, denn mein Vater war in eine andere Stadt versetzt worden, und unser Häuschen, unseren Garten und die kleine Gerda Arnstör und deren jüngeres Schwesterlein, unsere lieben Nachbarn, würde ich vielleicht nie mehr wiedersehen.

      Gerda Arnstör …

      Mit einem Schlage war diese Jugendzeit in mir wieder zu frischem Leben erwacht, sogar der Name war mir zugeflogen ohne jegliches Bemühen.

      Nun wußte ich, wer meine Retterin war, wen dieses Bild im Bernsteinrahmen darstellte. Ich selbst war’s. Ich selbst hatte Gerda das Bild damals beim Abschied geschenkt, und meine Mutter, die zwei Jahre später starb, hatte den Rahmen ausgewählt.

      Vieles war mir nun verständlich, was ich in jener Nacht meiner Flucht nicht recht begriffen hatte. Gerda, mit der ich nachher nie wieder zusammengetroffen war, hatte mich damals in ihrem Schlafzimmer wohl sofort erkannt. Ihre weitgehende Hilfsbereitschaft galt nicht lediglich dem zu Unrecht Verurteilten, sondern dem Jugendgespielen.

      Was tat Gerda jetzt hier in Punta Garras auf dem großen Fünfmaster?! – Wenn ihr Vater noch Schiffskapitän gewesen wäre! Aber ich erinnerte mich genau: er war deutscher Vizekonsul – damals!

      Ich mußte Gerda sprechen, entschloß ich mich. Sie mußte mir Auskunft geben, welches Interesse sie für unseren Kutter hatte. Sie würde es begreifen, daß ich mich nicht mit ihren unklaren Andeutungen begnügen könnte.

      Ich behielt nur die Leinenhosen an, schlich wieder an Deck. Es war leer wie vorhin. Drüben leuchteten die vielen Laternen des Fünfmasters noch verschwommener durch die Nacht. Es hatte zu regnen begonnen. Ein warmer erschlaffender Regen, den mein nackter Oberkörper nicht als Erfrischung empfand.

      Ich ließ mich ins Wasser gleiten. Es war kühler als der Regen, und dieses Bad feuerte mich an. Ich schwamm langsam, kraftvoll. Meine Muskeln freuten sich der Arbeit. Etwas wie ein glücklicher Übermut überkam mich.

      Wie schön Gerda geworden … Und wie beseligend das Bewußtsein, daß ich, der Ausgestoßene, nicht nur einen treuen Kameraden, sondern nun auch ein beglückendes Teil meiner Kindheit wiedergefunden hatte: Gerda!

      Die Entfernung bis zu dem Fünfmaster betrug etwa vierhundert Meter. Ich näherte mich dem Schiffe. Ich sah, daß an Deck Leute bedächtig hin und her gingen …

      Leute?!

      Nein – chilenisches Militär war’s, Infanteristen in blauer Uniform mit schwarzen Helmen, wie ich sie schon in den Straßen Iquiques getroffen hatte … Uniformen, die so sehr an preußisches Militär von ehedem erinnerten.

      Soldaten, Gewehr im Arm. – Posten, Wachen.

      Der Fünfmaster wurde also bewacht. Daß Punta Garras eine kleine Garnison hatte, war mir durch Boche Boche bekannt. Und daß Meutereien auf den Salpeterschiffen nicht selten, hatte er gleichfalls gelegentlich erwähnt.

      Also wohl Meuterei, – wahrscheinlich lagen die Meuterer unten im Raum in Eisen. Daher auch die Illumination …

      Ich war auf dreißig Schritt heran, war im Lichtbereich der Laternen und auch schon entdeckt. Eine der Wachen rief mich an …

      Bedauere – spanisch ist mir spanisch …

      Da hebt die Pickelhaube dort an der Reling das Gewehr, zielt …

      Schießt wahrhaftig …

      Mit feinem Zischen, als ob man ein glühendes Eisen ins Wasser stößt, schlägt das Geschoß halbrechts vor mir ein und wirft eine Tropfenkaskade hoch …

      Die Pickelhaube erhält Verstärkung …

      Ich brülle hinüber »Gut Freund« …

      Die anderen Pickelhauben feuern gleichfalls. Rasch lasse ich mich hinabsinken, schwimme unter Wasser, bis mich der Luftmangel hochtreibt …

      Die Chilenen scheinen mich für einen Helfer der Meuterer zu halten … Kaum erscheint mein Kopf, als die Knallerei auch schon von neuem beginnt.

      Meine Feuertaufe …

      Wie die Bienchen summen die Kugeln …

      Ein leichter Schlag gegen die Stirn …

      Ein rasch wieder schwindendes Ohnmachtsgefühl … Ich sinke wieder mit vollgepumpten Lungen in die Tiefe …

      Die Dunkelheit nimmt mich dann schützend auf. Es regnet stärker. Boote mit Laternen beleben den Hafen. Die Verfolger sind hinter mir her. Warm rieselt es mir von der linken Schläfe herab. Der Streifschuß kann doch nicht so ganz harmlos sein. Meine Kräfte schwinden. Ich muß Pausen machen. Und das schlimmste: ich habe die Richtung verloren! Ich bin fraglos längst an unserem Kutter vorüber …

      Gevatter Tod streckt wieder einmal seine Knochenhände nach mir aus. Um Hilfe rufen?! Eins der Boote herbeilocken?! Und dann?! Soll ich verraten, daß ich Gerdas wegen zum Fünfmaster schwamm …?!

      Wo ist der Kutter?! Alles Umherspähen nützt nichts … Die Regenschleier haben alles verschluckt … Und der Regen ist jetzt eisig – zum Glück … Die Luft hat sich abgekühlt. Temperaturstürze von zwanzig Grad sind in dieser schönen Gegend nichts Seltenes.

      Ich sehe jetzt nur noch Regen … Regen …

      Werde matter und matter … Sollte diese Feuertaufe meine erste und letzte bleiben?! Ersaufen – – wie ein angeschweißter Hund?!

      Ich biß die Zähne zusammen …

      Zum Teufel, bin ich nicht Olaf Karl Abelsen, der bei den Streiktumulten am Jungfrautunnel hundert besoffene Italiener mit einem uralten Revolver auseinandertrieb!

      Zähne zusammengebissen …! Oho – noch ist’s nicht so weit, Gevatter Knochenmann! Noch haben wir keine Muskelkrämpfe …

      Aus der Finsternis vor mir löst sich ein schnell dahingleitender schmaler Kahn … drei Gestalten darin …

      Ich will ausweichen … Will … Der Schlag der Bootsspitze gegen den Schädel gibt mir den Rest … Ich rufe, schlucke Wasser … Man packt mich, reißt mich empor … im letzten Moment. Ich sinke auf dem Boden des Kahnes zusammen … Ein dunkles Gesicht ist vor dem meinen … Das eines Indianers …

      Mit letzter Kraft englisch gelallt: »Bringt mich zum Kutter Torstensen – hohe Belohnung!« – und die Sinne schwinden mir für kurze Zeit.

      Ich erwache, liege auf meinem Bett …

      Jörnsen verbindet mir die Wunde. Boche Boche steht dabei …

      »Du mußt dich schlafend stellen,« befehlt der Alte. »Decke dich bis oben zu … Die

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