Скачать книгу

fühlte, wie ihre Nervosität langsam schwand. Sie brachte sogar ein Lächeln zustande.

      »Ich glaube, an so etwas erinnert man sich immer.« Sie senkte den Kopf. »Ich habe mich manchmal sehr einsam gefühlt, aber Ihre Frau und Ihre Tochter waren immer sehr nett. Karina hat ein paarmal mit mir gespielt.«

      Die Erinnerung an seine warmherzige Frau, die Kinder so sehr geliebt hatte, war wieder schmerzlich für Dr. Daniel. Und unwillkürlich dachte er daran, wie oft er und Christine über Darinka gesprochen hatten – dieses arme kleine Ding, das so früh seine Eltern verloren hatte.

      »Du lebst immer noch bei deinen Großeltern, oder?« wollte Dr. Daniel aus diesen Gedanken heraus wissen.

      Darinka nickte. »Ich bin sehr glücklich dort.«

      Doch Dr. Daniel fühlte, daß das nur die halbe Wahrheit war. Er war überzeugt davon, daß sich Darinka ganz schrecklich nach ihren Eltern sehnte.

      »Nun, Darinka, und was führt dich heute zu mir?« fragte Dr. Daniel schließlich. »Ich nehme ja nicht an, daß du nur zu einer kleinen Plauderei gekommen bist.«

      Darinka schüttelte den Kopf, dann schluchzte sie plötzlich auf. »Ich bin krank, Herr Doktor… schwer krank. Ich… ich glaube, ich muß sterben. Ich habe schreckliche Schmerzen und ich… ich blute ganz fürchterlich.«

      Dr. Daniel erschrak zutiefst. »Und du warst noch nie bei einem Arzt?«

      »Nein, weil… ich… ich schäme mich so.«

      »Du schämst dich?« wiederholte Dr. Daniel erstaunt. »Aber warum denn? Wegen einer Krankheit muß man sich doch nicht schämen, Darinka.« Er schwieg einen Moment und betrachtete das Mädchen dabei sehr genau. Je länger er das allerdings tat, desto unwahrscheinlicher schien es ihm, daß Darinka wirklich so krank war, wie sie gesagt hatte. Schmerzen und Blut. Nachdenklich strich er sich über das Kinn und erkundigte sich dann: »Wo hast du denn Schmerzen? Und was ist mit dem Blut, von dem du sprichst? Wo blutest du?«

      Darinka errötete. »Es ist… es kommt… na ja, wenn ich zur Toilette gehe… und… und in meinem Slip. Alles ist voll Blut… aber nicht immer. Und wenn ich blute, dann habe ich auch Schmerzen… schreckliche Bauchschmerzen.« Mit angstvoll geweiteten Augen sah sie den Arzt an. »Muß ich jetzt sterben, Herr Doktor?«

      Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Nein, Darinka, du mußt nicht sterben.« Und dabei konnte er kaum glauben, daß es in der heutigen Zeit noch ein junges Mädchen gab, das nicht wußte, was Regelblutungen sind. »Sag mal, Darinka, hat dich deine Großmutter nicht aufgeklärt?«

      »Aufgeklärt?« wiederholte Darinka gedehnt, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, ich glaube nicht. Was… was ist das?«

      Dr. Daniel atmete tief durch. »Das werde ich dir alles erklären, Darinka. Aber zuerst kommen wir noch mal auf deine Beschwerden zu sprechen. Ich nehme an, diese Bauchschmerzen und das viele Blut kommen immer in einem Abstand von ungefähr vier Wochen, habe ich recht?«

      »Ich habe nie genau nachgerechnet«, gestand Darinka, »aber es kommt wohl ungefähr hin.«

      Dr. Daniel nickte. »Das dachte ich mir. Und du brauchst dir deswegen keine Sorgen zu machen, Darinka, dieser Zustand ist bei Frauen ganz normal. Man nennt das Menstruation oder Regelblutung. Manche Frauen und Mädchen sagen auch einfach, sie haben ihre Tage.«

      Darinka atmete auf. »Katrin hat das auch.« Die Erinnerung an das Gespräch, das sie mit ihrer Freundin geführt hatte, kehrte in aller Deutlichkeit zurück. »Und sie wußte offensichtlich ganz genau Bescheid. Sie wußte, warum sie plötzlich blutet.«

      Dr. Daniel nickte. »Vermutlich hat ihre Mutter ihr vorher schon alles erklärt. Das hätte auch deine Großmutter tun müssen, aber ich nehme an, sie hat sich geniert, mit dir über solche Dinge zu sprechen.« Er schwieg einen Moment. »Weißt du, wie ein Baby entsteht und woher es kommt?«

      Wieder errötete Darinka. »Oma hat gesagt, vom Storch, aber das habe ich ihr nicht geglaubt.«

      Sekundenlang schloß Dr. Daniel die Augen. Er hatte das Gefühl, um Jahrzehnte zurückversetzt worden zu sein. Dabei kannte er die Stöbers doch als recht aufgeschlossene Menschen. Schließlich waren sie ja nur knapp zehn Jahre älter als er. Wie konnten sie ihre Enkelin nur in einer solchen Unwissenheit aufwachsen lassen?

      »Habt ihr in der Schule keinen Sexualunterricht?« wollte Dr. Daniel wissen.

      Darinka schüttelte den Kopf. »Der wurde gestrichen. Ursprünglich war eine Stunde in der Woche geplant gewesen, aber die wurde dann aus irgendeinem Grund herausgenommen.«

      »Und du liest offensichtlich auch keine dieser Jugendzeitschriften, in denen Aufklärung betrieben wird«, vermutete Dr. Daniel.

      Darinka senkte den Kopf. »Ich bekomme kein Taschengeld, und als ich Oma um ein solches Heft gebeten habe, hat sie gesagt, das wäre Schund, und ich solle mich nur nicht dabei erwischen lassen, daß ich so etwas lese.«

      »Und du hast ihr tatsächlich gehorcht.« Gegen seinen Willen mußte Dr. Daniel lächeln. »Das hätte ich bei meiner Tochter einmal erleben mögen. Wenn ich etwas so strikt verboten habe, dann war der Reiz für sie immer am größten.« Er wurde ernst. »Hast du nie bei einer Freundin mitgelesen?«

      Darinka schüttelte den Kopf. »Ich… ich dachte, Oma wird schon recht haben.«

      »Nein, Darinka, so ganz recht hatte deine Oma damit leider nicht«, entgegnete Dr. Daniel. »Aber das werde ich selbst noch mit ihr besprechen.« Dann stand er auf. »Meine Sprechstunde ist jetzt zu Ende. Du warst die letzte Patientin, die heute angemeldet war. Aus diesem Grund habe ich jetzt Zeit, um mit dir einkaufen zu gehen.«

      Verständnislos starrte Darinka ihn an. »Einkaufen? Aber… was wollen Sie denn mit mir kaufen?«

      »Das wirst du gleich sehen«, meinte Dr. Daniel, während er seinen weißen Kittel auszog. Kurz darauf verließ er gemeinsam mit dem jungen Mädchen die Praxis.

      Wenig später erreichten sie den einzigen Supermarkt Steinhausens, und Dr. Daniel ging zielstrebig in die Abteilung für Intimpflege.

      »Also, Darinka, wenn du wieder deine Tage bekommst, dann kannst du deinen Slip entweder mit Monatsbinden oder Tampons schützen«, erklärte er, während Darinka völlig überwältigt das große Angebot betrachtete. Wie oft war sie hier schon vorbeigegangen und hatte diese Dinge keines Blickes gewürdigt. Und nun gewannen sie auch für sie plötzlich Bedeutung.

      »Ich würde dir empfehlen, beides auszuprobieren, dann wirst du sehen, was für dich angenehmer ist«, fuhr Dr. Daniel fort.

      Darinka konnte nur nicken, und irgendwie war es ihr peinlich, diese Dinge in ihren Einkaufswagen zu legen. Das alles zeigte so deutlich, was mit ihr los war, und obwohl Dr. Daniel gesagt hatte, daß alles völlig normal sei, hatte Darinka Hemmungen, den Wagen weiterzuschieben. Sie hatte das Gefühl, als würde sie jeder hier im Geschäft anstarren.

      Als nächstes steuerte Dr. Daniel den Zeitschriftenstand an und wählte ohne langes Überlegen eine Jugendzeitschrift aus, die seine Tochter in Teenagerjahren mit Begeisterung gelesen hatte.

      »Darinka, ich möchte, daß du dir diese Zeitschrift jede Woche kaufst«, erklärte er. »Da drin steht alles, was du wissen mußt.« Er schmunzelte. »Und außerdem noch einiges, was junge Mädchen ohnehin interessiert. Du hörst doch sicher auch gern Musik, nicht wahr?«

      Darinka senkte den Kopf. »Oma und Opa haben nur ein Radio, und da läuft meistens Volksmusik.«

      Dr. Daniel hatte Mühe, einen Seufzer zu unterdrücken. Bei dem armen Mädchen lag ja etliches im argen. Er durfte das Gespräch mit ihren Großeltern nicht mehr lange hinauszögern.

      »Da werden wir auch Abhilfe schaffen«, meinte Dr. Daniel. »Schließlich sollst du nicht irgendwann zur Außenseiterin werden.« Er zögerte einen Moment. »Hast du denn eine gute Freundin?«

      Darinka nickte. »Katrin Wegmann.« Mit plötzlicher Verlegenheit senkte sie den Kopf. »Die anderen finden mich zu langweilig.«

Скачать книгу